Was kann der Heidelberger Katechismus heute noch leisten? Impulse des Heidelberger Katechismus für die heutige Zeit

vorgetragen von Martin Laube, Professor für Systematische Theologie in Göttingen auf einer Pastorenkonferenz in Rinteln, Dezember 2012

Zwei der von Prof. Dr. Martin Laube genannten Impulse vorweg: 1) Die im Heidelberger Katechismus (HK) betonte Transzendenz Gottes kann schützen vor einem schnell verpuffenden "narzisstischen Ruf nach einer spirituellen 'Wellness'"; 2) Das Ineinander von geschenktem Glauben und menschlichem Handeln im HK wahrt die individuelle Freiheit und gibt "heilsame Orientierung". Damit trifft der HK ein "religiöses Anliegen" des modernen Menschen. Fazit: Das Jubiläum eines Bekenntnisses der Vergangenheit zu feiern, ist eigentlich "etwas zutiefst Unreformiertes", aber von Nutzen ist der Heidelberger auch heute. Ein Bericht von Barbara Schenck.

Vorwort zur Jubiläumsfeier: "Altertum" nicht verwechseln mit "Ursprünglichkeit"

Ein Bekenntnisjubiläum passe "eher zum lutherischen als zum reformierten Protestantismus", zugespitzt formuliert: "Die Feier des 450-jährigen Jubiläums des Heidelberger Katechismus - eines Bekenntnisses der Vergangenheit - ist etwas zutiefst Unreformiertes", so Professor Dr. Martin Laube. Zu den Kennzeichen des Reformiertentums gehöre gerade die "entschiedene Relativierung aller Traditionsorientierung oder gar -verehrung" - im Zeichen der "exklusiven Autorität der Schrift", sagte der Inhaber des Göttinger Lehrstuhls für reformierte Theologie auf der Pastorenkonferenz des 10. Synodalverbands der Evangelisch-reformierten Kirche. Mit den Worten Karl Barths: "Altertum" sei nicht zu verwechseln mit "Ursprünglichkeit", es gebe "streng genommen keine reformierte Tradition außer der einen zeitlosen: dem Appell an die offene Bibel und an den Geist, der aus ihr zum Geiste redet".

Nichtsdestotrotz ist das 450-jährige Jubiläum des Heidelberger Katechismus (HK) ein Anlass zum Feiern, bestärkte der Theologie Lehrende die im Jubiläumsfieber geschäftigen Pastorinnen und Pastoren. Es gibt ersten einen Anlass zur Dankbarkeit, zweitens "zur theologischen Selbstbesinnung" und drittens "auch zur öffentlichen (Selbst)Präsentation des reformierten Protestantismus" mit dem "bekanntesten Identifikationssymbol des sogenannten 'Deutschreformiertentums'", so Laube.

Tradition als "Schutzmedium" des individuellen Glaubens

Die Frage, was der HK in theologischer Hinsicht heute noch leisten könne, sei in reformierter Perspektive keine rhetorische, sondern eine offene Frage, denn mit dem Abstand von 450 Jahren könne er "nicht unvermittelt als normativ verbindliche Lehrgrundlage behandelt werden". Unter dieser Voraussetzung gab Laube jedoch zu bedenken:
Die Relativierung der Bekenntnistradition dürfe nicht übersehen lassen, "dass der individuelle Glaube auf Tradition und Lehre angewiesen ist, um sich zu artikulieren". Selbst ein individueller Glaube, der auf innere Distanz zum "Dogma" geht, sei auf die kirchliche Lehre angewiesen, um eine "eigene Form der Frömmigkeit" auszubilden. Eine "unmittelbar authentische Artikulation der eigenen Frömmigkeit" sei eine "Illusion", so Laube. Die Sprache der Tradition wird zu einem "Schutzmedium":
"Das Eigenste und Urinnerste wollen wir gerade nicht ans grelle Licht gezerrt haben." Bietet ein traditionelles Bekenntnis dem einzelnen Glaubenden "Anknüpfungspunkte und Freiheitsgrade zu gleich", werde es als "Hilfsmittel des individuellen Glaubens" unverzichtbar.

Impulse des HK für die heutige Zeit

Als "prägende und hochaktuelle Charakteristika des Reformiertentums überhaupt", hob Martin Laube - neben weiteren Impulsen des HK für uns heute! - zwei Aspekte des Katechismus hervor:
1. die "Betonung der Transzendenz, Majestät und Unbegreiflichkeit Gottes" sowie
2. die "Betonung des engen Zusammenhangs von Glauben und Handeln".

Transzendenz Gottes und Symbolkompetenz des Menschen

Der Katechismus wehre mit seiner "betonten Wahrung der Unterscheidung von Gott und Mensch" den "ständigen Tendenzen einer Selbstvergöttlichung des Menschen". Dabei schärfe das Bilderverbot die "bleibende Entzogenheit Gottes für den menschlichen Zugriff" ein, sagte Laube. Warum ist das gerade heute so wichtig?
In der Konzentration auf die Frage, ob Gott existiert, sieht Laube ein "elementares Grundproblem zeitgenössischen Redens von Gott". Den Satz "Gott existiert" als "Basissatz des Glaubens" zu erklären, leiste einer "distanzierenden Vergegenständlichung Gottes Vorschub". Aus neutraler Distanz heraus lasse sich so rational über Gott nachdenken. Gott wird zu einem "menschlichen Denkvorstellungen unterworfenen Ding". Im Gegenzug nötige das Bekenntnis zu Gottes Transzendenz und Nichtgegenständlichkeit zu dem "Eingeständnis, von Gott (a) nur im Modus des von ihm Betroffenseins (statt im Gestus rationaler Distanzierung) sowie (b) nur symbolisch und metaphorisch reden zu können".
Das ist gar nicht so einfach, wie die Ausführungen Laubes zeigten, denn diese Rede von Gott bedarf einer "Symbolkompetenz". Unversehens kann sich das Symbol in die Sache selbst verwandeln und sollte deshalb mit einer "eingebauten 'Brechung'" versehen werden. Es ist erforderlich, "im Glauben selbst ein reflexives Moment zu verankern". Damit verbunden ist ein Verzicht darauf, "in billiger Manier die Innerlichkeit der Frömmigkeit gegen eine vermeintlich abstrakte Arbeit des Verstandes auszuspielen".

Entgegen der "Tendenz zur Banalisierung und Trivialisierung" der Rede von Gott, einer Rede, die sich erschöpft "im narzisstischen Ruf nach einer spirituellen 'Wellness', die wie das angezündete Räucherstäbchen selbst spurlos verglimmt", empfiehlt Laube:
"neu deutlich zu machen, dass der christlichen Gotteserfahrung ein unbedingter Ernst innewohnt - dass sie das eigene Leben schonungslos offen legt und zugleich radikal neu bestimmt, dass der Zuspruch Gottes einen Anspruch in sich trägt".
Dabei gilt es auch, "die Zwiespältigkeit religiöser Gotteserfahrung aufzunehmen und zum Ausdruck zu bringen", wie z.B. "die drückenden Erfahrungen individueller Schuld und kollektiven Versagens".
Desweiteren ist der Hinweis auf die Transzendenz Gottes Mahnung, "die Rede von Gott nicht dadurch zu entleeren, dass möglichst immer und überall von ihm gesprochen wird."

In Streitfragen der Moral, in Politik und im gesellschaftlichen Miteinander der Religionen, schärfe die Transzendenz Gottes den Menschen ein, "allen Versuchen einer ideologisierenden Selbstvergöttlichung des Menschen einen Riegel vorzuschieben". Laube weiter:
"Von Gott wird nicht gesprochen, um Recht zu haben, oder im Namen des Höchsten das letzte Wort, sondern um der eigenen Individualität und Endlichkeit eingedenk zu werden, diese Endlichkeit von übermenschlichen Ansprüchen und Erwartungen zu entlasten - und sie zugleich in einer Wirklichkeit zu begründen, auf die niemand seine Hand legen kann."

Gute Werke ohne moralinsaure Selbstüberforderung - die Befreiung zum Handeln-Können

Im HK gehört das Handeln - als Dankbarkeit - zum Glauben, ist "seine wesentliche Ausdrucksgestalt". Es ist "unmöglich", so HK 64, "dass Menschen, die Christus durch wahren Glauben eingepflanzt sind, nicht Frucht der Dankbarkeit bringen". Damit ist ein "reformatorisches Grundproblem" aufgenommen. In den Worten Laubes:
"Wie lässt sich der moralische Beiklang der Rede von guten Werken vermeiden und doch zugleich die Notwendigkeit guter Werke aussagen?"

Anders als das Luthertum, dass "dieses Problem von Glaube und Handeln niemals (hat) befriedigend lösen können", lebt für Reformierte der Glaube "im Tun". Den Hintergrund für diese "innerprotestantische Differenz" verortet Laube im Heilsverständnis.
"Das Befreiungsgeschehen des Glaubens wird auf lutherischer Seite vor allem als Befreiung vom Handeln-Müssen gedeutet, während die reformierte Seite umgekehrt die Befreiung zum Handeln-Können in den Vordergrund stellt. [...] Pointiert zugespitzt: Das Luthertum betont den passiven Charakter des Glaubens als Genießen der realen Einwohnung Gottes im Menschen - Heil ist Loslassenkönnen. Das Reformiertentum hingegen versteht den Glauben als Aufnahme in die tätige Willensgemeinschaft mit Christus - Heil ist Tunkönnen."

Dem HK folgend haben "Glaubensthemen" auch immer "mit der eigenen ethischen Orientierung und Lebensführung zu tun". Für heute formuliert:
"Der gegenwärtige Hype um Spiritualität und Wellness darf nicht vergessen lassen, dass der Glaube immer auch eine ethische Seite hat" - die jedoch nicht in moralin-gesetzliches Handeln umschlagen sollte.

An dieser Stelle lohnt sich ein "historisch-kritischer" Blick auf HK 1. Gerade am Anfang zeigt sich das programmatische Interesse des Katechismus, zwischen lutherischer und reformierter Position zu vermitteln. Nicht ohne Grund warnte Karl Barth davor, den HK vom Wort des Trostes her zu verstehen. Zu leicht kann der "Trost" subjektivistisch missverstanden werden. An dieser Stelle atmet der Heidelberger "lutherischen Geist". Im Hintergrund steht, so Laube, "die subjektiv-religiöse Dimension der Anfechtung, also das Luther und die lutherische Frömmigkeit kennzeichnende Interesse an der Heilsgewissheit". Für "dieses wehleidige Anliegen" so Barth, hätte "der reformierte Christ der ersten Generation" weder Zeit noch Interesse gehabt, er wusste sich "droben in der Hand des Herrn wohlaufgehoben". Etwas nüchterner formuliert Laube:
"Die reformierte Frömmigkeit der Reformationszeit setzt nicht 'unten' bei der Heilsfrage, sondern gleichsam 'oben' bei der Erwählung an. Ausgangspunkt ist die sichere Gewissheit des Glaubens, im alles bestimmenden Wirken des allmächtigen Gottes wohlaufgehoben zu sein."

Die 'religiöse Frage' von heute und die "heilsame Orientierung"

Der evangelisch-reformierte Dozent wagte zu bezweifeln, "ob die reformatorische Ausrichtung am Modell von Sünde und Rechtfertigung noch das religiöse Anliegen des modernen Menschen trifft", denn: die "Kategorie der Sünde ist moralin korrumpiert; der Freispruch der Rechtfertigung verblasst; die Vorstellung eines Gerichts ist verschwunden". Auch die Frage, wie unsere Freiheit, Individualität oder Persönlichkeit begründet und bewahrt werden könne, sei in der Postmoderne nicht mehr grundlegend. Vielmehr sei an die Stelle der "erstrebten Emanzipation" das "Gefühl der Überlastung" getreten. Heute wachse "der Wunsch, Orientierung zu erhalten". Das Bedürfnis des Menschen gelte einem "Ineinander von Aufgehobensein und Freiheit". Die "religiöse Frage" formulierte Laube als "Bedürfnis, sein Leben selbst führen zu wollen und sich dabei zugleich geführt zu wissen". An dieser Stelle könne ein besonderer Impuls des Heidelberger Katechismus liegen:
"Denn mit seinem Ineinander von Glaube und Handeln versucht er eben dieses Ineinander aufzunehmen und zum Ausdruck zu bringen: Passivität und Aktivität, Abhängigkeit und Freiheit stehen nicht gegeneinander, sondern liegen ineinander. Im Glauben erfahre ich mich als in Gott begründet und von ihm getragen - und zugleich zu freiem und selbständigem Handeln aufgerufen und ermächtigt." Diese "Spannung zwischen passiver Befreiung und tätiger Freiheit" zeigt im Katechismus schon Frage 1: "indem 'Christus gehören' und 'von Herzen willig und bereit sein' zugleich ausgesagt werden."

Den hörenden Pastorinnen und Pastoren gab der Vortrag - das zeigte die lebhafte Diskussion - selbst "heilsame Orientierung" (Laube) für die Arbeit mit dem Katechismus in Gemeinden von Individuen, gequält von einem "erschöpften Selbst" oder der Sattheit der Wohlstandsgesellschaft überdrüssig.
Spontan hätte Präses Klaus Bröhenhorst Dr. Martin Laube am liebsten gleich für die nächste Fortbildung engagiert.

Info:
Sollte es so kommen, wie geplant, können die Leserinnen und Leser den Vortrag von Prof. Dr. Martin Laube demnächst in einer schriftlichen Fassung auf reformiert-info lesen.


bs, 11. Dezember 2012