VI. Eine Zwischenbilanz

Michael Weinrich, Wir sind aber Menschen

I. Das Unbekanntsein Gottes
II. Von Gott reden, heißt vom Menschen reden

III. Von der Anmaßlichkeit des Fragens
IV. Wirklichkeit als Beziehung
V. Zur Freiheit befreit
VI. Eine Zwischenbilanz
VII. Die unmögliche Möglichkeit
VIII. Die mögliche Unmöglichkeit

Nun sind wir bereits einen recht weiten Weg gegangen, der weder nur durch vertrautes Gelände noch stets eben verlief, so dass es sinnvoll ist, einen Moment stehen zu bleiben, um die Frage zu stellen, wo wir uns mit unseren Überlegungen befinden.

Haben wir erst einmal die vornehm freundliche und zugleich unberührte Distanz verloren, in der wir uns mit dem Unbekanntsein Gottes zufrieden geben, so rückt uns Gott unversehens so sehr auf den Leib, dass wir sofort mit Entscheidungskonflikten konfrontiert werden. Gott kann nicht an und für sich zur Sprache gebracht werden – »Bloß Gott ist nicht Gott«[1] –, vielmehr geht es immer auch um den Menschen, und zwar in grundlegender Weise. Dabei hat es sich jedoch als aussichtslos herausgestellt, einen Weg einzuschlagen, der von der Betrachtung des Menschen aus zu irgendwelchen haltbaren Aussagen über Gott führen soll. Der Mensch kann nur dann und insofern eine Brücke zu einer angemessenen Rede von Gott sein, wenn seine Existenz als eine bereits von Gott betroffene und somit in ihm gegründete in den Blick genommen wird. D.h. aber, dass auch der Mensch nur dann zu dem fundamentalen ›Medium‹ von Gotteserkenntnis und somit unserer Rede von Gott werden kann, wenn Gott bereits vorausgesetzt wird als das die Existenz des Menschen erhellende Licht (Joh 8,12), in dem vom Menschen nicht anders geredet werden kann als indem auch von Gott die Rede ist.

In diesem unvermeidlichen theologischen Zirkel liegt die entscheidende Hürde, die sich nicht mithilfe einer evidenten Argumentation ausräumen lässt, sondern die allein dadurch begründet ist, dass Gott seine Gottheit darin wahrt, dass es allein seine Sache ist, wo, wann und wie er in Erscheinung tritt – alle menschlichen Versuche, ihm einen Weg zu bahnen, verfehlen ihn zuverlässig. Unseren Versuchen, den Himmel abzuleuchten, ist prinzipiell kein Erfolg beschieden. Von Gott kann nur dann sinnvoll gesprochen werden, wenn wir Anlass haben, von seinem Leuchten in dieser Welt zu sprechen[2]. Es kann zu nichts führen, den Himmel in das Licht dieser Welt stellen zu wollen, ist er doch per definitionem von unserem Licht unerreichbar. Verheißungsvoll kann nur sein, in unserer Welt etwas vom Licht Gottes zu entdecken. Allerdings nicht so, dass wir Gottes Angesicht Gottes schauen könnten (vgl. Ex 33,20), wohl aber indem Gott die Wirklichkeit der Welt mit seinem Licht so erhellt, dass sie vollkommen anders als in ihrem eigenen Licht in Erscheinung tritt und wir im Sinne des von Mose auf dem Sinai Bezeugten, Gott ›nachschauen‹ könnten (Ex 33,23). Obwohl dies im Grunde ein recht einfacher und durchaus begründeter Gedanke ist, gilt ihm die ganze Skepsis bis hin zum Überdruss – und auch dafür lassen sich durchaus gute Gründe beibringen. Es wird dabei bleiben müssen, dass die Theologie und jede Rede von Gott von der Verletzlichkeit an dieser Stelle her stets auch angefochtene Unternehmungen bleiben werden.

Indem die Wirklichkeit der Welt im Lichte Gottes in spezifischer Weise in Erscheinung tritt, geraten insbesondere der Mensch und sein Wirklichkeitsverhältnis unweigerlich in den von diesem Licht geprägten Bestimmungshorizont. Diese Erhellung erweist sich als die Einweisung des Menschen in den konkreten Reichtum lebendiger, d.h. interaktiver Freiheit. Die Rede von Gott nötigt in diesem Gefälle zu einer Akzentverschiebung von einem ich- und selbstzentrierten Wirklichkeitsverständnis zu einem Wirklichkeitsverständnis, das im Gegenübersein von Gott und Mensch wurzelt und somit in einem Beziehungsgeschehen konstituiert ist, von dem das Wirklichkeitsverhältnis des Menschen in all seinen Dimensionen durchdrungen wird. Die gern zitierte Gottebenbildlichkeit des Menschen liegt nicht in seiner Gestalt, sondern in der vitalen Entsprechung, in der er seine Lebensgestaltung an der seine Freiheit hervorrufenden und in Anspruch nehmenden Beziehungswirklichkeit  ausrichtet.

Die Rede von Gott ist die Eröffnung einer besonderen Rede von der Wirklichkeit des Menschen im Horizont der Bestimmungen Gottes. Doch bevor wir uns allzu weit aufschwingen in den strahlenden Glanz der Wirklichkeit Gottes, gilt es nüchtern wahrzunehmen, dass faktisch von diesem Glanz wenig zu sehen ist bzw. die Menschen offenkundig die von ihm erschlossene Wirklichkeit nicht wahrnehmen. Haben wir uns da mit unseren Überlegungen in einen in sich vielleicht stimmigen aber faktisch völlig abstrakten theologischen Höhenflug geflüchtet, der durch unser tatsächliches Welterleben im Grunde ununterbrochen Lügen gestraft wird? Haben wir es hier nicht mit einem durchaus klassischen Beispiel einer gottbetrunkenen religiösen Illusion zu tun, die sofort zerplatzt, wenn sie mit der Realität konfrontiert wird? Ist nicht die Evidenz des Widerspruchs erlebter Realität sehr viel plausibler als dieser so reinlich ausgeleuchtete Pfad des Glaubens, den seine Weltfremdheit unausweichlich der religiösen Schwärmerei verdächtigt?

Diesen Fragen wäre sofort Recht zu geben, wenn das Licht Gottes, von dem wir hier zu reden versuchen, einfach unbeirrt an ihnen vorbei ginge. Es liefe bestenfalls auf einen überaus problematischen Dualismus von Licht und Finsternis hinaus, wenn es jetzt nur noch darum ginge einzugestehen, dass wir hier schlicht vor die Frage des Glaubens gestellt seien, dessen Unterscheidung vom Unglauben nun deutlich werde. Der Hinweis auf das Kontrafaktische des Glaubens kann nur dann befriedigen, wenn sich sein Widerspruch tatsächlich auf das beziehen lässt, dem da widersprochen wird.

Zu Beginn des Absatzes IV war von zwei Wahrnehmungsperspektiven die Rede, die sich in der Bibel im Blick auf die Wirklichkeit des Menschen finden: Einerseits die Bestimmung des Menschen zum Ebenbild Gottes und andererseits der nüchterne Blick auf die faktische Eigenwilligkeit des Menschen, mit der er die Wirklichkeit in seine Regie zu bringen versucht, indem er sich selbst zu ihrem Zentrum erklärt. Im Fortgang der Überlegungen haben wir uns zunächst auf die geschöpfliche Bestimmung des Menschen als Ebenbild Gottes konzentriert. Doch nun müssen wir uns angesichts der eben aufgeworfenen Fragen auch der anderen Seite zuwenden. Das ist die Seite, die in der traditionellen Sprache der Theologie unter der Überschrift der ›Sünde‹ steht. Der Begriff der Sünde ist heute kaum noch verständlich, weil er umgangssprachlich entweder den unerlaubten Genuss (die Diätsünde) oder einen halb konventionalisierten Regelverstoß (die Verkehrssünde oder die Umweltsünde) meint. Im Kontext mit der Religion wird unter Sünde vor allem das auch die Gesinnung einschließende moralische Fehlverhalten verstanden. Auch dieses Verständnis bleibt grundsätzlich hinter dem zurück, was in der Bibel als Sünde zur Sprache gebracht wird. Um das Verhältnis der bisher bedachten Bestimmung der Wirklichkeit des Menschen durch den Schöpfer zu der Realität seiner scheinbaren Gottesferne, die das ganze Welterleben auf ihrer Seite hat, theologisch genauer erfassen zu können, müssen wir versuchen, den besonderen Charakter der menschlichen Sünde und der von ihr bestimmten Wirklichkeit theologisch zu verstehen.

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[1]    K. Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie (s. Anm. 6), 169.

[2]    Vgl. K. Barth, Das erste Gebot als theologisches Axiom, in: Ders., Theologische Fragen und Antworten. Gesammelte Vorträge Bd. 3, Zollikon 1957, 127-143, 139.


Michael Weinrich