11. Sonntag nach Trinitatis: Lukas 18,9-14 – vom Pharisäer und Zöllner

von Johannes Calvin

''Doch darf nur das die einzige Stütze unseres Glaubens sein, daß Gott uns angenommen hat, nicht weil wir es so verdient hätten, sondern weil er unsere Sunden nicht anrechnet.''

Lukas 18,9-14
9 Er sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die anderen, dies Gleichnis: 10 Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. 11 Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. 12 Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. 13 Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! 14 Ich sage euch: dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Nun belehrt uns Christus über eine andere Tugend, die zum richtigen Beten notwendig ist: Die Gläubigen können nur in Einfalt und Demut vor das Angesicht Gottes kommen. Keine Krankheit ist verderblicher als die Anmaßung, und doch sitzt sie allen so fest in Mark und Bein, daß sie durch kaum ein Heilmittel vertrieben und ausgerottet werden kann. Es ist zwar ein Wunder, daß die Menschen so unsinnig sind, daß sie es wagen, vor Gott einen Federbusch aufzusetzen und vor ihm mit ihren Verdiensten zu prahlen. Denn wenn uns unter Menschen die Ehrsucht betört, so sollten wir doch, wenn wir ins Angesicht Gottes kommen, alles Selbstvertrauen fahrenlassen. Indessen meint jeder, er hätte sich genug gedemütigt, wenn er nur in heuchelnder Weise um Vergebung gebeten hat. Wir merken, daß diese Ermahnung des Herrn nicht überflüssig ist. Christus geißelt zwei Fehler, die er verurteilen wollte: unser falsches Selbstvertrauen und den Hochmut, auf die Brüder hinabzuschauen. Der eine Fehler entsteht aus dem anderen. Denn ein jeder betrügt sich in einem eitlen Selbstvertrauen, und es kann nicht anders sein, als daß er sich dabei über die Brüder erhebt. Kein Wunder! Denn wie sollte einer nicht auf Menschen hinabschauen, die ihm gleichgestellt sind, wenn er sich gegen Gott selbst hochmütig erhebt? Jeder bläst sich im Vertrauen zu sich selbst auf und führt einen offenen Krieg mit Gott, den doch allein unsere Selbstverleugnung mit uns versöhnen kann, nämlich wenn wir ganz klein werden und all unser Vertrauen auf die eigene Tüchtigkeit und Gerechtigkeit in seiner Barmherzigkeit allein begraben.

Luk. 18, 10. „Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel.“ Christus vergleicht zwei Männer miteinander, die, obwohl sie beide einen frommen Eifer zum Beten an den Tag legen, sich doch weit voneinander unterscheiden. Denn der Pharisäer mit seiner äußerlichen Heiligkeit naht sich Gott, indem er sein Leben rühmt, und er naht sich ihm unter Berufung auf sein Recht, um ihm das Opfer seines Lobes darzubringen. Der Zöllner dagegen ist wie ein Verworfener, weil er weiß, daß er unwürdig ist näherzutreten; unter Zittern macht er ein demütiges Bekenntnis. Christus aber verwirft den Pharisäer und behauptet, die Bitten des Zöllners seien Gott angenehm gewesen. Im weiteren werden noch einmal die beiden Gründe genannt, warum der Pharisäer verworfen werden mußte: Im Vertrauen auf sich selbst hat er sich an der Schande anderer großgemacht. Es wird an ihm gar nicht getadelt, daß er sich gebrüstet hätte, alles aus eigener Kraft zu schaffen, sondern das ist ihm vorzuwerfen, daß er vom Verdienst seiner Werke überzeugt ist und meint, Gott sei ihm gnädig gesinnt. Denn dieser Satz des Dankes, der von ihm berichtet wird, verherrlicht in keiner Weise die eigene Tüchtigkeit, als ob er aus eigener Kraft Gerechtigkeit erlangt oder durch seinen Fleiß irgend etwas verdient hätte. Vielmehr schreibt er der Gnade Gottes zu, daß er gerecht ist. Obgleich er also in seinem Bekenntnis Gott dafür dankt, daß aus Gottes reiner Wohltat herrühre, was immer er an guten Werken hervorbringe, so wird er doch mit seinem Gebet abgewiesen, weil ihm das Vertrauen auf seine Werke eine Stütze geworden ist und er sich damit über die andern erhebt. Daraus ersehen wir, daß sich die Menschen nicht richtig und für die Dauer demütigen, auch wenn sie meinen, daß sie allein nichts vermögen, wenn sie nicht dem Verdienst ihrer Werke das Vertrauen entziehen und ihr Heil ganz unter die gnädige Güte Gottes zu stellen lernen, so daß dort das ganze Vertrauen auf die Werke seinen Grund findet. Die Stelle ist besonders wichtig. Denn einigen scheint es zu genügen, wenn sie dem Menschen den Ruhm der guten Werke wegnehmen, weil sie Gaben des Heiligen Geistes sind. Aber so meinen wir es nicht, wenn wir von der Rechtfertigung aus Gnaden sprechen, denn Gott findet in uns keine Gerechtigkeit, die er nicht selbst in uns gelegt hätte. Doch Christus geht noch einen Schritt weiter: Er schreibt nicht nur die Fähigkeit zum richtigen Handeln der Gnade des Geistes zu, sondern er nimmt uns alles Vertrauen auf die Werke. Denn der Pharisäer wird nicht darin getadelt, daß er sich anmaßt, was Gott zu eigen ist, sondern weil er sich auf sein Verdienst stützt, um einen gnädigen Gott für sich zu haben, wie er ihn verdient hat. Wir sollen also wissen, daß, wie sehr einer Gott auch das Lob für seine guten Werke geben mag, er doch auf Grund einer falschen Anmaßung verurteilt wird, wenn er sich einbildet, die Gerechtigkeit aus den Werken sei der Grund für sein Heil, oder wenn er sich auf sie verläßt. Wichtig ist auch, daß hier gar nicht die prahlerische Ehrsucht getadelt wird, wenn man sich vor Menschen rühmt, während man sonst ein schlechtes Gewissen hat, sondern die versteckte Heuchelei wird verurteilt. Denn es heißt nicht, daß er seine Lobsprüche ausposaunt hätte, sondern er hat still bei sich gebetet. Wenn er im übrigen auch den Ruhm seiner Gerechtigkeit nicht mit lauter Stimme verbreitete, so war doch sein innerer Stolz Gott ein Greuel. Um ein Doppeltes ging sein Rühmen: erstens spricht er sich von dem allgemeinen Schuldzustand der Menschheit frei, und zweitens hebt er seine eigene Tüchtigkeit hervor. Er behauptet, er sei nicht so wie die übrigen, weil er von der Schuld durch ein Vergehen frei sei, die überall auf der Welt laste. Wenn er sich brüstet, er faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von seinem Vermögen, so hätte er auch sagen können, daß er mehr leiste, als das Gesetz verlange. Genauso preisen die Mönche im Papsttum ihre „überschüssigen" Werke an, als ob es ihnen zuwenig wäre, wenn sie das Gesetz Gottes erfüllten. Obwohl jeder nach dem Maß seiner Fähigkeiten, die ihm Gott gegeben hat, zum Dank gegen den Urheber sogar verpflichtet ist und es fromme Gedanken sind, wenn man überlegt, wieviel ein jeder empfangen hat, damit die Güte Gottes nicht unter Undankbarkeit begraben werde, so ist doch zweierlei zu beachten: Wir dürfen uns nicht im Vertrauen zu uns selbst aufblasen, als ob Gott versöhnt sei, und wir dürfen nicht aus Verachtung der Brüder übermütig werden. In diesen zwei Punkten verging sich der Pharisäer, weil er sich fälschlich der Gerechtigkeit rühmte und dadurch der Barmherzigkeit Gottes keinen Raum ließ und weil er vor lauter Selbstüberhebung alle andern verachtete. Christus hätte seine Danksagung nicht mißbilligt, wenn sie nicht von diesen beiden Fehlern behaftet gewesen wäre. Aber da der stolze Pharisäer bei seinen eigenen Sünden ein Auge zudrückte und einen leeren Schein von einer lauteren, vollkommenen Gerechtigkeit dem Urteil Gottes entgegenstellte, mußte er mit seiner gottlosen, frevlerischen Tollkühnheit notwendig unterliegen. Denn die einzige Hoffnung der Gläubigen, solange sie unter der Schwachheit des Fleisches leiden, ist es, ihre Zuflucht zu der einigen Barmherzigkeit Gottes zu nehmen, sobald sie erkannt haben, was gut für sie ist, und ihr Heil in der Bitte um Vergebung zu suchen. Aber man fragt, wieso der Pharisäer überhaupt solche Heiligkeit haben konnte, wo er doch in gottlosem Hochmut verblendet war. Denn solche Lauterkeit kommt doch nur vom Geist Gottes, der sicherlich bei Heuchlern ganz und gar nicht wirksam ist. Ich antworte: Er hatte sich nur auf eine äußerliche Maske verlassen, als ob die verborgene, innere Lauterkeit des Herzens gar nicht in Betracht käme. Obwohl es darum bei ihm innerlich von bösen Lüsten nur so wimmelte, schützt er ruhig Unschuld vor, weil er nur nach dem Augenschein urteilt. Der Herr wirft ihm zwar nicht leere Prahlerei vor, daß er sich fälschlich etwas zuschreibe, was er gar nicht hat; doch stimmt es, daß niemand von Räuberei, Ungerechtigkeit, Begierde und anderen Fehlern frei ist, ohne vom Geist Gottes geleitet zu werden. Was das zweimalige Fasten in der Woche angeht, so hat Gott seinen Dienern im Gesetz niemals vorgeschrieben, zweimal in der Woche zu fasten; darum waren dieses Fasten und das Geben des Zehnten freiwillige Übungen, die über die Vorschrift des Gesetzes hinausgingen.

Luk. 18, 13. „Und der Zöllner stand von ferne.“ Christus wollte hier nicht eine allgemeingültige Regel weitergeben, als ob es notwendig wäre, immer wenn wir besten, die Augen zu Boden zu schlagen, sondern er nannte das nur als Beispiel für die Demut, die allein er seinen Jüngern empfiehlt. Die Demut besteht nun darin, daß man über seine Sünden nicht hinwegsieht, sondern sich selbst verurteilt und damit dem Urteilsspruch Gottes zuvorkommt; und indem man ein ungeheucheltes Bekenntnis seiner Schuld gibt, versöhnt man sich mit Gott. Dahin geht auch die Scham, die immer die Buße begleitet. Denn sicherlich legt der Herr besonders darauf Gewicht, daß sich der Zöllner ernstlich als elend und verloren erkannte und sich zu Gottes Barmherzigkeit flüchtete. Denn wie groß seine Sünde auch sein mag, er vertraut auf die freie Vergebung und hofft, daß Gott ihm gnädig sein werde. Kurz, um die Gnade zu erlangen, bekennt er sich als ihrer unwürdig. Und wenn allein die Vergebung der Sünden uns Gott versöhnt, müssen wir sicherlich ebenda beginnen, sofern wir wollen, daß unsere Gebete ihm angenehm sind. Wer sich nun als schuldig und überführt bekannt hat und um den Freispruch bittet, läßt das Vertrauen auf die Werke fahren. Und genau das wollte Christus sagen: Gott wird nur die erhören, die unter Zittern zu seiner Barmherzigkeit allein ihre Zuflucht nehmen.

Luk. 18, 14. „Dieser ging hinab gerechtfertigt.“ Im Grunde ist das kein Vergleich. Denn Christus stellt den Zöllner nicht nur gerade eine Stufe höher, als ob sie beide Gerechtigkeit gehabt hätten, sondern er meint, der Zöllner sei von Gott angenommen worden, während der Pharisäer ganz und gar verworfen wurde. Diese Stelle zeigt deutlich, was es eigentlich heißt: Gerechtfertigt werden. Es bedeutet, vor Gott dastehen, als ob wir gerecht wären. Denn Christus sagt nicht, der Zöllner sei darum gerechtfertigt worden, weil er plötzlich eine neue Eigenschaft erworben hätte, sondern weil er nach dem Bekenntnis der Schuld und Beseitigung der Sünden Gnade erlangt hat. Daraus folgt, daß die Gerechtigkeit in der Vergebung der Sünden besteht. Wie darum der Pharisäer mit seinem falschen Selbstvertrauen seine Tugenden entstellte und verunreinigte, so daß seine vor der Welt löbliche Lauterkeit bei Gott wertlos war, so habe der Zöllner kein Verdienst auf Grund der Werke, das ihm helfen konnte, und er erlangte die Gerechtigkeit allein durch die Bitte um Vergebung, denn er hoffte auf nichts sonst als auf die reine Güte Gottes. Aber es scheint unsinnig zu sein, daß nun alle mit dem Zöllner in die gleiche Reihe gebracht werden, wo doch die Reinheit der Heiligen sich weit von der des Zöllners unterscheidet. Ich antworte: Mag einer in der Verehrung Gottes und in der wahrhaften Heiligkeit noch so weit vorangekommen sein, wenn er bedenkt, wieviel ihm noch fehlt, dann kann er auf keine andere Weise gebührend beten, als mit dem Bekenntnis seiner Schuld zu beginnen. Denn alle sind doch gemeinsam schuldig, wenn es die einen auch etwas mehr und die andern etwas weniger sind. Darum gibt Christus hier zweifellos allen eine Regel an die Hand, als wenn er sagen würde: Dann erst ist Gott uns gnädig, wenn wir nicht mehr auf unsere Werke vertrauen und ihn bitten, uns umsonst zu versöhnen. Das müssen sogar die Papisten bis zu einem gewissen Teil zugeben; aber es dauert nicht lange, bis sie diese Lehre durch einen verkehrten Einfall wieder entstellen. Alle räumen ein, daß wir das Heilmittel der Vergebung brauchen, weil niemand vollkommen ist; aber zuvor betören sie die armen Menschen mit dem Vertrauen auf eine, wie sie es nennen, teilweise Gerechtigkeit Dann fugen sie noch Leistungen zur Genugtuung hinzu, die ihre Schuld auslöschen sollen. Doch darf nur das die einzige Stütze unseres Glaubens sein, daß Gott uns angenommen hat, nicht weil wir es so verdient hätten, sondern weil er unsere Sunden nicht anrechnet.


Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Zwölfter Band: Die Evangelien-Harmonie 2. Teil, Neukirchener Verlag 1966, S. 453ff.