Der Text der Jahreslosung 2015 - ausgelegt

von Achim Detmers, Hannover


Sechs freie Variationen - Günter Scharein (1974), Karton, Original 98x68x10 cm

»Darum nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat, zur Ehre Gottes.« (Röm 15,7)

Ein Blick in die Jahreslosungen der letzten Jahre zeigt, dass vor allem Bibelzitate mit allgemeingültigen ›Wahrheiten‹ den Weg in die Losungsbücher gefunden haben. Bibelverse, die hier etwas sperriger sind, haben kaum Chancen, nach einem langen Auswahlprozess als Jahreslosung ausgewählt zu werden. »Selig, wer bei dem, was er zu prüfen hat, nicht mit sich ins Gericht gehen muss!« (14,22) – dieser Vers aus dem Römerbrief z.B. würde nie als Jahreslosung akzeptiert werden. Aber: Christus nimmt uns an – wir nehmen einander an – und das alles zur Ehre Gottes (15,7). Das klingt so wunderbar einfach und plausibel, ideal, um damit ein Jahr zu überschreiben. Und doch bleibt die Jahreslosung – so verstanden – eigentümlich unkonkret und pauschal. Tatsächlich aber hatte Paulus eine sehr präzise Vorstellung davon, warum er der römischen Gemeinde genau dies schrieb. Und das hat z.B. mit dem oben zitierten Vers in 14,22 zu tun, der als Jahreslosung durchfallen würde. Hinter Röm 15,7 steht nämlich ein gewaltiger Konflikt, der Paulus nötigte, den längsten und wohl auch bedeutendsten Brief des Neues Testaments zu verfassen. Doch der Reihe nach.

Welcher Konflikt stand im Hintergrund des Römerbriefes?

In der römischen Kirchengemeinde war es schon früh zu Konflikten mit der jüdischen Synagogengemeinde gekommen. Offenbar waren judenchristliche Missionare so heftig mit Gliedern der jüdischen Gemeinde aneinandergeraten, dass die anschließenden Tumulte Kaiser Claudius im Jahre 49 n. Chr. veranlasst haben, die Ausweisung der Juden aus Rom zu verfügen. Aber auch Juden und Jüdinnen, die den christlichen Glauben angenommen hatten, wie Aquila und Priscilla, waren von der Vertreibung betroffen (vgl. Apg 18,2). Dadurch verwandelte sich die römische Gemeinde in eine rein heidenchristliche Gemeinde. Erst fünf Jahre später (54 n. Chr.) wurde das Edikt durch Kaiser Nero aufgehoben; Juden bzw. Judenchristen konnten nach Rom zurückkehren. Dieser Umstand machte für die (heiden-)christliche Gemeinde in Rom zwei Konfliktfelder akut: erstens ihr Verhältnis zur toragemäßen Lebensweise der zurückgekehrten Judenchristen und zweitens ihr Verhältnis zur sich erneut konstituierenden Synagogengemeinde in Rom. In genau dieser Situation beabsichtigte Paulus, nach Rom zu reisen. Und dazu schrieb er vorab einen Brief an die römische Gemeinde und nahm darin Stellung zu exakt den beiden Konflikten. Das geht unmittelbar aus dem Brief hervor. Zwar kannte Paulus die römische Gemeinde noch nicht (1,10-15), er zeigte sich aber über die Vorgänge dort informiert (1,8; 11,17-21.25; 13,1-7; 14,1-15,5; 15,22-24 vgl. auch Act 18,1-3; 1. Kor 16,19). Und deshalb richtete er seinen Brief vorrangig an den heidenchristlichen Teil der Gemeinde (1,5f.13; 11,13.17.24; 15,15-18; 11,28; Ausnahme: 2,17), dem er ins Gewissen reden wollte.

Wie bezog Paulus zu den Konflikten in Rom Stellung?

Diesen Heidenchristen sicherte Paulus zunächst die vollgültige Rechtfertigung (d.h. Anteilhabe an der Bundestreue Gottes) zu, ohne dass sie sich beschneiden lassen und die ganze Tora halten (2,17-29; 3,19-4,25; 7,4-8,17). Aber gegenüber einem Auseinanderbrechen der Gemeinde in einen juden- und einen heidenchristlichen Teil betonte Paulus die gemeinsame Sohnschaft beider Gruppen (2,10-13.25-27; 3,22-30; 4,11f.16; 8,14-17; 9,24-28; 10,11-13; 11,16-21;15,6f.25-27). Und in 14,1-15,12 ermahnte er zudem die Heidenchristen, es wegen der Speisevorschriften der Judenchristen (und des Sabbatgebotes) nicht zu einem Bruch der (Tisch-)Gemeinschaft kommen zu lassen (s.u.). In den Kapiteln 9 bis 11 nahm Paulus schließlich ausführlich dazu Stellung, dass die Mehrheit des Judentums vom Christusereignis unbeeindruckt geblieben war, und warnte die vorwiegend heidenchristliche Gemeinde Roms vor einer unangemessenen Überheblichkeit gegenüber dem Judentum (11,13-29).

Wie argumentierte Paulus theologisch?

Der Römerbrief des Paulus ist im Grunde eine einzige Auslegung von Hab 2,4 und Jes 28,16b LXX (vgl. 1,17; 9,33b; 10,11). Mit Hilfe dieser Auslegung wollte Paulus zeigen, dass im Blick auf das Gottesverhältnis allein Gottes-Vertrauen (pistis)[1] entscheidend ist, unabhängig davon, ob jemand beschnitten ist oder nicht. Damit wehrte er sich gegen die Auffassung, dass der Zugang zum Gott Israels an die Beschneidung und die Einhaltung der Gebote gebunden sei.
D.h. also: Paulus begründete im Römerbrief die Rechtfertigung der Heiden (1,16-4,25). Er verstand diese Rechtfertigung als eine Eingliederung der Heidenchristen in die Erwählungs- und Hoffnungsgeschichte des erst- und bleibend erwählten Israel (1,16; 2,9f; 3,1-4a; 4,11f; 5,1f; 8,1-4; 9,3-6.24; 10,4-13; 11,1f.16-24.28-32; 15,8-12). Die Heidenchristen müssten sich dafür nicht beschneiden lassen oder zum Israel-Judentum übertreten (2,17-29; 3,19-4,25; 7,4-8,17). Diese Eingliederung sah Paulus bereits in der Hebräischen Bibel begründet (3,31-4,25; 9,24-28; 10,18-21; 15,8-12) und durch die Auferweckung Jesu Christi als eschatologisches Treueereignis Gottes gegenüber seinem Volk in Kraft gesetzt (1,1-5; 3,21-26; 4,24-6,14; 8,1-30; 11,25-31; 13,11f; 15,8). In diesem – über die Bundestreue zu seinem Volk hinausgehenden – Handeln Gottes an den Heiden sah Paulus die volle dikaiosyne[2] Gottes erfüllt.

Was kritisierte Paulus an den Meinungsführern des Judentums?

Indem die jüdischen Meinungsführer diese Dimension des Handelns Gottes nicht akzeptierten (vgl. 11,31) und den Zugang zur Erwählungs- und Hoffnungsgeschichte Israels an die Einhaltung der ganzen Tora banden (vgl. 9,31f; 10,5), richteten sie ihre eigene dikaiosyne auf (vgl. Gal 2,21; Phil 3,9). Paulus kritisierte also, dass sie ihre eigene Prämisse zur Bedingung des Handelns Gottes an den Heiden machten. (10,3) Für ihn war jedoch die Heiden ausgrenzende Funktion der Tora durch Christus aufgehoben, sodass auch den gläubigen Heiden die dikaiosyne Gottes zuteil werde (vgl. 3,21f; 10,4).

Was kritisierte Paulus an den Heidenchristen?

Die Tatsache, dass Juden mehrheitlich vom christlichen Glauben unbeeindruckt blieben, war für Paulus keineswegs ein Zeichen der Verwerfung Israels. Vielmehr wurde das von ihm als ein gottgewolltes Geschehen gedeutet, um den Heiden in der Phase der Endzeit die Teilhabe an der Geschichte Israels zu ermöglichen (3,1-4a; 11,1-32). Aus diesem Grunde hätten die Heidenchristen kein Recht, sich gegenüber dem ersterwählten Volk Israel zu erheben (11,16-24), denn nicht die Rettung der Völkerwelt sei das Ziel des Handelns Gottes, sondern die Rettung ganz Israels (11,25-31). Auch wenn beide gleichermaßen von der Barmherzigkeit und Gnade Gottes lebten (11,32), so sei es die (heidenchristliche) Kirche, die in die Verheißungsgeschichte Israels einbezogen werde, nicht umgekehrt (s.o.); und an ihrem Verhalten Israel gegenüber entscheide sich ihr Verbleiben im Ölbaum (11,18-21).

Was bedeutet im Zusammenhang dieses Konfliktes die Jahreslosung?

Röm 15,7 steht am Ende einer langen Argumentationskette, die in Kapitel 14 beginnt: In 14,1-12 ermahnte Paulus den heiden- und judenchristlichen Teil der Gemeinde, die jeweils andere Einstellung zum Verzehr nichtkoscheren Fleisches zu akzeptieren. Wer aus religiösen Gründen auf Fleisch verzichte, sei genauso von Gott angenommen wie diejenigen, die keine Probleme hätten, nichtkoscheres Fleisch zu essen. Gott alleine stehe es zu, hier zu richten. Wichtig sei nur, dass sowohl der Verzehr von Fleisch als auch der Verzicht auf Fleisch allein aus Achtung vor Gott erfolge. Gleiches gelte für das Einhalten des Sabbatgebotes. In 14,13-23 unterstrich Paulus dann, dass für ihn keine Speisen aus sich selbst heraus unrein seien; man müsse davon aber beim Essen fest überzeugt sein, sonst heuchle man vor Gott. Zudem sah Paulus das Problem, dass man durch den Verzehr nichtkoscheren Fleisches die andere Gruppe in der Gemeinde verletze. Hier gelte es, in Liebe Verzicht zu üben. Denn der Glaube an Christus ziele nicht auf die Freiheit zu essen, sondern auf das Reich Gottes, auf Frieden und gegenseitige Erbauung. Denn, so ergänzte Paulus in Kapitel 15, auch Christus habe sich nicht selbst gefallen, sondern Verzicht und Demütigung ertragen.
Und in diesem Zusammenhang heißt es nun: »Darum nehmt einander an, wie auch Christus euch angenommen hat, zur Ehre Gottes.« (15,7). Mit diesem Vers versuchte Paulus, die zerstrittenen Gemeindegruppen in eine neue Haltung zu bringen. Nicht das Pochen auf Prinzipien und Überheblichkeit fördere das Wohl und den Zusammenhalt der Gemeinde, sondern Verzicht und Geduld im Sinne Christi. Dies diene der Ehre Gottes.
Und um die zerstrittenen Gemeindegruppen abschließend zu überzeugen, fügte Paulus ein weiteres christologisches Argument hinzu, das die bisherige Argumentation im Römerbrief zusammenfasste, ja auf die Spitze trieb: Christus sei ein Diener der Beschneidung geworden, um die Verheißungen der Väter zu bestätigen, damit auch die Heiden durch ihre Begnadigung den Gott Israels verherrlichen könnten (15,8-12). Das hieß, der Streit in der römischen Gemeinde sei geradezu lächerlich, wenn man sich vor Augen führe, dass Christus ein Diener der Juden und genau darin ein Hoffnungszeichen für die Heiden geworden sei. Speise- und Feiertagsgesetze verschämt zu missachten oder demonstrativ hochzuhalten, hintertreibe also das Christusereignis.

Literaturhinweise
K. Stendahl, Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum, KT 36, München 1978, bes. 11 und 143.
F.-W. Marquardt, Die Juden im Römerbrief, ThSt(B) 107, Zürich 1971.
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P. von der Osten-Sacken, Die Heiligkeit der Tora. Studien zum Gesetz bei Paulus, München 1989.
M. Rese, Israel und die Kirche in Röm 9, in: NTS 34 (1988), 208-217.
O. Hofius, Das Evangelium und Israel. Erwäguungen zu Röm 9-11, in: Ders., Paulusstudien, WUNT 51, Tübingen 1989, 175-202.
Christen und Juden II. Zur theologischen Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum. Eine Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1991, bes. 47-49; 54.
P. Tomson, Paul and the Jewish Law (Halakha in the Letters of the Apostle to the Gentiles), Maastricht/Minneapolis 1990.
P. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, bes. 177-179.
U. Wilckens, EKK VI/1, Neukirchen-Vluyn 1978, 33-36.
N. Schneider, Die Schwachen in der christlichen Gemeinde Roms, Diss.Theol. Wuppertal 1989.
M. Theobald, Römerbrief, Stuttgarter kleiner Kommentar NT 6, 2 Bde, Stuttgart 1992/93.


[1]     Übersetzung von pistis mit Gottes-Vertrauen: K.Barth, Der Römerbrief ²1922 (14. Nachdruck Zürich 1989), Vorwort zur zweiten Auflage, S.XXIVf: Um das Schillern des Begriffes zum Ausdruck zu bringen übersetzt Barth pistis mit »Treue« bzw. mit »Glaube, [als] die der Treue Gottes begegnende Gegentreue des Menschen« (S.8).

[2]     Die Übersetzung von dikaiosyne (›Gerechtigkeit‹) mit Bundestreue: »im wesentlichen das gottgemäße, von der Bundestreue bestimmte Handeln an seinem Volk, das er zugleich durch dieses Handeln zu einer neuen Menschheit (Israel aus Juden und Heiden) konstituiert« (H.Seebaß, Art. ›Gerechtigkeit‹, in: Theologisches Begriffslexikon zum NT, hrsg.v. L.Coenen u.a. Bd 1, Wuppertal 41986, 506). Mit dikaiosyne übersetzt die Septuaginta zedakah. Buber übersetzt mit »Bewahrheitung«, »Bewährung« und »Zuverlässigkeit«. K.Koch übersetzt mit »Gemeinschaftstreue« (THAT II, 507ff). Entsprechend ist dikaioun (›rechtfertigen‹) mit »der Bundestreue Gottes teilhaftig werden/machen« zu übersetzen.

Dr. Achim Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bundes, Dezember 2014 / Januar 2015