Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1712-1778)
Rousseaus Verständnis der menschlichen Gesellschaft und des Staates sei "weitgehend durch die Bundestheologie und das presbyterianisch-synodale System der aus der calvinistischen Reformation hervorgegangenen Kirchen bestimmt", schreibt Schäfer in einem Beitrag zum Rousseau-Jahr . Souveränität werde nicht von oben aufoktroyiert, sondern resultiere aus dem vertraglichen Zusammenschluss freier Individuen. In diesem Verständnis von Gemeinschaftswillen orientiere der Philosoph sich am "Modell der Landsgemeinde in der Schweiz", so Schäfer.
Naturmystik und die Natur als "Theater zum Ruhme Gottes"
Seinen Seelenfrieden fand Rousseau beim Betrachten der Natur. Beim Geräusch der Wellen des Bielersees konnte er in eine "entzückende Träumerei" versinken. Den Ankrnüpfungspunkt für diese Mystik sieht Schäfer nicht nur im antiken Erbe oder Philosophie des Boetius, sondern auch in einem "Diktum von der Natur", das sich ausdrückt in Calvins Formulierung vom "Theater zum Ruhme Gottes" und den Gedanken von Calvinisten des 16. Jahrhunderts, die auch "den geringsten Grashaln als 'Abbild Gottes' (Pierre Viret)" sahen.
Zivilisationskritik, die aus reformierter Frömmigkeit schöpft
Einen "kargen", ländlichen Lebensstil bevorzugte Rousseau für sich persönlich und schöpfte in seiner philosophischen Zivilisationskritik u.a. aus dem Roman "Robinson Crusoe" von Daniel Defoe, in dem laut Schäfer ein reformiertes "Frömmigkeitsprofil" zu finden ist. Defoe stammte aus einem presbyterianischen Elternhaus und sollte nach Wunsch des Vaters eigentlich Pfarrer werden.
Rousseaus Bekenntnisse als Erbe der "Gewissensprüfung" vor dem Abendmahl nach reformierter Tradition
In seinen zwischen 1765 und 1770 verfassten Bekenntnissen gibt Rousseau intimste Einblicke in seine Person. In dieser Hinsicht sei Rousseau "ein Erbe der Gewissensprüfung, wie sie sich in der reformierten Tradition entfaltete mit der seltenen (jährlich viermaligen) Feier des Abendmahls und der damit einhergehenden Angst, es unwürdig zu empfangen". Zeugnisse von "peinlich genauer und herzzerreissender Selbstbeobachtung" sind auch aus Tagebüchern von Calvinisten bekannt, allerdings waren diese nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Typisch reformiert: die sozial orientierte Freiheit
Auf der Suche nach einer reformierten Identität entdeckte Jan Bauke vor einigen Jahren als "typisch reformeirt" Rousseaus Freiheitsverständnis im "Gesellschaftsvertrag". Wie das Individuum in der notwendigen gemeinschaftlichen Übereinkunft innerhalb einer Gesellschaft seine Freiheit bewahren kann, bringt Rousseau auf die "Formel":
"Jeder von uns stellt gemeinsam seine Person und ganze Kraft unter die oberste Richtlinie des allgemeinen Willens; und wir nehmen in die Gemeinschaft jedes Mitglied als untrennbares Teil des Ganzen auf." (Rousseau in "Du contrat social ou principes du droit politique", zit. nach Bauke, in: Die Reformierten, s.u., 398)
Dieser "Gesellschaftsvertrag" kann höchste Autonomie des Einzelnen sichern, der "der Stimme seines Herzens folgt" und gleichzeitig zum Erhalt seines Lebens von der Gemeinschaft profitiert. Diese "sozial orientierte Freiheit" sieht Bauke im Einklang mit einem Reformiertsein, das "ein unbedingtes Plädoyer für demokratische Strukturen und Gesellschaftsformen" impliziere.
Die "reformierte Pointe" bei Rousseau schränkt Bauke jedoch ein wenig ein. Rousseaus eigentliche "Entdeckung" sei das Herz des Menschen:
"In diesem Sinne ist Rousseau der Vollender der Religion und Theologie des Menschenherzens und -verstandes diesseits traditioneller Konfessionskirchen. Reformiertsein schliesst eine Hochachtung des Menschlichen ein. - Strenggenommen allerdings scheinen Rousseaus Plädoyer für demokratische Strukturen, seine Bejahung kulturell-gesellschaftlicher Lebensformen sowie seine Hochachtung des Menschlichen keine Kennzeichen einer religiösen Konfession zu sein. Sie könnten ebenso gut auch von nicht religiösen Bewegungen ausgesagt werden. Genau diese unkonfessionelle Färbung von Rousseaus Text ist aber ihrerseits typisch reformiert. Als Konfession ist das Reformierte dadurch ausgezeichnet, dass es nicht konfessionalistisch ist."
Im 18. Jahrhundert hatte Rousseau selbst Mühe mit seiner Konfession. Er wurde 1712 als Sohn einer frommen Calvinistin im reformierten Pfarrhaus seines Großvaters geboren. Seine Mutter starb jedoch kurz nach der Geburt. Auf Wanderschaft gelangte der "Jugendliche" 1728 nach Turin, wo er sich zum Katholizismus bekehrte. 1754 kam Rousseau zurück nach Genf, nahm die Staatsbürgerschaft der Genfer Republik an und bekannte sich wieder zur Reformation und zum Reformiertsein.
1762 erschien sein Roman Èmile mit dem „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“. Das eigene Herz und Gewissen spielen für das Bekennen die entscheidende Rolle. Rousseaus Entwurf einer "natürlichen Religion" kritisiert dabei jegliche sich auf eine Offenbarung gründende Religion. Das Buch wurde in Genf verboten und Haftbefehl gegen Rousseau erlassen. Rousseau floh und fand Zuflucht in Neuenburg, später auf der Peterinsel im Bielersee. 1765 wies der Berner Geheime Rat ihn aus, Rousseau ging wieder nach Frankreich, wo er 1778 starb.
Literatur:
- Bauke, Jan, Jean-Jacques Rousseau. Du contrat social (1758), in: Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 2002, 396-98.
- Schäfer, Otto, Von der Lust am treffenden Wort, in: bulletin 1/2012, 24-27.
Marga Bührig
(1915-2002)
Marga Bührig wurde am 17. Oktober 1915 in Berlin geboren. 1925 zog sie mit ihren Eltern nach Chur. Nach der Matura 1934 studierte sie Germanistik und Neuere Geschichte in Zürich, Bern und Berlin. Abschluss 1939 an der Universität Zürich mit dem Mittelschullehrerdiplom und dem Dr. phil.
Während des Krieges Vertretungen als Deutschlehrerin an verschiedenen Schulen, journalistische Tätigkeit, berufsbegleitendes Studium der evangelischen Theologie in Zürich.
1945 Gründung des Reformierten Studentinnenhauses in Zürich, einer Wohngemeinschaft von Studentinnen "im Zeichen des Evangeliums. Heute Boldernhaus Zürich. 1948 Mitgründerin des Evangelischen Frauenbundes der Schweiz, eines Dachverbands von evangelischen Frauengruppierungen verschiedenster Art in der deutschen und der französischen Schweiz. Redaktorin seiner Zeitschrift (heute "Schritte ins Offene").
1954 Delegierte an die Vollsammlung des Reformierten Weltbunds in Princeton/USA. Ernannt zu dessen Mitarbeiterin für Frauenfragen. Anschliessend als Gast an der 2. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Evanston/USA.
1958 aktive Mitarbeit an der SAFFA, der Ausstellung "Die Schweizer Frau, ihr Leben, ihre Arbeit". 1959 Berufung ans Evangelische Tagungs- und Studienzentrum Boldern, Männedorf und Zürich (zusammen mit Dr. Else Kähler). 1959-71 Studienleiterin, 1971-81 Leiterin des Gesamtwerkes. 1976-82 Präsidentin der Ökumenischen Vereinigung der Akademien und Tagungszentren in Europa. Ende der 70er-Jahre. Mitbegründerin der Frauen für den Frieden Zürich und Schweiz. 1975-93 regelmässige Sprecherin der Worte "Zum neuen Tag" bei Radio DRS.
1983-91 eine der sieben Präsidentinnen und Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen. 1988-90 Moderatorin der Vorbereitungsgruppe für die Weltkonferenz des Ökumenischen Rates "Gerechtigkeit, Friede und Bewahrung der Schöpfung", Februar 1990 in Seoul. Co-Leiterin der Konferenz.
1983 Umzug nach Binningen/BL zusammen mit Else Kähler und Elsi Arnold.1998 Dr. h.c. der Theologischen Fakultät der Universität Basel.1994 Kulturpreis Baselland. Am 13. Februar 2002 ist Marga Bührig gestorben. Sie ist auf dem Friedhof Binningen bestattet.
Veröffentlichungen:
- Die unsichtbare Frau und der Gott der Väter, Stuttgart 1987
- Spät habe ich gelernt, gerne Frau zu sein, Stuttgart 1987
- Wir Frauen sind keine Randgruppe! - In: Nennt uns nicht Brüder. Frauen in der Kirche durchbrechen das Schweigen, hg. von Norbert Sommer. Stuttgart 1985
- Film: Sottosopra Originaltitel: Sottosopra; Genre: Dokumentarfilm, Land: Schweiz 2002; Kinostart: 18. März 2004 (Freunde der Deutschen Kinemathek), Länge: 92 min., Regie: Gabriele Schärer, Darstellerinnen: Marga Bührig, Christiane Brunner, Heidi Ensner, Luisa Muraro.
Barbara Schenck