Paris ändert weder alles noch nichts

Einspruch! - Mittwochs-Kolumne von Georg Rieger

Ja, es gibt was zu ändern. Aber nicht das, was sich die Terroristen und rechten Hetzer wünschen

Im Moment wird der Ausspruch „Paris ändert alles“ dazu benutzt, Kriegsvorbereitungen zu treffen, den Terroristen zu drohen und neue „einschneidende“ Maßnahmen anzukündigen. Grenzen dicht, mehr Überwachung, Kontingente, Abschiebungen. Wir hören es von allen Seiten. Schluss mit der Willkommenskultur und dem Gutmenschentum! Jetzt ist Angst, Misstrauen und „Verteidigungsbereitschaft“ (Gauck) an der Tagesordnung.

Damit hätten die Selbstmordattentäter und ihre Hintermänner also ihr Ziel erreicht. Sie dürfen sich etwas darauf einbilden, dass sie es geschafft haben: Unsere Werte haben wir zurückgestellt. Ja, wir sind sogar auf dem besten Weg, sie zu verraten.

Dass Einzelne austicken und glauben, dass sie mit ihren mörderischen Taten die Welt aus den Angeln heben können, das wird sich nie verhindern lassen. Dass sie es aber tatsächlich schaffen, ist doch bemerkenswert. „Paris ändert alles“ – so etwas kann eigentlich nur jemand sagen, der nicht ganz bei Trost ist. Oder jemand, der selbst ein Interesse daran hat, dass die Welt aus den Angeln gehoben wird.

Natürlich müssen wir uns ändern. Es gäbe sogar eine Menge zu ändern. Aber nicht wegen der Anschläge, sondern vielleicht, weil es eh längst überfällig ist?

Eigentlich ist es eine Binsenweisheit, dass die Gesellschaften am friedlichsten sind, in denen die Chancengleichheit am größten ist. Mit einem hat die kapitalistische Theorie ja durchaus Recht: Wir Menschen wollen immer etwas vorangehen sehen. Aber das gilt eben für alle. Wenn sich aber die Einen ihre Erfolge vergolden lassen und die Anderen nicht mitnehmen, dann schürt das Neid und Hass. Und zwar gerne auf die, die noch schlechter dran sind. Die nehmen einem vermeintlich das Wenige auch noch weg. Momentan: die Flüchtlinge.

Ich frage mich schon lange, warum die Menschen nicht jeden Freitag nach Börsenschluss für eine Wiedereinführung der Vermögenssteuer auf die Straßen gehen. Das hätte mit ihren Sorgen weit mehr zu tun. Warum klagen sie nicht über Firmen, die keine Steuern zahlen? Warum streiten sie nicht für eine Grundsicherung oder andere Ideen der gerechteren Verteilung der Güter?

Die Terroristen hätten es weit schwerer, uns mit ihren Schreckenstaten in die Bredouille zu bringen, wenn wir eine Gesellschaft wären, in der sich alle aufgehoben fühlen würden. Die Werte, die wir verteidigen wollen, erfahren viele in unserem Land selber nicht. Andere machen sich die Verlogenheit zu eigen, mit der vielfach Politik gemacht wird. Es ist ein Teufelskreis.

Doch es gibt immer wieder Gelegenheiten, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Wir müssen sie nur erkennen. Paris könnte eine solche Gelegenheit sein, doch es läuft gerade eher in die andere Richtung.

Georg Rieger, 18. November 2015