II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe

Magdalene L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe

I. Angabe: Die Rückkehr der milden Gabe
II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
1. Der Geist (in) der Gabe und die freiwillige Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern – Marcel Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe 
2. Die Ambivalenz der (milden) Gabe. Zur gegenwärtigen Spendenpraxis
3. Die Gabe, die keine ist – J. Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe
4. Vom Geben, das in der Gabe nicht aufgeht - B. Waldenfels' Phänomenologie von Geben und Nehmen
III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt
1. "Wir teilen euch die charis Gottes mit ..." - oder: Grazie, der Inbegriff göttlichen und menschlichen Gebens
2. "... auf dass Gleichheit entstehe!" - oder: die Kollekte als diakonia
3. "... und sie sehnen sich nach euch!" - oder: die Kollekte als koinonia
4. "... auch Überfluß für Gott!" - oder: die Kollekte als leitourgia
IV. Zugabe: Geben, was man nicht hat 

II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe

2. Die Ambivalenz der (milden) Gabe. Zur gegenwärtigen Spendenpraxis

Nicht zufällig hat M. Mauss die politisch-moralischen Schlußfolgerungen aus seinen ethnologischen und soziologischen Untersuchungen mit der Wahrnehmung eröffnet: "Milde Gaben verletzen den, der sie empfängt, und all unsere moralischen Bemühungen zielen darauf ab, die unbewußte schimpfliche Gönnerhaftigkeit des reichen 'Almosengebers' zu vermeiden"[1] Theodor W. Adorno, der beobachtet, daß an die Stelle des wirklichen Schenkens, das "sein Glück in der Imagination des Glücks des Beschenkten" hat, die "charity" getreten ist, "verwaltete Wohltätigkeit, die sichtbare Wundstellen der Gesellschaft planmäßig zuklebt", sieht die institutionalisierte Spendenpraxis "mit Demütigung durch [...] die Behandlung des Beschenkten als Objekt notwendig verbunden".[2] Die milde Gabe ist wieder da und in ihrem Gefolge die Scham, die sie nicht selten auslöst – bei den EmpfängerInnen als Beschämung und bei den Gebenden als Verschämtheit.

Milde Gaben können die, denen sie zugedacht werden, beleidigen, kränken, erniedrigen – diese Einsicht ist wohl ebenso alt wie die Gabe selbst; nicht zuletzt damit mag die im Allgemeinen positive Konnotierung des Gebens zusammenhängen, die Überzeugung, dass es sich bei der Gabe um ein Gut handele, sowie eine weitverbreitete moralische Höherbewertung des Gebens gegenüber dem Nehmen, wie sie die Nikomachische Ethik des Aristoteles lehrt[3] und für die sich Theologie und Kirche gern auf die antike Wohltätermaxime "Geben ist seliger denn nehmen." berufen – ein Sprichwort, das in Apg 20,35 sogar mit der Autorität Jesu und des Paulus versehen wird[4]. Plutarch überliefert in seinen Moralischen Schriften als Überzeugung und Beobachtung Epikurs: "Gutes zu tun ist nicht nur schöner, sondern auch angenehmer, als Gutes zu empfangen. [...] Häufiger schämen sich die Menschen, Gutes zu empfangen, aber immer freuen sie sich, Gutes zu tun."[5]

Was als Wohltat gemeint sein mag, kann mehr Schaden als Nutzen anrichten. Aus Angst vor der Demütigung, zum Almosenempfänger zu werden, will man sich lieber nichts schenken lassen, möchte sich wenigstens die Würde erhalten, das Lebensnotwendige durch eigene Leistung selbst zu verdienen. Das führt nicht selten dazu, aus Scham nicht einmal das in Anspruch zu nehmen, was einem von Rechts wegen zusteht. Die eigene Not und Bedürftigkeit wird – so gut es geht – vor anderen verschwiegen und versteckt, um nicht zum Objekt ihrer "Wohltätigkeit" zu werden.

Aber auch für die Gebenden ist die milde Gabe nicht ohne Scham. Denn in den Augen der anderen und vor sich selbst will man nicht in den Verdacht kommen, gönnerhaft "von oben herab" zu handeln. Nicht jedem liegt die Mentalität eines Wohltäters, der vertikale Solidarität praktiziert. Doch auch ihre Verweigerung führt nicht aus dem Dilemma heraus: Ob man nun die Spende überwiesen oder das Überweisungsformular in den Papierkorb geworfen, ob man einige Münzen hervorgekramt hat oder mit einem stummen Kopfschütteln davongeeilt ist – das zwiespältige Empfinden bleibt. Schon die lapidare Bitte "Hast'e mal 'ne Mark?!" ruft die Sorge um den Mißbrauch der eigenen Gabe auf den Plan. Und auch der das Zurückhalten der Gabe sekundär rationalisierende Gedanke, dass die eigene Spende nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen wäre und so das wahre Elend womöglich noch verlängert hätte, statt seine Ursachen zu bekämpfen, kann nicht beruhigen.

Um die Scham der Gebenden und der Nehmenden zu überwinden oder wenigstens zu mindern, haben sich mehr oder weniger wirksame Bewältigungsstrategien, auch gegenläufige, auf beiden Seiten ausgebildet:

Die Einwerbung, Verwaltung und Verteilung von Spenden durch entsprechende Organisationen ermöglicht die persönliche Anonymität der Spendenden für die Empfangenden und/oder der Empfangenden für die Spendenden. Durch die institutionelle Vermittlung braucht es keinen unmittelbaren Kontakt zwischen ihnen zu geben. Eine möglicherweise beschämende Begegnung von Angesicht zu Angesicht bleibt beiden Seiten erspart. Spender und Empfänger werden auch dann auf Distanz zueinander gehalten, wenn medienwirksame Spendenaufrufe das Elend der ganzen Welt an einem Einzelschicksal illustrieren, um so am konkreten Fall Mitleid zu erregen und ein größeres Spendenaufkommen zu bewirken, oder wenn die Namen der SpenderInnen publik gemacht werden. Gebende und Nehmende kennen einander nicht mehr persönlich. Die Bitte um dringende Hilfe wie der Dank für gewährte Hilfe werden nicht direkt adressiert, sondern durch Dritte übermittelt. Die zwischen Wohltäterin und Empfängerin tretende Spendenorganisation macht die milde Gabe in mancher Hinsicht scham-los.

Den SpenderInnen kann es entgegenkommen, wenn die Spende Teil eines (dafür erhöhten) Kaufpreises ist, der für eine Ware bezahlt wird, die sie auch sonst erworben hätten, etwa beim Kauf von Wohlfahrtsbriefmarken, von Artikeln aus dem Sortiment gemeinnütziger Organisationen wie zum Beispiel Grußkarten von Unicef oder von Eintrittskarten für ein Benefizkonzert ihrer Lieblingskünstler zugunsten von Katastrophenopfern. Für einen guten Zweck, so heißt es dann, gibt man gern etwas mehr aus. Die milde Gabe verschwindet im Kaufpreis; der den Briefmarken oder Gruß- und Eintrittskarten eingeschriebene gemeinnützige Zweck mindert das Gefühl der besonnenen guten Tat und des Vergnügens nicht – im Gegenteil.

Die Entlastung für die Gebenden nimmt ab, je weniger freiwillig der käufliche Erwerb von Waren ist, mit dem sich eine Spende verbindet. Dass zum Beispiel Selbsthilfeorganisationen eigene Produkte verkaufen, soll und mag ihren Mitgliedern das Gefühl geben, für ihren Lebensunterhalt (zumindest teilweise) selbst aufzukommen und nicht (nur) auf Almosen angewiesen zu sein. Für die Spendenden allerdings sind die erworbenen Produkte oft überflüssig oder nutzlos. Sie erwerben sie meist nicht aus eigenem Bedarf oder wirklichem Interesse an den Menschen, die sie hergestellt haben, sondern fühlen sich eher moralisch zum Kauf genötigt. Ein ungutes Gefühl bleibt, wenn man freiwillig-unfreiwillig die monatliche Zeitung der lokalen Arbeitsloseninitiative kauft, sie aber doch nicht liest, wenn man die von behinderten Menschen gemalten Karten und Kalender, die einem unaufgefordert in regelmäßigen Abständen zugesandt werden, nicht zurückschickt, sondern der beigefügten Zahlungsaufforderung nachkommt, um dann den Kalender doch nicht aufzuhängen und die Karten nicht zu verwenden. Auch die unter den Kaufpreis gemischte Spende verliert ihre Probleme nicht.

Der Beschämung der GabenempfängerInnen scheint man in jüngster Zeit zunehmend dadurch vorbeugen zu wollen, dass die milde Gabe selbst schon den Status einer Gegengabe erhält: den Spendenaufrufen sind als kleine Geschenke nicht selten Adreßaufkleber oder -karten beigefügt. Eine praktische Idee, mag man sich denken, denn wer kann diese nicht gebrauchen (falls Name und Anschrift korrekt geschrieben sind). Die kleine Vor-gabe gibt sich meistens ausdrücklich bescheiden aus gegenüber der zu erwartenden Spende. Sie wird bewußt heruntergespielt und hat doch eine deutliche Botschaft: Dem potentiellen Spender wird sein Name in vielfacher Ausfertigung geschenkt, was ihm signalisieren soll, dass er sich (s)einen Namen machen kann mit seiner Gabe: je größer die Spende, desto größer sein Name. Einen ähnlichen Zweck mögen aus gemeinsamer Initiative verschiedener Medien entstandene Spektakel haben, die aus Anlaß von (inter)nationalen Katastrophen ein Forum zur Austragung eines Spendenwettkampfs bieten. Hier wird die Spende zur Gegengabe für die von vornherein garantierte öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung, für den Prestigegewinn der SpenderInnen.

Solche Veranstaltungen muten an wie eine säkularisierte Variante früherer Verheißungen vielfachen himmlischen Lohns für irdische Wohltätigkeit, die nicht nur zur Freigebigkeit motivieren sollten, sondern auch die EmpfängerInnen milder Gaben davon entlasten konnten, sich ihren WohltäterInnen gegenüber schuldig zu fühlen – eine Funktion, die längst schon das Finanzamt, das steuerliche Begünstigung für Spenden an als gemeinnützig anerkannte Einrichtungen garantiert, und Fernsehlotterien, die für kleine Spendenlose große Gewinne in Aussicht stellen, übernommen haben ...

Nun mag man in allen diesen Maßnahmen psychologisch und ökonomisch mehr oder weniger raffinierte Strategien sehen, um Spendenbereitschaft zu wecken und das Spendenaufkommen zu erhöhen. Man kann über sie verächtlich die Nase rümpfen und sich von ihnen distanzieren. Und doch läßt sich nicht leugnen, dass sie mehr sind als Indizien für die mangelnde Eindeutigkeit der milden Gabe, die nicht in jedem Fall eine Wohltat ist. Es sind Bemühungen, das Gefälle zwischen Gebenden und Nehmenden nicht zu verschärfen, die Macht der Gewährenden und die Abhängigkeit der Empfangenden nicht zu vergrößern. Ob diese Versuche hilflos oder hilfreich sind, gelingen oder ins Gegenteil umschlagen, ist nicht von vornherein ausgemacht; es steht im Gabeereignis selbst auf dem Spiel.

Ungeachtet der je im Einzelfall zu prüfenden Spendenaktion bleibt aber die grundsätzliche Frage, ob solche Maßnahmen sich nicht alle lediglich um eine Therapie der Symptome einer Krankheit bemühen, deren Ursachen dabei erst gar nicht in den Blick geraten. Wie kommt es dazu, dass bei der milden Gabe, die ja so etwas wie den Ernstfall, um nicht zu sagen: den Notfall der Gabe überhaupt darstellt, Nehmende wie Gebende gleichermaßen Scham empfinden können? Wenn die Scham der AlmosenempfängerInnen damit zu tun hat, dass sie sich nicht in der Lage sehen, die empfangene Gabe angemessen zu erwidern, etwas im entsprechenden oder sogar höheren Wert zurückzugeben, und wenn die SpenderInnen beschämt sind oder sich verschämt abwenden, weil sie als die Besitzenden mit ihrer Gabe die Bedürftigen in die Situation bringen (würden), selbst mit ihrer Dankbarkeit oder Freude die empfangene Gabe nicht aufwiegen oder übertreffen zu können, dann steht dahinter ein Verständnis von Gabe als Gabentausch. Denn nur wo die Gabe konstitutiv in den unaufhörlichen Kreislauf von Geben, Nehmen und Erwidern eingebunden ist, werden die Gebenden schuldig an den Empfangenden, weil sie diese zu ihren Schuldnern machen, die zu einer Gegengabe verpflichtet sind. Als Tauschphänomen verstanden ist die Gabe notwendig mit Verpflichtung und Schuld verbunden. Dies wird besonders dort augenfällig, wo die Schuld nicht beglichen, die (Vor-)Gabe nicht wie ein zeitlich befristeter Kredit zurückgezahlt werden kann, mehr noch: wo die (angemessene) Erwiderung der Gabe auf seiten der Gebenden von vornherein nicht intendiert ist. Im Almosen, der Gabe des Mitleids und der Barmherzigkeit, wird die Problematik des Gabentausches besonders augenfällig.

Die milde Gabe macht unübersehbar, dass die grundsätzliche Ambivalenz der Gabe nicht so sehr darin besteht, dass es gute und böse Gaben[6] gibt, was schon durch die sprachliche Verwandtschaft von Gabe und Gift, wie sie im englischen Wort "gift" zum Ausdruck kommt (aber auch in der "Mitgift" noch erhalten ist), angezeigt ist. Was die Gabe vergiftet, ist vielmehr die Schuld, die sich im Kreislauf des Gabentausches an sie heftet. Ihr gegenüber ist die Frage nach der Güte der jeweiligen Gaben zweitrangig.

Es wäre zu fragen, ob nicht die meisten Probleme, die sich mit dem Geben – und insbesondere dem Schenken als der emphatischen Gestalt des Gebens von etwas als Gabe – verbinden, ihren Grund in der Vorstellung haben, dass jede Gabe zwangsläufig Teil eines Gabentausches ist. Das Schenken ist mit einer Vielfalt von Mehrdeutigkeiten verbunden, was die Motive der Gebenden, die Gefühle der Nehmenden, die Auswahl wie die Einschätzung der Bedeutung und des Wertes der Gabe, der Anlässe zum Geben u.a.m. angeht.[7]

Ein Geschenk kann anders aufgenommen werden, als es gemeint war. Was erheitern sollte, kann traurige Erinnerungen wecken, was als augenzwinkernde Anspielung gedacht war, kann kränken. Die Gabe, die eine Beziehung vertiefen sollte, kann sie aufs Spiel setzen oder gar zerstören. Und keineswegs jedes Geschenk ist gut gemeint; Geschenke können auch bewußt verletzen, abhängig machen, erniedrigen wollen. Sie können eigennützige Mittel zum Zweck sein, zur Bestechung mißbraucht werden. Man kann sich beim Schenken vergreifen, ein Geschenk kann für den betreffenden Anlaß zu groß oder zu klein, zu wertvoll oder zu billig sein, zu (vielver)sprechend oder zu nichtssagend. Wer gibt, riskiert, dass seine Gabe nicht angenommen oder nicht (angemessen) erwidert wird. Ist die Begeisterung über die Gabe echt oder nur gespielt? Kommt der Dank von Herzen oder ist er nur Ausdruck geschuldeter Dankespflicht?

Dass private und gesellschaftliche Konventionen die mit dem Schenken verbundenen Risiken und Unwägbarkeiten, Enttäuschungen und Mißverständnisse nur bedingt auffangen können, zeigt ebenso wie der obige Blick auf die Spendenaktionen, die die Scham der EmpfängerInnen wie der SpenderInnen vielleicht minimieren, aber nicht beseitigen können, daß mit der Gabe selbst etwas nicht stimmt, solange sie im Zirkel des Gabentausches verortet wird.

So wird es Jacques Derrida bei seiner Relektüre von Marcel Mauss' Essay "Die Gabe" zur Frage, "ob Gaben Gaben bleiben können, wenn sie getauscht werden"[8]. Derrida erinnert daran,

"daß geben zwar spontan als gut bewertet wird (es ist gut zu geben, und das, was man gibt, Präsent, Geschenk oder gift, ist ein Gut), dieses 'Gute' sich aber doch leicht ins Gegenteil verkehren kann: bekanntlich kann es als Gutes zugleich schlecht, böse, giftig sein (Gift, gift), und zwar von dem Moment an, wo die Gabe den anderen zum Schuldner macht, so daß geben darauf hinausläuft wehzutun, Böses zu tun [...], ganz abgesehen davon, daß man in einigen Sprachen genausogut sagen kann 'ein Geschenk geben' wie 'eine Ohrfeige geben', 'das Leben geben'[...] wie 'den Tod geben' (23).[9]

Das Geben wird zur Untat, die Gabe zum "Un-Ding"[10], indem sie zur Erwiderung der Gabe als Rückgabe des Empfangenen oder als entsprechende Gegengabe verpflichtet. Derrida radikalisiert die Einsicht in die Ambivalenz der Gabe[11] zur Frage nach ihrer Möglichkeit. Man mag seine Dekonstruktion der "Gabe-gegen-Gabe" (24) für überzogen halten – sie bleibt das Nadelöhr, durch das auch eine Theologie der Gabe gehen muß, will sie nicht die Geschichte der Schuld, die sich gerade auch mit den Gaben kirchlicher Wohltätigkeit verbindet, bedenkenlos fortschreiben.[12]3.

3. Die Gabe, die keine ist – J. Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe

Derrida beobachtet einen Widerspruch zwischen dem semantischen Vorverständnis des Wortes "Gabe" und den traditionellen Anthropologien und Metaphysiken der Gabe. Diese haben "zu Recht und mit Grund die Gabe und die Schuld, die Gabe und den Kreislauf der Rückgabe, die Gabe und die Anleihe, die Gabe und den Kredit, die Gabe und die Gegengabe zusammen behandelt [...], als ein System" (24). Sie haben damit die Gabe in die "odysseische Struktur" der Ökonomie eingezeichnet, in jene Kreisbewegung der Rückkehr nach Hause, zum Ausgangspunkt oder Ursprung, die einer gewissen Nostalgie nicht entbehrt. Der Kreis ist die der Ökonomie eigene Figur und zeigt zugleich ihre Problematik: "zirkulärer Austausch, Zirkulation der Güter, Produkte oder Waren, Geldumlauf, Schuldentilgung und Abschreibung (Amortisation), Ersetzbarkeit der Gebrauchs- und Tauschwerte" (16). Auch im Klassiker unter den Arbeiten zur Gabe, in M. Mauss' "Essai sur le don", wird – wie wir gesehen haben – die Gabe aus dem Gabentausch verstanden: Wo aber jede Gabe ihre Rück- oder Gegengabe immer schon bei sich hat, weil das Gegebene von einer bezwingenden Kraft, dem "hau", beseelt ist, die dafür sorgt, dass die Gabe (nach einer gewissen Zeit) zu ihrem Ursprung zurückkehrt, da ist – so Derrida – die uns vertraute Logik der Gabe gerade verloren gegangen. Denn im umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes "Gabe" ist das Gabeereignis durch eine dreigliedrige Struktur gekennzeichnet, "daß irgend 'einer' irgend 'etwas' irgend 'einem anderen' gibt" (22)[13]. In der Semantik des Wortes "Gabe" liege darum weder die Erwartung einer Gegengabe noch die Verpflichtung auf diese. Im Gegenteil:

"Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld. [...] Damit es Gabe gibt, ist es nötig, daß der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt. [...] Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist. Weder dem 'einen' noch dem 'anderen'. Wenn der andere sie wahrnimmt, sie als Gabe gewahrt und bewahrt, wird die Gabe annulliert. Aber auch der, der gibt, darf davon nichts merken oder wissen" (22-25).

Das heißt aber, daß die Bedingungen der Möglichkeit von Gabe, nämlich die dreigliedrige Struktur des Gabeereignisses, zugleich als die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit in den Blick kommen. Was die Gabe zur Gabe macht, zerstört sie auch bereits. Damit überhaupt von Gabe die Rede sein kann, darf die Gabennatur der Gabe weder von der Geberin noch von der Empfängerin erkannt werden. Auf Seiten der Empfängerin reicht es nicht, dass sie die Gabe ablehnt oder ihr auch nur die Anerkennung als Gabe, etwa in Gestalt von Dankbarkeit, verweigert. Wenn sie allein schon der Gabenbedeutung der Gabe gewahr geworden ist oder die Erinnerung daran bewahrt, dass ihr jemand etwas als Gabe geben wollte, gibt es keine Gabe mehr. Die Geberin annulliert die Gabe nicht erst dadurch, dass sie stolz auf ihre Freigebigkeit ist, dass sie sich ihre Gabe selbst zugute rechnet – diese selbstgefällige Anerkennung käme ja einer symbolischen Gegengabe gleich –, sondern ihre Gabe gibt es bereits dann nicht mehr, wenn sie sich ihrer Absicht zu geben bewußt wird. Mit jeder Einsicht in die Intentionalität der Gabe und jeder Form der Interpretation der Gabe als Gabe verliert die Gabe ihren Gabencharakter. Oder – um das hier ansonsten nicht entfaltete Hauptthema von Derridas "Donner le temps"[14] wenigstens anklingen zu lassen: Das Präsent darf nicht als solches präsent sein. Eine Gabe kann es nur geben als "Gabe ohne Gegenwart" (49ff.)[15]. Zum Ereignis werden kann sie nur in dem Augenblick, der die Zeit anhält, den Kreislauf der Reziprozität unterbricht. "Folglich gibt es keine Gabe, wenn es keine Gabe gibt, aber eine Gabe gibt es auch dann nicht, wenn es eine Gabe gibt, die vom andern als Gabe gewahrt oder bewahrt wird; in jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr" (26) – lautet darum das paradoxe Fazit. J. Derrida scheint seine Phänomenologie der Gabe bis zur Selbstaufhebung des Phänomens vorangetrieben zu haben. Wie aber kann es Gabe geben, wenn sie durch jede Form ihrer Präsentation – wiederum in dem doppelten Sinne ihrer Vergegenwärtigung wie ihrer Wahrnehmung als Geschenk – annulliert wird? Unter welcher Bedingung ist Gabe überhaupt noch möglich?

Wenn sie weder dem Geber noch dem Gabenempfänger bewußt sein darf, müssen beide "sie augenblicklich vergessen" (28); und dieses Vergessen muß so radikal sein, dass es sich selbst vergißt. Es genügt also nicht ein Vergessen, das verdrängt, denn ein solches verschiebt die Erinnerung an die Gabe als Gabe nur und bewahrt sie so gerade an einem anderen Ort auf. Nur ein "absolutes Vergessen" kann die Selbstannullierung der Gabe verhindern – ein Vergessen, "das absolviert, absolut loslöst und entbindet, unendlich mehr folglich als die Entschuldigung, die Vergebung oder die Freisprechung" (28). Das absolute Vergessen befreit aus dem ökonomischen "Teufelskreis" von Gabe und Gegengabe, von Schuld und Wiedergutmachung, von Dank und Pflicht. Es bricht das System von "Gabe-gegen-Gabe" auf. Das sich selbst vergessende Vergessen der Gabe ist aber nicht nichts. Es setzt die zu vergessende Gabe voraus. Ihre Spuren hat es nicht verwischt. Es kann Gabe geben.

Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe hat Folgen für eine Wissenschaft von der Gabe wie für die Praxis der Gabe. Wenn mit der Präsenz der Gabe ihr Gabencharakter ausgelöscht wird, dann kann es keine Theorie der Gabe geben. Es liegt in der Logik der Gabe, dass jeder Gabendiskurs, der die Gabe präsent/zum Präsent macht, seine Sache zwangsläufig verfehlen muß. Ein Denken der Gabe gibt es nur, "indem man sich auf es einläßt [...], ihm etwas von sich läßt und zum Pfand gibt; selbst auf die Gefahr hin, in den zerstörerischen Kreis einzutreten, muß man versprechen, sein Wort geben" (45).

An die Stelle einer Theorie der Gabe tritt bei Derrida der Versuch, "eine Art transzendentale Illusion der Gabe zu denken" (44). Um eine transzendentale Illusion handelt es sich hier, weil es die Gabe, die es gibt, nicht gibt, weil es keine reine Gabe, keine Gabe ohne Schuld gibt, weil man mit jedem Gabeereignis riskiert, in den schuldbehafteten Zirkel von Gabe und Gegengabe hineinzugeraten. Aber gerade weil man dieser Gefahr nicht entgehen kann, kommt es darauf, die Gabe zu denken, also zu wissen, was man tut, wenn man gibt: "So wisse denn auch noch, was geben sagen will, wisse zu geben, wisse, was du willst und sagen willst, wenn du gibst, wisse, was du zu geben intendierst, wisse, wie die Gabe sich annulliert, laß dich ein, selbst wenn dieses Sicheinlassen [...] eine Zerstörung der Gabe durch die Gabe ist, gib du der Ökonomie ihre Chance" (45). Der Ökonomie – und das heißt ja: dem Gabentausch – eine Chance geben und darin zugleich, wenn es denn um eine transzendentale Illusion geht, den ökonomischen Kreislauf von Gabe-gegen-Gabe unterbrechen, ihn aufzubrechen durch eine Bewegung, die von außen in ihn einbricht. Es gibt Gabentausch[16], aber die Gabe bewahrt, wenn es sie gibt, der kreisförmigen Zirkulationsbewegung gegenüber, mit der die Gabe zu ihrem Ursprung zurückkehrt, etwas Fremdes. Sie fügt sich nicht völlig in den zirkulären Gabentausch, unterbricht die Rückkehrbewegung des Gegebenen zu seinem Ursprung und eröffnet so einen Ausweg aus der Schuld, in die das Tauschsystem jeden Gabenempfänger (und Geber) stürzt.

Sich der Anordnung der Gabe, dem Imperativ "Gib!" nicht zu entziehen und doch um die Unmöglichkeit der Gabe zu wissen – Derridas Dekonstruktion der Gabe klärt nicht nur darüber auf, was wir im Geben von Gaben tun, sondern versucht, mit der Einsicht in die "Rückkehrlosigkeit der Gabe " (68) die Totalität des Gabentausch-Systems aufzusprengen und das Anökonomische der Gabe zu bewahren.

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[1] M. Mauss, Gabe, 157.

[2] Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt a. M. 1997/Darmstadt 1998, 46f. Der 21. Aphorismus über das Verlern(thab)en des Schenkens trägt den Titel "Umtausch nicht gestattet" und ist heute mehr denn je von provokativer Aktualität, fehlt doch bei fast keinem Einkauf von Geschenken der freundlich gemeinte, allemal geschäftstüchtige Hinweis: "Sie/er kann es natürlich umtauschen." Können Schenkende (und Beschenkte) das wirklich wollen!? Auch die zunehmende Praxis, Gutscheine zu verschenken, die das Schenkrisiko radikal zu mindern sucht (die Notwendigkeit des Umtauschs bei Nichtgefallen fällt weg, weil die Beschenkten innerhalb eines bestimmten Angebots ihr "Geschenk" selbst auswählen), wäre im Licht von Adornos Aphorismus neu zu bedenken. (Wann) ist ein Gutschein ein Geschenk?

[3] In der Beschreibung der aristokratischen Tugend der Freigebigkeit erklärt Aristoteles, dass es "mehr zur Tugend [gehört], daß sie in der rechten Weise handelt, als daß sie in der rechten Weise leidet, und es ist ihr eigentümlicher, das Gute zu tun, als das Schlechte zu meiden. Nun gehört aber offenbar das Geben auf die Seite des richtigen Handelns und der Vollbringung des Guten, das Nehmen und Empfangen dagegen auf die Seite der rechten Art des Leidens und der Vermeidung des Schlechten" (Eth nic IV,1,1120a; zitiert nach: Aristoteles, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, Philosophische Bibliothek Bd. 5, Hamburg 41985, 74,12-16).

[4] Vgl. 1Clem 2,1; Did 4,5; Barn 19,9); dazu Gerd Theißen, "Geben ist seliger als nehmen" (Apg 20,35). Zur Demokratisierung antiker Wohltätermentalität im Urchristentum, in: Kirche, Recht, Wissenschaft. Festschrift für Albert Stein, hrsg. von Andrea Boluminski, Neuwied 1995,195-215.

[5] Plut. Mor 778C-D (zit. nach G. Theißen, Geben, 202).

[6] Vgl. besonders den Gabentisch, den J. Starobinski gedeckt hat: Gute Gaben, schlimme Gaben.

[7] Vgl. dazu die "Phänomenologie des Schenkens" von H. Berking, Schenken, bes. 13-59.

[8] Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993, 54 (frz. Original: Donner le temps 1.: La fausse monnaie, Paris 1991). Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die deutsche Übersetzung.

[9] Der Gabe des Todes – vgl. "donner la vie" (das Leben geben, gebären) und "donner sa vie" (sein Leben hingeben/opfern) mit "donner la mort" (töten) und "se donner la mort" (sich das Leben nehmen) –  hat J. Derrida eine eigene Studie gewidmet: "Den Tod geben", in: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, hrsg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M. 1994, 331-445 (frz. Original: "Donner la mort", in: L’éthique du don. Jacques Derrida et la pensée du don, hrsg. von Jean-Michel Rabaté und Michael Wetzel, Paris 1992, 11-108).

[10] A.a.0., 60.

[11] Bei M. Mauss waren es – neben dem Hinweis auf die semantische Ambivalenz der Gabe als Gift/gift – besonders die agonistischen Formen des Gabentauschs, der Potlatsch und der Kula, in denen sich die Ambivalenz sowohl der Gabe wie des Gebens dokumentierten, sei es im gegenseitigen Überbieten in der Zahl, Größe und Wert der Geschenke bis hin zum förmlichen Zu-Tode-Schenken oder in der demonstrativen Zerstörung selbst der kostbarsten Gegenstände, mit der Macht und Prestige unter Beweis gestellt wurden.

Auch Bernhard Waldenfels widmet in seiner Antwort auf die Mauss-Lektüre von Derrida der "Ambivalenz der Gabe" einen eigenen Abschnitt: Das Un-ding der Gabe, in: Einsätze des Denkens, a.a.0., 385-409, hier: 402-407.

[12] Zur Rezeption der Gabe-Motive im Werk Derridas vgl. den Sammelband "Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida", hrsg. von Michael Wetzel und Jean-Michel Rabaté, Berlin 1993, und die Beiträge von Herman Rapaport, Hans-Dieter Gondek, Uwe Dreisholtkamp und Bernhard Waldenfels in: Einsätze des Denkens, a.a.0., 40-59.183-225.287-307.385-409.

[13] Wenn B. Waldenfels diese Definition für unzureichend hält, weil Derrida faktisch mit einem erweiterten Axiom der Gabe arbeite: "Irgendeiner gibt irgend etwas irgendeinem anderen in der Erwartung, dass er etwas (Gleichwertiges) zurückbekommt" (Un-ding der Gabe, 389), dann setzt er hier das, was Derrida das semantische Vorverständnis der Gabe nennt, und die ökonomische Zirkulation der Gaben, wie sie Derrida in den einschlägigen Diskursen findet, in eins. Derrida will aber beides unterschieden wissen. Die umgangssprachliche Semantik liefert ihm gerade den Einspruch gegen die Identifikation von Gabe und Gabentausch. Er beharrt darauf, dass unser Vorverständnis des Wortes "Gabe" keinen Hinweis auf die Kopräsenz der (Verpflichtung zur) Gegengabe enthält.

[14] Durch die Vertauschung von Haupt- und Untertitel in der deutschen Übersetzung "Falschgeld. Zeit geben I" gegenüber dem französischen Original "Donner le temps 1.: La fausse monnaie" kann leicht übersehen werden, dass das Buch nicht nur eine Relektüre von Mauss' Essay, sondern mehr noch ein durchgängiges Gespräch mit Martin Heideggers "Sein und Zeit" (1927) darstellt. Allein der Begriff "Datum" verrät schon, wie konstitutiv Zeit und Gabe zusammenhängen.

[15] Die französische Formulierung "don sans présent" ist doppeldeutig; sie heißt "Gabe ohne Gegenwart" wie "Gabe ohne Geschenk".

[16] "Das Phänomen läßt sich so wenig leugnen wie das, was auf der Phänomenebene eben wie ein Tausch von Gaben aussieht, sich so präsentiert. Aber der offenkundige und sichtliche semantische Widerspruch zwischen der Gabe und dem Tausch muß problematisiert werden" (Falschgeld, 54).

 


© PD Dr. Magdalene L. Frettlöh