I. Angabe: Die Rückkehr der milden Gabe
II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
1. Der Geist (in) der Gabe und die freiwillige Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern – Marcel Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe
3. Die Gabe, die keine ist – J. Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe
4. Vom Geben, das in der Gabe nicht aufgeht - B. Waldenfels' Phänomenologie von Geben und Nehmen
III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt
1. "Wir teilen euch die charis Gottes mit ..." - oder: Grazie, der Inbegriff göttlichen und menschlichen Gebens
2. "... auf dass Gleichheit entstehe!" - oder: die Kollekte als diakonia
3. "... und sie sehnen sich nach euch!" - oder: die Kollekte als koinonia
4. "... auch Überfluß für Gott!" - oder: die Kollekte als leitourgia
IV. Zugabe: Geben, was man nicht hat
Milde Gaben können die, denen sie zugedacht werden, beleidigen, kränken, erniedrigen – diese Einsicht ist wohl ebenso alt wie die Gabe selbst; nicht zuletzt damit mag die im Allgemeinen positive Konnotierung des Gebens zusammenhängen, die Überzeugung, dass es sich bei der Gabe um ein Gut handele, sowie eine weitverbreitete moralische Höherbewertung des Gebens gegenüber dem Nehmen, wie sie die Nikomachische Ethik des Aristoteles lehrt[3] und für die sich Theologie und Kirche gern auf die antike Wohltätermaxime "Geben ist seliger denn nehmen." berufen – ein Sprichwort, das in Apg 20,35 sogar mit der Autorität Jesu und des Paulus versehen wird[4]. Plutarch überliefert in seinen Moralischen Schriften als Überzeugung und Beobachtung Epikurs: "Gutes zu tun ist nicht nur schöner, sondern auch angenehmer, als Gutes zu empfangen. [...] Häufiger schämen sich die Menschen, Gutes zu empfangen, aber immer freuen sie sich, Gutes zu tun."[5]
Was als Wohltat gemeint sein mag, kann mehr Schaden als Nutzen anrichten. Aus Angst vor der Demütigung, zum Almosenempfänger zu werden, will man sich lieber nichts schenken lassen, möchte sich wenigstens die Würde erhalten, das Lebensnotwendige durch eigene Leistung selbst zu verdienen. Das führt nicht selten dazu, aus Scham nicht einmal das in Anspruch zu nehmen, was einem von Rechts wegen zusteht. Die eigene Not und Bedürftigkeit wird – so gut es geht – vor anderen verschwiegen und versteckt, um nicht zum Objekt ihrer "Wohltätigkeit" zu werden.
Aber auch für die Gebenden ist die milde Gabe nicht ohne Scham. Denn in den Augen der anderen und vor sich selbst will man nicht in den Verdacht kommen, gönnerhaft "von oben herab" zu handeln. Nicht jedem liegt die Mentalität eines Wohltäters, der vertikale Solidarität praktiziert. Doch auch ihre Verweigerung führt nicht aus dem Dilemma heraus: Ob man nun die Spende überwiesen oder das Überweisungsformular in den Papierkorb geworfen, ob man einige Münzen hervorgekramt hat oder mit einem stummen Kopfschütteln davongeeilt ist – das zwiespältige Empfinden bleibt. Schon die lapidare Bitte "Hast'e mal 'ne Mark?!" ruft die Sorge um den Mißbrauch der eigenen Gabe auf den Plan. Und auch der das Zurückhalten der Gabe sekundär rationalisierende Gedanke, dass die eigene Spende nur ein Tropfen auf den heißen Stein gewesen wäre und so das wahre Elend womöglich noch verlängert hätte, statt seine Ursachen zu bekämpfen, kann nicht beruhigen.
Um die Scham der Gebenden und der Nehmenden zu überwinden oder wenigstens zu mindern, haben sich mehr oder weniger wirksame Bewältigungsstrategien, auch gegenläufige, auf beiden Seiten ausgebildet:
Den SpenderInnen kann es entgegenkommen, wenn die Spende Teil eines (dafür erhöhten) Kaufpreises ist, der für eine Ware bezahlt wird, die sie auch sonst erworben hätten, etwa beim Kauf von Wohlfahrtsbriefmarken, von Artikeln aus dem Sortiment gemeinnütziger Organisationen wie zum Beispiel Grußkarten von Unicef oder von Eintrittskarten für ein Benefizkonzert ihrer Lieblingskünstler zugunsten von Katastrophenopfern. Für einen guten Zweck, so heißt es dann, gibt man gern etwas mehr aus. Die milde Gabe verschwindet im Kaufpreis; der den Briefmarken oder Gruß- und Eintrittskarten eingeschriebene gemeinnützige Zweck mindert das Gefühl der besonnenen guten Tat und des Vergnügens nicht – im Gegenteil.
Die Entlastung für die Gebenden nimmt ab, je weniger freiwillig der käufliche Erwerb von Waren ist, mit dem sich eine Spende verbindet. Dass zum Beispiel Selbsthilfeorganisationen eigene Produkte verkaufen, soll und mag ihren Mitgliedern das Gefühl geben, für ihren Lebensunterhalt (zumindest teilweise) selbst aufzukommen und nicht (nur) auf Almosen angewiesen zu sein. Für die Spendenden allerdings sind die erworbenen Produkte oft überflüssig oder nutzlos. Sie erwerben sie meist nicht aus eigenem Bedarf oder wirklichem Interesse an den Menschen, die sie hergestellt haben, sondern fühlen sich eher moralisch zum Kauf genötigt. Ein ungutes Gefühl bleibt, wenn man freiwillig-unfreiwillig die monatliche Zeitung der lokalen Arbeitsloseninitiative kauft, sie aber doch nicht liest, wenn man die von behinderten Menschen gemalten Karten und Kalender, die einem unaufgefordert in regelmäßigen Abständen zugesandt werden, nicht zurückschickt, sondern der beigefügten Zahlungsaufforderung nachkommt, um dann den Kalender doch nicht aufzuhängen und die Karten nicht zu verwenden. Auch die unter den Kaufpreis gemischte Spende verliert ihre Probleme nicht.
Der Beschämung der GabenempfängerInnen scheint man in jüngster Zeit zunehmend dadurch vorbeugen zu wollen, dass die milde Gabe selbst schon den Status einer Gegengabe erhält: den Spendenaufrufen sind als kleine Geschenke nicht selten Adreßaufkleber oder -karten beigefügt. Eine praktische Idee, mag man sich denken, denn wer kann diese nicht gebrauchen (falls Name und Anschrift korrekt geschrieben sind). Die kleine Vor-gabe gibt sich meistens ausdrücklich bescheiden aus gegenüber der zu erwartenden Spende. Sie wird bewußt heruntergespielt und hat doch eine deutliche Botschaft: Dem potentiellen Spender wird sein Name in vielfacher Ausfertigung geschenkt, was ihm signalisieren soll, dass er sich (s)einen Namen machen kann mit seiner Gabe: je größer die Spende, desto größer sein Name. Einen ähnlichen Zweck mögen aus gemeinsamer Initiative verschiedener Medien entstandene Spektakel haben, die aus Anlaß von (inter)nationalen Katastrophen ein Forum zur Austragung eines Spendenwettkampfs bieten. Hier wird die Spende zur Gegengabe für die von vornherein garantierte öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung, für den Prestigegewinn der SpenderInnen.
Solche Veranstaltungen muten an wie eine säkularisierte Variante früherer Verheißungen vielfachen himmlischen Lohns für irdische Wohltätigkeit, die nicht nur zur Freigebigkeit motivieren sollten, sondern auch die EmpfängerInnen milder Gaben davon entlasten konnten, sich ihren WohltäterInnen gegenüber schuldig zu fühlen – eine Funktion, die längst schon das Finanzamt, das steuerliche Begünstigung für Spenden an als gemeinnützig anerkannte Einrichtungen garantiert, und Fernsehlotterien, die für kleine Spendenlose große Gewinne in Aussicht stellen, übernommen haben ...
Die milde Gabe macht unübersehbar, dass die grundsätzliche Ambivalenz der Gabe nicht so sehr darin besteht, dass es gute und böse Gaben[6] gibt, was schon durch die sprachliche Verwandtschaft von Gabe und Gift, wie sie im englischen Wort "gift" zum Ausdruck kommt (aber auch in der "Mitgift" noch erhalten ist), angezeigt ist. Was die Gabe vergiftet, ist vielmehr die Schuld, die sich im Kreislauf des Gabentausches an sie heftet. Ihr gegenüber ist die Frage nach der Güte der jeweiligen Gaben zweitrangig.
Dass private und gesellschaftliche Konventionen die mit dem Schenken verbundenen Risiken und Unwägbarkeiten, Enttäuschungen und Mißverständnisse nur bedingt auffangen können, zeigt ebenso wie der obige Blick auf die Spendenaktionen, die die Scham der EmpfängerInnen wie der SpenderInnen vielleicht minimieren, aber nicht beseitigen können, daß mit der Gabe selbst etwas nicht stimmt, solange sie im Zirkel des Gabentausches verortet wird.
So wird es Jacques Derrida bei seiner Relektüre von Marcel Mauss' Essay "Die Gabe" zur Frage, "ob Gaben Gaben bleiben können, wenn sie getauscht werden"[8]. Derrida erinnert daran,
"daß geben zwar spontan als gut bewertet wird (es ist gut zu geben, und das, was man gibt, Präsent, Geschenk oder gift, ist ein Gut), dieses 'Gute' sich aber doch leicht ins Gegenteil verkehren kann: bekanntlich kann es als Gutes zugleich schlecht, böse, giftig sein (Gift, gift), und zwar von dem Moment an, wo die Gabe den anderen zum Schuldner macht, so daß geben darauf hinausläuft wehzutun, Böses zu tun [...], ganz abgesehen davon, daß man in einigen Sprachen genausogut sagen kann 'ein Geschenk geben' wie 'eine Ohrfeige geben', 'das Leben geben'[...] wie 'den Tod geben' (23).[9]
Das Geben wird zur Untat, die Gabe zum "Un-Ding"[10], indem sie zur Erwiderung der Gabe als Rückgabe des Empfangenen oder als entsprechende Gegengabe verpflichtet. Derrida radikalisiert die Einsicht in die Ambivalenz der Gabe[11] zur Frage nach ihrer Möglichkeit. Man mag seine Dekonstruktion der "Gabe-gegen-Gabe" (24) für überzogen halten – sie bleibt das Nadelöhr, durch das auch eine Theologie der Gabe gehen muß, will sie nicht die Geschichte der Schuld, die sich gerade auch mit den Gaben kirchlicher Wohltätigkeit verbindet, bedenkenlos fortschreiben.[12]3.
"Gabe gibt es nur, wenn es keine Reziprozität gibt, keine Rückkehr, keinen Tausch, weder Gegengabe noch Schuld. [...] Damit es Gabe gibt, ist es nötig, daß der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt. [...] Die Gabe als Gabe dürfte letztlich nicht als Gabe erscheinen: weder dem Gabenempfänger noch dem Geber. Gabe als Gabe kann es nur geben, wenn sie nicht als Gabe präsent ist. Weder dem 'einen' noch dem 'anderen'. Wenn der andere sie wahrnimmt, sie als Gabe gewahrt und bewahrt, wird die Gabe annulliert. Aber auch der, der gibt, darf davon nichts merken oder wissen" (22-25).
Das heißt aber, daß die Bedingungen der Möglichkeit von Gabe, nämlich die dreigliedrige Struktur des Gabeereignisses, zugleich als die Bedingungen ihrer Unmöglichkeit in den Blick kommen. Was die Gabe zur Gabe macht, zerstört sie auch bereits. Damit überhaupt von Gabe die Rede sein kann, darf die Gabennatur der Gabe weder von der Geberin noch von der Empfängerin erkannt werden. Auf Seiten der Empfängerin reicht es nicht, dass sie die Gabe ablehnt oder ihr auch nur die Anerkennung als Gabe, etwa in Gestalt von Dankbarkeit, verweigert. Wenn sie allein schon der Gabenbedeutung der Gabe gewahr geworden ist oder die Erinnerung daran bewahrt, dass ihr jemand etwas als Gabe geben wollte, gibt es keine Gabe mehr. Die Geberin annulliert die Gabe nicht erst dadurch, dass sie stolz auf ihre Freigebigkeit ist, dass sie sich ihre Gabe selbst zugute rechnet – diese selbstgefällige Anerkennung käme ja einer symbolischen Gegengabe gleich –, sondern ihre Gabe gibt es bereits dann nicht mehr, wenn sie sich ihrer Absicht zu geben bewußt wird. Mit jeder Einsicht in die Intentionalität der Gabe und jeder Form der Interpretation der Gabe als Gabe verliert die Gabe ihren Gabencharakter. Oder – um das hier ansonsten nicht entfaltete Hauptthema von Derridas "Donner le temps"[14] wenigstens anklingen zu lassen: Das Präsent darf nicht als solches präsent sein. Eine Gabe kann es nur geben als "Gabe ohne Gegenwart" (49ff.)[15]. Zum Ereignis werden kann sie nur in dem Augenblick, der die Zeit anhält, den Kreislauf der Reziprozität unterbricht. "Folglich gibt es keine Gabe, wenn es keine Gabe gibt, aber eine Gabe gibt es auch dann nicht, wenn es eine Gabe gibt, die vom andern als Gabe gewahrt oder bewahrt wird; in jedem Fall existiert und erscheint die Gabe nicht. Wenn sie erscheint, erscheint sie nicht mehr" (26) – lautet darum das paradoxe Fazit. J. Derrida scheint seine Phänomenologie der Gabe bis zur Selbstaufhebung des Phänomens vorangetrieben zu haben. Wie aber kann es Gabe geben, wenn sie durch jede Form ihrer Präsentation – wiederum in dem doppelten Sinne ihrer Vergegenwärtigung wie ihrer Wahrnehmung als Geschenk – annulliert wird? Unter welcher Bedingung ist Gabe überhaupt noch möglich?
Wenn sie weder dem Geber noch dem Gabenempfänger bewußt sein darf, müssen beide "sie augenblicklich vergessen" (28); und dieses Vergessen muß so radikal sein, dass es sich selbst vergißt. Es genügt also nicht ein Vergessen, das verdrängt, denn ein solches verschiebt die Erinnerung an die Gabe als Gabe nur und bewahrt sie so gerade an einem anderen Ort auf. Nur ein "absolutes Vergessen" kann die Selbstannullierung der Gabe verhindern – ein Vergessen, "das absolviert, absolut loslöst und entbindet, unendlich mehr folglich als die Entschuldigung, die Vergebung oder die Freisprechung" (28). Das absolute Vergessen befreit aus dem ökonomischen "Teufelskreis" von Gabe und Gegengabe, von Schuld und Wiedergutmachung, von Dank und Pflicht. Es bricht das System von "Gabe-gegen-Gabe" auf. Das sich selbst vergessende Vergessen der Gabe ist aber nicht nichts. Es setzt die zu vergessende Gabe voraus. Ihre Spuren hat es nicht verwischt. Es kann Gabe geben.
Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe hat Folgen für eine Wissenschaft von der Gabe wie für die Praxis der Gabe. Wenn mit der Präsenz der Gabe ihr Gabencharakter ausgelöscht wird, dann kann es keine Theorie der Gabe geben. Es liegt in der Logik der Gabe, dass jeder Gabendiskurs, der die Gabe präsent/zum Präsent macht, seine Sache zwangsläufig verfehlen muß. Ein Denken der Gabe gibt es nur, "indem man sich auf es einläßt [...], ihm etwas von sich läßt und zum Pfand gibt; selbst auf die Gefahr hin, in den zerstörerischen Kreis einzutreten, muß man versprechen, sein Wort geben" (45).
An die Stelle einer Theorie der Gabe tritt bei Derrida der Versuch, "eine Art transzendentale Illusion der Gabe zu denken" (44). Um eine transzendentale Illusion handelt es sich hier, weil es die Gabe, die es gibt, nicht gibt, weil es keine reine Gabe, keine Gabe ohne Schuld gibt, weil man mit jedem Gabeereignis riskiert, in den schuldbehafteten Zirkel von Gabe und Gegengabe hineinzugeraten. Aber gerade weil man dieser Gefahr nicht entgehen kann, kommt es darauf, die Gabe zu denken, also zu wissen, was man tut, wenn man gibt: "So wisse denn auch noch, was geben sagen will, wisse zu geben, wisse, was du willst und sagen willst, wenn du gibst, wisse, was du zu geben intendierst, wisse, wie die Gabe sich annulliert, laß dich ein, selbst wenn dieses Sicheinlassen [...] eine Zerstörung der Gabe durch die Gabe ist, gib du der Ökonomie ihre Chance" (45). Der Ökonomie – und das heißt ja: dem Gabentausch – eine Chance geben und darin zugleich, wenn es denn um eine transzendentale Illusion geht, den ökonomischen Kreislauf von Gabe-gegen-Gabe unterbrechen, ihn aufzubrechen durch eine Bewegung, die von außen in ihn einbricht. Es gibt Gabentausch[16], aber die Gabe bewahrt, wenn es sie gibt, der kreisförmigen Zirkulationsbewegung gegenüber, mit der die Gabe zu ihrem Ursprung zurückkehrt, etwas Fremdes. Sie fügt sich nicht völlig in den zirkulären Gabentausch, unterbricht die Rückkehrbewegung des Gegebenen zu seinem Ursprung und eröffnet so einen Ausweg aus der Schuld, in die das Tauschsystem jeden Gabenempfänger (und Geber) stürzt.
Sich der Anordnung der Gabe, dem Imperativ "Gib!" nicht zu entziehen und doch um die Unmöglichkeit der Gabe zu wissen – Derridas Dekonstruktion der Gabe klärt nicht nur darüber auf, was wir im Geben von Gaben tun, sondern versucht, mit der Einsicht in die "Rückkehrlosigkeit der Gabe " (68) die Totalität des Gabentausch-Systems aufzusprengen und das Anökonomische der Gabe zu bewahren.
[1] M. Mauss, Gabe, 157.
[2] Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951), Frankfurt a. M. 1997/Darmstadt 1998, 46f. Der 21. Aphorismus über das Verlern(thab)en des Schenkens trägt den Titel "Umtausch nicht gestattet" und ist heute mehr denn je von provokativer Aktualität, fehlt doch bei fast keinem Einkauf von Geschenken der freundlich gemeinte, allemal geschäftstüchtige Hinweis: "Sie/er kann es natürlich umtauschen." Können Schenkende (und Beschenkte) das wirklich wollen!? Auch die zunehmende Praxis, Gutscheine zu verschenken, die das Schenkrisiko radikal zu mindern sucht (die Notwendigkeit des Umtauschs bei Nichtgefallen fällt weg, weil die Beschenkten innerhalb eines bestimmten Angebots ihr "Geschenk" selbst auswählen), wäre im Licht von Adornos Aphorismus neu zu bedenken. (Wann) ist ein Gutschein ein Geschenk?
[3] In der Beschreibung der aristokratischen Tugend der Freigebigkeit erklärt Aristoteles, dass es "mehr zur Tugend [gehört], daß sie in der rechten Weise handelt, als daß sie in der rechten Weise leidet, und es ist ihr eigentümlicher, das Gute zu tun, als das Schlechte zu meiden. Nun gehört aber offenbar das Geben auf die Seite des richtigen Handelns und der Vollbringung des Guten, das Nehmen und Empfangen dagegen auf die Seite der rechten Art des Leidens und der Vermeidung des Schlechten" (Eth nic IV,1,1120a; zitiert nach: Aristoteles, Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes hrsg. von Günther Bien, Philosophische Bibliothek Bd. 5, Hamburg 41985, 74,12-16).
[4] Vgl. 1Clem 2,1; Did 4,5; Barn 19,9); dazu Gerd Theißen, "Geben ist seliger als nehmen" (Apg 20,35). Zur Demokratisierung antiker Wohltätermentalität im Urchristentum, in: Kirche, Recht, Wissenschaft. Festschrift für Albert Stein, hrsg. von Andrea Boluminski, Neuwied 1995,195-215.
[5] Plut. Mor 778C-D (zit. nach G. Theißen, Geben, 202).
[6] Vgl. besonders den Gabentisch, den J. Starobinski gedeckt hat: Gute Gaben, schlimme Gaben.
[7] Vgl. dazu die "Phänomenologie des Schenkens" von H. Berking, Schenken, bes. 13-59.
[8] Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben I. Aus dem Französischen von Andreas Knop und Michael Wetzel, München 1993, 54 (frz. Original: Donner le temps 1.: La fausse monnaie, Paris 1991). Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die deutsche Übersetzung.
[9] Der Gabe des Todes – vgl. "donner la vie" (das Leben geben, gebären) und "donner sa vie" (sein Leben hingeben/opfern) mit "donner la mort" (töten) und "se donner la mort" (sich das Leben nehmen) – hat J. Derrida eine eigene Studie gewidmet: "Den Tod geben", in: Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida-Benjamin, hrsg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a.M. 1994, 331-445 (frz. Original: "Donner la mort", in: L’éthique du don. Jacques Derrida et la pensée du don, hrsg. von Jean-Michel Rabaté und Michael Wetzel, Paris 1992, 11-108).
[10] A.a.0., 60.
[11] Bei M. Mauss waren es – neben dem Hinweis auf die semantische Ambivalenz der Gabe als Gift/gift – besonders die agonistischen Formen des Gabentauschs, der Potlatsch und der Kula, in denen sich die Ambivalenz sowohl der Gabe wie des Gebens dokumentierten, sei es im gegenseitigen Überbieten in der Zahl, Größe und Wert der Geschenke bis hin zum förmlichen Zu-Tode-Schenken oder in der demonstrativen Zerstörung selbst der kostbarsten Gegenstände, mit der Macht und Prestige unter Beweis gestellt wurden.
Auch Bernhard Waldenfels widmet in seiner Antwort auf die Mauss-Lektüre von Derrida der "Ambivalenz der Gabe" einen eigenen Abschnitt: Das Un-ding der Gabe, in: Einsätze des Denkens, a.a.0., 385-409, hier: 402-407.
[12] Zur Rezeption der Gabe-Motive im Werk Derridas vgl. den Sammelband "Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida", hrsg. von Michael Wetzel und Jean-Michel Rabaté, Berlin 1993, und die Beiträge von Herman Rapaport, Hans-Dieter Gondek, Uwe Dreisholtkamp und Bernhard Waldenfels in: Einsätze des Denkens, a.a.0., 40-59.183-225.287-307.385-409.
[13] Wenn B. Waldenfels diese Definition für unzureichend hält, weil Derrida faktisch mit einem erweiterten Axiom der Gabe arbeite: "Irgendeiner gibt irgend etwas irgendeinem anderen in der Erwartung, dass er etwas (Gleichwertiges) zurückbekommt" (Un-ding der Gabe, 389), dann setzt er hier das, was Derrida das semantische Vorverständnis der Gabe nennt, und die ökonomische Zirkulation der Gaben, wie sie Derrida in den einschlägigen Diskursen findet, in eins. Derrida will aber beides unterschieden wissen. Die umgangssprachliche Semantik liefert ihm gerade den Einspruch gegen die Identifikation von Gabe und Gabentausch. Er beharrt darauf, dass unser Vorverständnis des Wortes "Gabe" keinen Hinweis auf die Kopräsenz der (Verpflichtung zur) Gegengabe enthält.
[14] Durch die Vertauschung von Haupt- und Untertitel in der deutschen Übersetzung "Falschgeld. Zeit geben I" gegenüber dem französischen Original "Donner le temps 1.: La fausse monnaie" kann leicht übersehen werden, dass das Buch nicht nur eine Relektüre von Mauss' Essay, sondern mehr noch ein durchgängiges Gespräch mit Martin Heideggers "Sein und Zeit" (1927) darstellt. Allein der Begriff "Datum" verrät schon, wie konstitutiv Zeit und Gabe zusammenhängen.
[15] Die französische Formulierung "don sans présent" ist doppeldeutig; sie heißt "Gabe ohne Gegenwart" wie "Gabe ohne Geschenk".
[16] "Das Phänomen läßt sich so wenig leugnen wie das, was auf der Phänomenebene eben wie ein Tausch von Gaben aussieht, sich so präsentiert. Aber der offenkundige und sichtliche semantische Widerspruch zwischen der Gabe und dem Tausch muß problematisiert werden" (Falschgeld, 54).