500 Jahre Reformation

Eine selbstkritische Zwischenbilanz

©Foto: Achim Detmers

von Martin Laube

Die Vorbereitungen für die Feier des Reformationsjubiläums biegen auf die Zielgerade ein. Sie weisen nicht nur eine unverkennbar lutherische Fokussierung auf, sondern lassen zudem einen deutlich historisch ausgerichteten Erinnerungsschwerpunkt erkennen.

Musealisierung der Reformation

Nun ist eine historisierende Ausrichtung auf Stätten, Personen und Ereignisse der Reformationszeit zwar unverzichtbar. Gleichwohl trägt sie eine doppelte Gefahr in sich. Zum einen droht eine fortschreitende Musealisierung der Reformation – mit der Folge, dass das Jubiläum vorrangig zu einer Angelegenheit der jeweils zuständigen Tourismusabteilungen wird. Die Reformation selbst erhält damit zwangsläufig den Anschein eines bildungsbürgerlichmusealen Relikts: Was im Museum betrachtet wird, mag zwar wertvoll sein, ist aber nur noch Zeugnis einer fernen Vergangenheit. Zugespitzt formuliert: Überall ›Erinnerungsstätten‹ an die Reformation zu suchen und zu finden, bedeutet auch, sich von der Reformation zu distanzieren, sie als historisches Ereignis zugleich zu einem Ereignis von gestern zu erklären. Was historisch interessant ist, muss nicht notwendig für die eigene Gegenwart lebendig sein.

Fragwürdiger Affirmationsgestus

Das erklärt das deutliche Bemühen der verantwortlichen Akteure, die anhaltende Gegenwartsbedeutung der Reformation herauszustellen. Doch hier lauert nun die zweite Gefahr: Gegenwartsorientierte Beschäftigungen mit der Reformation vollziehen sich zumeist im Modus einer normativen Aktualisierung ihres religiösen Kerns. Gerade ein solcher Affirmationsgestus ist jedoch hochgradig fragwürdig, da er sich damit begnügt, der eigenen Gegenwart lediglich eine Aktualisierung der als ›reformatorisch‹ proklamierten Entdeckungen und Einsichten anzuempfehlen – ohne die Abständigkeiten auch des Reformatorischen zu beachten, die Ambivalenzen und Schattenseiten mitzuberücksichtigen, das durch den Graben der Neuzeit tiefgreifend veränderte Selbst- und Weltverständnis der Gegenwart ernst zu nehmen. Wohlgemerkt: Ohne geschichtliche Kontinuitätsnarrative kommt keine evangelische Selbstverständigung aus; gleichwohl droht auf diese Weise eine normativ-hagiographische Versteinerung der Reformation.

Ecclesia reformata semper reformanda

Nun passt, anders als im Luthertum, die Feier eines Reformationsjubiläums ohnehin nur sehr bedingt zum reformierten Selbstverständnis. Schließlich gehört zu den charakteristischen Kennzeichen reformierten Christseins gerade die entschiedene Relativierung aller Traditionsorientierung oder gar -verehrung. An die Stelle der Rückbindung an die Ursprünge der Reformation tritt der Grundsatz Ecclesia reformata semper reformanda. Die Reformation ist kein abgeschlossenes Ereignis der Vergangenheit, das lediglich getreu zu bewahren wäre. Nach reformiertem Selbstverständnis ist sie vielmehr eine ständig neu in Angriff zu nehmende Aufgabe. Vor diesem Hintergrund besteht der spezifisch reformierte Beitrag zum Reformationsjubiläum darin, dem skizzierten Erinnerungsschwerpunkt eine andere Stoßrichtung zu verleihen: Es geht nicht um eine vergewissernde Aktualisierung der Reformation, sondern um eine selbstkritische Zwischenbilanz im Dienst ihrer lebendigen Weiterführung.

Nebenfolgen und Problemlasten

In der Durchführung bedeutet das, weniger die theologischen, kirchlichen oder weltgeschichtlichen Errungenschaften der Reformation in den Blickpunkt zu rücken als vielmehr selbstkritisch danach zu fragen, (1) ob und in welcher Weise diese Errungenschaften auch Kehrseiten mit sich gebracht haben und (2) ob und in welcher Weise die Antworten der Reformationszeit noch auf die Fragen der Gegenwart passen. Ohne Zweifel erweisen sich viele Traditionen des reformierten Protestantismus gerade für die Probleme und Fragen der spätmodernen Gesellschaft als anschlussfähig und attraktiv. Das gilt etwa für den Widerspruch gegen den menschlichen Hang zur ›Kreaturvergötterung‹, aber auch für das kritische Bewusstsein um die Ambivalenz aller Bilder oder das Wissen um das ethische Orientierungsbedürfnis der Freiheit. Doch allzu vollmundige Fanfarenstöße sind ebenso eitel wie nutzlos. Unsere Verantwortung dafür, den Geist der Reformation in die Zukunft zu tragen, nötigt vielmehr dazu, den Blick weniger triumphalistisch auch auf Nebenfolgen und Problemlasten der eigenen Tradition zu richten.
Die Vorbereitungen für die Feier des Reformationsjubiläums biegen auf die Zielgerade ein. Sie weisen nicht nur eine unverkennbar lutherische Fokussierung auf, sondern lassen zudem einen deutlich historisch ausgerichteten Erinnerungsschwerpunkt erkennen.

Depotenzierung der Kirche

Die erste Frage nach den impliziten Kehrseiten der Reformation hat dabei nicht einfach nur ihre dunklen Schattenseiten im Sinn – wie etwa Luthers Stellung zu den Juden oder auch Calvins Verantwortung für die Hinrichtung Servets. Vielmehr zielt sie auf jene ambivalenten Folgen und Entwicklungen, die gleichsam den Preis der reformatorischen Errungenschaften darstellen. Dazu seien einige Beispiele genannt: Im Mittelpunkt der Reformation steht der Widerspruch gegen den Autoritätsanspruch der römischen Kirchenhierarchie, sich zwischen Gott und den Einzelnen drängen zu können. Im Gegenzug freilich hat diese Depotenzierung der Kirche zu einer prinzipiellen Fragilität des Verhältnisses zwischen kirchlicher Institution und individueller Frömmigkeit geführt. Sie findet ihren Niederschlag in der zersplitternden Vielfalt protestantischer Kirchen- und Gemeinschaftsbildungen.

Verschärfung der ethischen Ansprüche

Mit der reformatorischen Freisetzung der weltlichen Lebensführung aus dem Würgegriff kirchlicher Fremdbestimmung ist sodann ein neues Ethos des Christseins verbunden: An die Stelle der klösterlichen Weltflucht tritt der Aufruf zu aktiver Weltgestaltung. Vor allem die reformierte Tradition hat in diesem Sinne auch die Rechtfertigung weniger als Entlastung vom ›Tun-Müssen‹ denn vielmehr als Ansporn zum ›Tun-Können‹ verstanden. Auf der Kehrseite ergibt sich die Gefahr, dass die Aufwertung der alltäglichen Lebensführung in eine radikale Verschärfung der ethischen Ansprüche mündet. Zudem kann sich der Einzelne nicht mehr an die Kirche entlasten; er hat sein Leben nun je allein und für sich selbst vor Gott zu verantworten. In der Folge droht eine religiöse Überforderung: Die Kirche kann über das individuelle Gewissen zwar nicht mehr verfügen, es aber auch nicht mehr vertreten.

Auflösung einer evangelischen Lebensform

Ein letzter Punkt betrifft schließlich den Individualitätsgedanken. Stolz schreibt sich das evangelische Christentum auf die Fahne, mit seiner Betonung des je unmittelbaren Gottesverhältnisses die neuzeitliche Entdeckung des Individuums angestoßen und vorangetrieben zu haben. Mittlerweile hat die moderne Individualisierung jedoch zur weitgehenden Auflösung einer erkennbaren evangelischen Lebensform geführt. Die alle kirchlichen Bindungen hinter sich lassenden individuellen Frömmigkeitsformen vermögen aus sich heraus jene Bedingungen nicht zu regenerieren, die für ihren Fortbestand notwendig sind.

Passen die Antworten noch?

Nicht minder anspruchsvoll ist die andere Frage, ob und in welcher Weise die Antworten der Reformationszeit noch auf die Fragen der Gegenwart passen. Hier seien ebenfalls einige Beispiele genannt: Das sola scriptura gehört zu den klassischen Markenzeichen des Protestantismus. Doch welche Stellung hat das Schriftprinzip de facto in der
theologischen Arbeit und im Leben der Kirche? Die neuzeitliche Krise des Schriftprinzips ist in der Theologie noch unbewältigt; die Frage nach der Bedeutung der Schrift für die dogmatisch-theologische Arbeit gehört zu den großen Tabus der Gegenwart. Doch auch in der Kirche herrscht eine weitgehende Unsicherheit im Umgang mit der Schrift, wie der willkürlich ›garnierende‹ Schriftgebrauch in kirchlichen Verlautbarungen deutlich zeigt. Ein weiteres Beispiel betrifft den Rechtfertigungsgedanken: Er gilt zumeist als die zentrale reformatorische Grundeinsicht. Freilich erscheint er heute eigentümlich kraftlos und bietet gerade nicht mehr die lösende Antwort auf die Fragen und Sorgen unserer Zeit. Angesichts der spätmodernen Überfülle an Optionen und Möglichkeiten geht es nicht mehr um eine Entpflichtung vom ›Müssen‹, sondern um ein Inkraftsetzen zum ›Können‹. Der Freiheitszuspruch der Rechtfertigung wird heute weniger als Evangelium denn vielmehr als Gesetz empfunden – als eine zusätzliche Last, die für die riskante Aufgabe der praktischen Gestaltung dieser Freiheit nichts austrägt. Damit hängt ein drittes Beispiel zusammen: Die reformatorische Tradition hat – um des sola gratia der Rechtfertigung willen – göttliche Allwirksamkeit und menschliche Selbstbestimmung strikt einander gegenübergestellt. Es wäre zu überlegen, ob die religiöse Frage von heute nicht vielmehr darauf zielt, wie sich beide Seiten miteinander vermitteln lassen: Der Mensch möchte sein Leben zwar selbst führen, sich darin aber zugleich von Gott geführt wissen. Er möchte sein Leben selbst gestalten und doch zugleich Anteil gewinnen an einer dieses Leben ›rundenden‹ und aufhebenden göttlichen Erfüllung. Die theologische Aufgabe lautete dann, die Unhintergehbarkeit einer selbstbestimmten Lebensführung anzuerkennen und zugleich das Unbehagen an einer überlastenden Verabsolutierung dieser Selbstbestimmung aufzunehmen und zur Geltung zu bringen. Mit diesen wenigen Andeutungen muss es hier sein Bewenden haben. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, aber auch die Fruchtbarkeit der Aufgabe, auf dem Weg einer selbstkritischen Zwischenbilanz den Glutkern des reformatorischen Christseins in neuer Weise für die heutige Zeit zu entfachen.

 

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