Lieber Gott, mach mich fromm...

Aspekte reformierter Frömmigkeit

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von Margit Ernst-Habib

» Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm. Amen «


Schaut man sich in Büchern für Kindergebete oder gar den Weiten des Internets um, dann mag es überraschen, dass dieses traditionelle und etwas verstaubt anmutende Abendgebet immer noch höchst aktuell zu sein scheint. Viele Eltern geben es ihren Kindern mit auf den Weg und prägen auf diese Weise nicht nur das kindliche Verständnis vom »Lieben Gott«, sondern zudem auch das, was wir heute Frömmigkeitspraxis nennen. Darüber hinaus ist dieses Gebet weithin bekannt, wird vielfach zitiert, gerne auch karikiert. In seiner Schlichtheit und Unbedarftheit hat dieses Gebet, wie wohl kaum ein anderes volkstümliches Gebet, eine immense Wirkung in der Frömmigkeitsgeschichte entfaltet und bietet eine Projektionsfläche dafür, was fromm sein heute heißt.

Leider hat dieses Gebet uns dabei keinen wirklich guten Dienst erwiesen. Schauen wir es uns aus einer von reformierten Theologien und Traditionen (gerade auch Frömmigkeitstraditionen) geprägten Perspektive an, dann wird schnell deutlich, dass reformierte Frömmigkeit Gott, den Menschen und ihr Verhältnis zueinander an einigen Punkten deutlich anders versteht und lebt, als uns dieses Gebet nahelegt. Tatsächlich scheint das so unschuldig daherkommende Kindergebet gar an einigen Stellen dem Verständnis der Frohen Botschaft zu widersprechen, wie sie in den unterschiedlichen Strömungen und Formen reformierter Frömmigkeit gelebt und geglaubt wird. Nun ist reformierte Frömmigkeitspraxis ein weites Feld und nicht so leicht auf einen einheitlichen Nenner zu bringen; für die folgenden Überlegungen soll der Heidelberger Katechismus (HK), eines der wichtigsten Stücke reformierter Frömmigkeitsliteratur weltweit, als Gesprächspartner dienen, um ansatzweise aufzuzeigen, was zentrale Perspektiven und Aspekte reformierter Frömmigkeit ausmacht.

Lieber Gott,…

Dieser Gottesanrede würde keine reformierte Frömmigkeitspraxis und selbstredend auch der Heidelberger Katechismus nicht widersprechen wollen: Gott ist fundamental, unwiderruflich, in Leben und Sterben (HK 1), für uns der »liebe Gott«, d. h. der liebende Gott. Gott liebt uns, liebt die Welt so sehr, dass diese Liebe von nichts, auch nicht von unserem Tun und Lassen in Frage gestellt werden kann. Darauf können wir »herzlich vertrauen« und durch Jesus Christus dürfen wir Gott als »Unseren Vater« ansprechen, dürfen wissen und glauben, dass der allmächtige Gott mein Gott und mein getreuer Vater ist (HK 26).  Als reformierte ›Fromme‹ brauchen wir uns Gott nicht in Angst zu nähern, nicht in Sorge um unser eigenes Genügen oder Ungenügen, also das, was wir traditionell ›Sünde‹ nennen, sondern können uns getrost und dankbar an den Gott wenden, der unsere Sünde bereits vergeben hat. Und wenn reformierte Theologie und Frömmigkeit diesen Gott gleichzeitig als den Heiligen Gott versteht, der immer größer ist als unser Bild von ihm, dann bleibt doch die Gewissheit und Zuversicht bestehen, dass wir uns als Kinder Gottes verstehen dürfen (HK 120). Fromm-Sein ist damit nicht ein (mühseliger, entsagungsvoller, ängstlicher) Weg, sich Gott zu nähern und von unserer Seite aus ein Verhältnis zu einem fernen Gott herzustellen, sondern dankbares, befreites Leben in der Gemeinschaft mit Gott und in der Nähe Gottes, die Gott selbst zu uns bereits hergestellt hat.

mach mich fromm…

Das Wichtigste versteht das Kindergebet an dieser Stelle richtig: Es ist Gott, der uns fromm macht, nicht wir selbst! Auch die frömmsten Menschen kommen, so sagt es der Heidelberger Katechismus (HK 114.115), in diesem Leben nicht über einen geringen Anfang des ›Fromm-Seins‹, des Gehorsams hinaus. Wir sind nicht deswegen fromm, weil wir so christlich, so gut, so religiös, so bibelfest wären, sondern weil Gott uns durch seinen Heiligen Geist zum Ebenbild Gottes erneuert (HK 115), uns fromm macht – darum bitten wir im Gebet.

Spätestens an dieser Stelle wird sich allerdings vielen die Frage aufdrängen, ob sie sich selbst überhaupt als ›fromm‹ bezeichnen würden, ob sie überhaupt ›fromm‹ sein wollen. Im gegenwärtigen Sprachgebrauch sind mit diesem Wort heute ja eher negative Vorstellungen und Klischees verbunden: Fromme sind ernst, freudlos, moralistisch, zurückgezogen, als ›Frömmelnde‹ entweder naivlammfromm und weltabgewandt oder auch scheinheilig, selbstgerecht und heuchlerisch. Wer will schon in diesem Sinne ›fromm‹ sein? Und ist reformierte Frömmigkeitspraxis in diesem Sinne überhaupt ›fromm‹? Das Wort »fromm« hat tatsächlich einen entscheidenden Bedeutungswandel durchlaufen, den wir im Hinterkopf behalten müssen; während wir fromm im gerade geschilderten Sinne häufig (miss-) verstehen, deckte dieses Wort ursprünglich einen ganz anderen Vorstellungsbereich ab und meinte früher eher nützlich, tugendhaft, rechtschaffen, tüchtig. Darin trifft es sich viel eher mit dem Verständnis eines christlichfrommen Lebens, wie es uns auch der Heidelberger Katechismus vorstellt. Fromm sein heißt nicht, sich von der Welt abzuwenden, sondern in der Welt Gottes Namen zu heiligen (HK 122) – in unserem ganzen Leben, in unseren Gedanken, in unseren Worten und Werken. Zu reformierter Frömmigkeitspraxis gehören sicher (und sogar zentral) Bibellese, Gebet und Andacht, aber auch unser ganz alltägliches Leben in unseren Berufen, in unserem Engagement in Gesellschaft und Politik, in so scheinbar banalen Angelegenheiten wie etwa dem Einkaufen fair gehandelter Waren oder energiesparendem Verhalten. Fromm zu sein heißt dann, »vom Glauben an Gott geprägt« (so der Duden) und im Vertrauen auf Gott (so der Heidelberger) alle Aspekte menschlichen Lebens froh und dankbar zu leben.

… dass ich in den Himmel komm.

Hier führt uns jetzt das Kindergebet, jedenfalls aus reformierter Perspektive gesehen, völlig in die falsche Richtung und das aus gleich zwei Gründen.

Zum einen: Frommes Leben ist, wie der Heidelberger Katechismus nachdrücklich betont, eine Gabe Gottes, die die befreiten und dankbaren Menschen Gottes leben dürfen. Frommes Leben besteht gerade nicht aus guten Werken, mit denen ich mir Pluspunkte bei Gott sammeln kann, mit denen ich sozusagen in meine Versicherung für ein Leben nach dem Tod einzahlen kann. Ganz ohne meinen Verdienst, so sagt es der Heidelberger (HK 60), schenkt Gott mir die Gerechtigkeit und Heiligkeit Christi (HK 61); darauf antworten die Frommen, mit einem Leben, das Gott gefällt und das die Nächsten für Christus gewinnt (HK 86). Wir selbst und unser ›ewiges Leben‹ sind nicht Ziel und Motivation eines frommen Lebens – im Gegenteil, diese Art von Heilsegoismus lenkt vom eigentlichen Ziel christlichen Lebens ab, nämlich Gott und den Nächsten zu lieben (HK 93–115). Dabei ist der reformierten Frömmigkeit das ›Woher‹ christlichen Lebens (aus der Befreiung durch die Gnade und Liebe Gottes) mindestens ebenso wichtig wie das ›Wozu‹; und beide finden ihr Zentrum und ihre Mitte in Gottes treuem Bund mit den Menschen und der Schöpfung. Anders formuliert: Wir sind nicht fromm, damit wir in den Himmel kommen, sondern wir sind fromm, weil wir in den Himmel kommen. Das ist ein fundamentaler Unterschied im Frömmigkeitsverständnis, der allerdings unmittelbar auch ganz konkrete Auswirkungen hat: Welches Kind, das dieses schlichte Gebet betet, wird sich nicht von Zeit zu Zeit ängstlich fragen, ob es denn tatsächlich immer fromm genug ist, um in den Himmel zu kommen?

Zum anderen: Was heißt hier denn überhaupt »in den Himmel kommen«? Viele Kritiker des Gebetes und eines Frömmigkeitsverständnisses, wie es dieses Gebet wiedergibt, setzen genau hier mit ihrer Kritik an: Fromme Menschen kümmern sich danach nur um ihr ewiges Leben, das eigene, zukünftige Heil (»den Himmel«), während sie das Leben auf Erden mit all seinen Herausforderungen, Ungerechtigkeiten, Gaben und Aufgaben ignorieren. Dass diese Einschätzung die meisten frommen Menschen nicht wirklich trifft, sei einmal dahingestellt. Den Heidelberger Katechismus jedenfalls trifft dieser Vorwurf mit Sicherheit nicht; zwar spricht auch er vom ewigen Leben, kennt die Vorfreude auf die »vollkommene Seligkeit« (HK 58); sein Augenmerk ist aber viel stärker und entschiedener auf das Hier und Jetzt gerichtet. Der Trost des Heidelbergers ist eben gerade keine Vertröstung auf ein Später im Jenseits; seine getroste und geerdete Frömmigkeit ist vielmehr Ermutigung und Stärkung zum engagierten, dankbaren, befreiten, getrosten und fröhlichen Leben in der Welt und für die Welt – zur Ehre Gottes. Und in diesem Sinne können wir, wenigstens zum Teil, in das Kindergebet einstimmen: Lieber Gott, mach mich fromm…

 

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