'Wir haben das Sehnen in der Kirche fast verlernt'

Interview mit Prof. Dr. Magdalene Frettlöh


© Matthias Käser

"In der Hoffnungsschule Israels können wir auch auf das Unglaubliche hoffen lernen", sagt Prof. Magdalene L. Frettlöh im Gespräch mit Ursula Trösch. Magdalene L. Frettlöh ist Referentin in der Predigtwoche vom 27. November bis 3. Dezember 2017 in der Kirche Affoltern i.E.

U.T.: In unserer kommenden Predigtwoche (siehe Kasten) werden Sie Vorträge halten unter dem Thema "Es gibt mehr zu hoffen als zu glauben oder: mit Israels Propheten, den 'Hoffpoeten', sehnsüchtig warten auf ..." Weshalb dieses Thema?

M.F.: Dafür gibt es mehr als einen Grund. Zum einen ist es ja eine Art Fortsetzung der Besinnungswoche vor zwei Jahren. Da habe ich über ein mir wichtiges biblisches Hoffnungsmotiv, das Buch des Lebens, gesprochen. Und die Menschen, die in die Gottesdienste kamen, waren ganz Ohr. Sie haben mir zu verstehen gegeben, wie wichtig es ihnen ist, Hoffnung zugesprochen zu bekommen, begründete Hoffnung, nicht Illusion, sondern Hoffnung, die getrost und trotzig macht und nicht billig vertröstet. Nun möchte ich den Blick auf andere biblische Hoffnungsworte ausweiten ... Außerdem schreibe ich ja auch als Dogmatikerin an einer Hoffnungslehre, zu der im kommenden Jahr übrigens erst einmal ein Band mit Vorstudien erscheinen wird: "Nur um der Hoffnungslosen willen …".

U.T.: Ich finde den Titel, den Sie der Besinnungswoche gegeben haben, unglaublich spannend.

M.F.: Ja, im Titel steckt eigentlich schon das ganze Programm der Woche. "Es gibt mehr zu hoffen als zu glauben" – das habe ich vom Berliner Dogmatiker Friedrich-Wilhelm Marquardt gelernt, der sein ganzes Leben damit gerungen hat, ob christliche Theologie und Kirche angesichts ihrer Mitschuld an der Schoa, der Vernichtung des europäischen Judentums, überhaupt noch begründet hoffen dürften. Er hat seine Hörerinnen und Leser in die Hoffnungsschule Israels geschickt, wo wir auch auf das Unglaubliche hoffen lernen können und allemal gegen den Augenschein. Der jüdische Dichter Elazar Benyoëtz hat die Propheten Israels "Hoffpoeten" genannt. Und dann ist es mir wichtig, dass unsere Hoffnung sehnsüchtig sein darf, dass wir mit allen Fasern unseres Herzens und allen Poren unserer Haut hoffen dürfen. Beten wir wirklich noch mit sehnsüchtigem Herzen: "Dein Reich komme"?! Hoffen wir noch darauf, dass der Messias (wieder-)kommt und dass sich Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit weltweit durchsetzen?! Ich fürchte, wir haben das große, bange Sehnen in der Kirche fast ganz verlernt.

U.T.: Mir ist aufgefallen, dass in jedem Gottesdienst ein alt- und ein neutestamentlicher Text zum selben Thema zur Sprache kommen. Ist das Absicht?

M.F.: Na, klar! Ich will damit auch zeigen, dass die beiden Teile unserer Bibel untrennbar zusammengehören, dass das Neue Testament die unerfüllten Hoffnungen des Alten teilt und weiterschreibt. Die Hoffnungsinhalte des NT kommen aus dem AT; etwa die Offenbarung des Johannes ist eine einzige Collage aus alttestamentlichen Zitaten. Es gibt ja immer wieder Versuche, das AT als nicht so wichtig für christliche Theologie und Kirche anzusehen, es gar aus dem biblischen Kanon zu streichen. Doch was bliebe von unserer christlichen Hoffnung, wenn wir die Glut und das Feuer der alttestamentlichen Hoffnungstexte zum Erlöschen brächten?! Es stürbe mit ihnen auch das, was uns hoffen macht. Auch die Lieder, die wir singen werden, nähren sich aus der Hoffnung der ganzen Bibel. Und, das verrate ich schon mal, es wird uns durch die ganze Woche auch ein Propheten- Gedicht der jüdischen Dichterin Nelly Sachs begleiten …

U.T.: Was beschäftigt Sie im Moment am meisten, wenn Sie an unsere reformierte Berner Kirche denken?

M.F.: Das, was mich auch im Blick auf die Kirchen in Deutschland bewegt, nämlich dass Kirche zu sehr mit sich selbst beschäftigt sein könnte, in Leitbild-, Struktur- und Selbstoptimierungs-Debatten verstrickt, um ihre Mitgliederzahlen besorgt und auf ihr Image bedacht, und darüber ihren eigentlichen Auftrag vergisst, nämlich, so hat es das Barmer Bekenntnis 1934 auf den Punkt gebracht: die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk. Bei allen Um- und Aufbrüchen, Innovationen und Reformationen bleiben wir angewiesen auf diese alten Worte, mit denen Menschen getrost leben und sterben konnten. Für mich kommt beides im prophetischen Amt der Kirche zusammen. Dieses Amt stellt Kirche an die Seite der Entrechteten und Entmündigten, der Gedemütigten und Geknechteten, der Gequälten und Getöteten und lässt sie für diese Menschen ihre Stimme erheben. Darin ist sie dann Volkskirche, nämlich Kirche für die und mit denen, die der Christus seine geringsten Schwestern und Brüder genannt hat. Beim Berner Kirchenfest "Doppelpunkt 212 am 10. September war etwas zu spüren vom Aufbruch der Kirche als einer zumindest kleinen Prophetin des grossen Gottes.

U.T.: Mit welchen Fragen im Leben und Glauben, Denken und Handeln sind Sie sonst noch unterwegs?

M.F.: Vermutlich sind es ähnliche Fragen, die uns alle umtreiben und für deren Lösung wir nach Wegen aus der Gefahr suchen – große Fragen, die uns zumindest zu kleinen Schritten der Umkehr bewegen sollten: Wie können so dumme und narzisstische und darum hochgefährliche Politiker wie Donald Trump und Kim Jong-un, um nur zwei zu nennen, und all’ die Trumps und Kims unter uns zur Besinnung gebracht werden? Wie können wir den Flüchtlingen, die zu uns kommen, eine neue Beheimatung geben, ohne dass sie werden müssen wie wir? Wie können wir Vorurteilen und Parolen dumpfer Geschwätzigkeit mit dem besseren Argument begegnen? Wie können wir Menschen die Angst nehmen, beim Teilen mit Anderen zu kurz zu kommen. Aber auch: wie gehen wir mit Versagen und Schuld in unseren persönlichen Beziehungen um? Wie können wir mitarbeiten an einer Welt, in der etwas aufleuchtet von der Gnade und dem Schalom Gottes?

U.T.: Was macht Sie wütend?

M.F.: Wollen Sie das wirklich wissen? Entsetzlich viel!

U.T.: Zum Beispiel?

M.F.: Was mich grundsätzlich wütend macht, sind Lügen und Intrigen, Doppelzüngigkeit und Doppelmoral, Schweigen zu Unrecht und Unterdrückung, Buckeln gegenüber den Mächtigen und Treten nach unten, Opportunismus, Scheinheiligkeit und – himmelschreiende Dummheit! Und wenn Quantität für Qualität ausgegeben wird … Und alles, was man "um des lieben Friedens willen" tut bzw. dann eben meist nicht tut!

U.T.: Und im Moment ganz aktuell?

M.F.: Dass bei der Bundestagswahl in Deutschland vor wenigen Wochen die rechtspopulistische AfD (Alternative für Deutschland) drittstärkste Partei geworden ist, in Sachsen sogar stärkste, und dass manche meinen, nicht anders darauf reagieren zu können, als sich selbst Ratschläge bei rechten Stammtisch-Parolen zu holen, das Asylrecht einzuschränken, Massnahmen der sog. inneren Sicherheit zu verschärfen, deutsche Heimat als nationale Identität zu beschwören … Oder – etwas ganz Anderes? – dass der kluge Uwe Justus Wenzel nach 22 Jahren Mitarbeit im Feuilleton der NZZ (zuständig für Geisteswissenschaften) entlassen wurde. Oder, dass in Bologna-Zeiten die Uni zur Firma geworden ist, nicht länger mehr unbedingte Universität ist, in der nichts außer Frage steht …

U.T.: Und was stellt Sie auf?

M.F.: Anregende Gespräche und augenzwinkernde Blickwechsel mit klugen Menschen und hinreissenden Büchern, mich fesselnden Bildern und spannenden Filmen … Kritische Solidarität, Widerständigkeit und Trotz im Einsatz für Gerechtigkeit … ein gutes Essen mit einem kühlen Bier … ein Gedanke, der mich nicht mehr loslässt und sich zu einem Text fortschreibt … eine Vision, eine Utopie, die mir Hoffnung macht, dass nicht immer alles so weitergeht … ein heißes Bad an kalten Tagen … ausgiebig schlafen … Menschen, die etwas riskieren, um der Not anderer abzuhelfen … ein Abendspaziergang am Meer … das (fast) grenzenlose Vertrauen eines geliebten Menschen ...


Zur Person:

Seit 2011 Professorin für Systematische Theologie/Dogmatik und Religionsphilosophie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Die aus dem Wittgensteiner Land stammende reformierte Theologin hat in Bethel, Heidelberg und Bern studiert, war nach Vikariat und Pfarrdienst in Bielefeld 1992–94 wissenschaftliche Assistentin in Bern, danach in Bochum (1995-2003). Dort wurde sie 1998 mit der preisgekrönten Arbeit "Theologie des Segens" (Gütersloh 2005) promoviert. Ihre Habilitationsschrift "Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre" (Neukirchen-Vluyn 2009) wurde 2007 mit dem wiss. Förderpreis der Marga Bührig-Stiftung in Basel ausgezeichnet. Von 2006–2011 leitete sie den Kirchlichen Fernunterricht der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Themen materialer Dogmatik in reformierter Tradition (Bilderverbot, Erwählungslehre, Christologie, Eschatologie), die Theologie Karl Barths in der Postmoderne, der theologische Gender- Diskurs, neuere jüdische Religionsphilosophie, Studien zur Theologie des Segens, des Namens, der Gabe, des Raumes. Mitherausgeberin der Göttinger Predigtmeditationen, der Buchreihe "Jabboq" (Bd. 1–7, Gütersloh 2000–2007) und der Reihe "reformiert!" (seit 2013 im tvz); in der Reihe "Biblische Erkundungen" im Erev-Rav-Verlag: Worte sind Lebensmittel (2007); GOTT, wo bist DU? (2009); Ein Wort gibt das andere (2010); Mutuum colloquium. Gehörige Wechsel- und Widerworte Gottes und der Menschen (2016); gemeinsam mit Andreas Krebs und Torsten Meireis: Tastend von Gott reden. Drei systematisch-theologische Antrittsvorlesungen aus Bern, Zürich 2013.
 

U.T.: Mit was sind Ihre Tage derzeit am meisten ausgefüllt?

M.F.: Wir stecken mitten im Herbstsemester. Da haben für mich natürlich die Lehrveranstaltungen Vorrang, die Zusammenarbeit mit engagierten Studierenden, die es wissen wollen, was es mit Gott und der Welt und ihnen selbst auf sich hat, die neugierige Fragen stellen und sich nicht mit leichtfertigen Antworten abspeisen lassen, sondern nachbohren …; dazu kommt die intensive Begleitung und Begutachtung von Seminar- und Master- und Doktorarbeiten. Daneben gibt es leider aber auch viele Sitzungen, wenige konstruktive, viele ermüdende, und längst nicht alle wären nötig. Schön, wenn dann trotzdem Zeit bleibt für leidenschaftliche Gespräche im Team, aber auch konzentrierte Stunden am Schreibtisch, um viel zu lesen und eigene Texte zu schreiben, darunter auch Predigten für Affoltern.

U.T.: Die Besinnungswoche 2015 mit Ihnen hat unsere Gemeinde und auswärtige BesucherInnen sehr bewegt. Was hat im Rückblick Sie bewegt?

M.F.: Es ist ja für mich etwas ganz Außergewöhnliches, aber natürlich auch Anstrengendes, in Wochenfrist fünf Gottesdienste mit einer Gemeinde zu feiern. Gottesdienste, die ein Thema ins Zentrum stellen und in denen die Gemeinde von Mal zu Mal aufmerksam mitgeht und gespannt ist, wie es beim nächsten Mal weitergeht. Diese Spannung einer hellwachen Neugier mit vielen tiefen Augen-Blicken der Begegnung ist mir noch ganz gegenwärtig und ich hoffe, dass sie sich auch dieses Jahr wieder einstellt. Aber sie ist ein Geschenk der Heiligen Geistkraft. Wir können sie nicht selber machen. Lassen wir uns also überraschen. Aber auch das Thema, die biblische Gedenk- und Widerstandsmetapher vom "Buch des Lebens", lässt mich nicht los. Im kommenden Frühjahr werden übrigens die Affolterner Predigten und Gebete mit zwei anderen Texten über "das Buch als Arche" als Büchlein erscheinen.

U.T.: Welche Wünsche und Träume haben Sie für so kleine Kirchgemeinden auf dem Land wie Affoltern im Emmental?

M.F.: Diese kleinen Gemeinden – ich stamme ja selbst aus einer Landgemeinde – haben, so scheint mir, eine besondere Chance, Menschen Beheimatung zu schenken. Nicht einfach ein Abziehbild der Heimat, das viele in ihren Köpfen haben. Sondern eine Heimat auch für Heimatlose, mit Willkommenskultur für das Fremde und Befremdende, das Sorge macht oder gar Angst. Eine Beheimatung, die zugleich Spielräume der Freiheit eröffnet, einander zu entdecken, Neues auszuprobieren. Räume, in denen etwas möglich wird, was nicht immer schon so war, sondern sich anstiften lässt von den großen biblischen Utopien, nach denen etwa Säuglinge ungefährdet mit Giftschlangen spielen und Löwe und Ochse miteinander weiden … Da wird dann auf einmal Kirchenasyl möglich oder ein Heim für Flüchtlinge öffnet seine Tore … oder die Gemeinde wird zum Ort von Konfliktberatung und -schlichtung … oder sie gibt Menschen eine Chance, die andere längst abgeschrieben hatten, weil man hier weiss, dass Gott keinen Menschen verloren gibt … Möglich könnte das werden, wo brachliegende Begabungen entdeckt werden, schlummernde Talente, die es zu wecken gilt. Die biblischen Erzählungen und Verheißungen spielen ja oft in einer solchen ländlichen Welt. Darum sind sie auch für kirchliches Leben im Emmental voller Impulse, die Menschen Hoffnung machen – auch gegen den Augenschein.

U.T.: Herzlichen Dank für Ihr Engagement und - im Namen der Kirchgemeinde und aller, "die sehnsüchtig warten auf..." - wir freuen uns auf Sie und die verheissene Horizonterweiterung!


Besinnungswoche 2017 in der Kirche Affoltern i.E.:

Magdalene L. Frettlöh, Professorin für Systematische Theologie, Bern "Es gibt mehr zu hoffen als zu glauben - oder: mit Israels Propheten, den 'Hoffpoeten', sehnsüchtig warten auf ..."

Montag, 27. November, 20.00
... das Licht aus der Höhe, das im Todesschattenland aufleuchtet
Kirchenchor Sumiswald

Mittwoch, 29. November, 20.00
... das Reich der Gerechtigkeit und des Friedens für alle Geschöpfe
Jodlerchörli Weier

Donnerstag, 30. November, 13.30
... auf einen neuen, von Gottes Geist belebten Leib
Heidi Wenger, Viola; Renate Zaugg, Orgel

Freitag, 1. Dezember, 20.00
... das Ende von Not und Tod unter einem neuen Himmel auf einer neuen Erde
Marianne Bohnenblust, Querflöte; Markus Bucher, Oboe; Renate Zaugg, Orgel

Sonntag, 3. Dezember, 9.30

... auf den zurechtgebrachten Messias, Gottesdienst mit Abendmahl der nicht hoch zu Ross kommt Kirchenchor Affoltern
Kirchenkaffee nach jedem Anlass (ausser Sonntag)

Gratis Taxidienst Tel. 034 435 12 30  

Das Interview führte Ursula Trösch.