Abraham eint und (unter)scheidet III

Von Bertold Klappert

I. Abschied von Modellen der Trialog-Verhinderung
II. Der Gott Abrahams — der Gott Isaaks, Ismaels und der Völker
III. Jesus Christus bringt den Segen Abrahams in die Völkerwelt
IV. Die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch
V. Die Ethik der Nachfolge Abrahams
VI. Epilog: Das Dialog-Modell der Nachbarschaft und WEG-Gemeinschaft

V. Die Ethik der Nachfolge Abrahams 
These 5: In der Lebensbeziehung zum jüdischen Volk und zur Abraham-Gemeinschaft der Muslime nimmt die ökumenische Christenheit aus allen Völkern teil am WEG Abrahams und seiner Nachkommen: (1) an Abrahams Appell an den Richter aller Welt, Recht zu üben (Gen 18), (2) an Abrahams Kampf um die Rettung des einzelnen Menschenlebens, durch den er »Freund Gottes« genannt wird (Jes 41,8; Jak 2; Sure 9,35) und (3) an Abrahams Offenheit und Toleranz aus Identität, sich von Melchisedek (= »Mein König ist Gerechtigkeit«) segnen zu lassen. An die Stelle der Dialogmodelle der Exklusivität, Überlegenheit und Toleranz ohne Identität tritt so die Beziehung in Unterscheidung: (4) das Denken von den anderen her (E. Lévinas) und die Faszination durch den Reichtum und die Schönheit der anderen.

Abraham ist ein kritischer Maßstab für das Leben der Abraham-Nachkommen. Deshalb soll es zuletzt um die Skizzierung und den Abriß der gemeinsamen Aufgaben von Juden, Christen und Muslimen gehen. Nach dem Jakobusbrief wird Abraham wegen seines Tuns der Gerechtigkeit gerecht gesprochen. Wir aber haben seit der Reformation Luthers den Jakobusbrief theologisch verächtlich gemacht, ihn zu »einer strohernen Epistel« erklärt und uns dadurch im Protestantismus einer Ethik der Nachfolge Abrahams weitgehend nicht mehr gestellt. Nur Johannes Calvin hat sich in der Reformationszeit von der theologischen Kritik an Jakobus distanziert und einen bis heute wichtigen Kommentar zum Jakobusbrief geschrieben. Calvin wußte nämlich, daß die Rechtfertigung des gottlosen Menschen ohne Vorleistung die Gerechtsprechung seiner Werke im Endgericht nicht aufhebt oder überflüssig macht. Fr. Mußner hat 1964 seinen wegweisenden Kommentar zum Jakobusbrief auch als Wiedergutmachung gegenüber Jakobus dem Gerechten geschrieben und in der 5. Auflage durch ein Nachwort über das philosophische und theologische Thema »Der Andere« ergänzt [60]: »Wofür der Jude E. Lévinas philosophisch kämpft, nämlich die radikale Sicht ... des ‘Anderen’..., dafür kämpft auch der Jude Jakobus [61].«

Wie sieht diese Halacha, wie das Ethos dieses Gehens in der Nachfolge Abrahams aus? Was sind die gemeinsamen Aufgaben, in denen Juden, Christen und Muslime miteinander und zugunsten der ganzen Menschheit auf den Wegen Abrahams zusammenarbeiten können? Ich nehme mit diesen Ausführungen zuletzt auch das Thema der Aufklärung und das Anliegen Lessings positiv auf.

V.1 Der Kampf um menschliche Gerechtigkeit (Abrahams Appell an die Gerechtigkeit Gottes)
Wir haben bisher in den Teilen I - III von der Bedeutung von Gen 12 und 22 gesprochen: die Segensverheißung an Abraham (Gen 12) für Isaak, Ismael und Hagar und die Völkerwelt und den Weg der AQEDA Isaaks (Gen 22), wie ihn der Abraham-Sohn Jesus Christus in seinem Leiden und Gefoltertwerden in der Kreuzigung gegangen ist und geht.

Zwischen Gen 12 und Gen 22 steht aber Gen 18: der Appell Abrahams an die göttliche Gerechtigkeit und der Kampf Abrahams um die menschliche Gerechtigkeit. Rabbinische Exegese hat auf diesen Sachzusammenhang aufmerksam gemacht: Der AQEDA, d.h. der Bindung Isaaks in Gen 22, geht der Kampf Abrahams um das menschliche und physische Überleben Sodoms voraus. Dies ist ein Kampf um menschliche Gerechtigkeit, ein Appell an Gott als den Gott des Rechtes und der Gerechtigkeit: »Der aller Welt Richter ist, sollte der nicht (selbst) Recht üben?« (Gen 18,25)

Man vergleiche das eindrückliche Kapitel, das Smail Balic in seinem informativen Buch »Ruf vom Minarett« [62] geschrieben hat. Man kann dann verstehen, warum die großen jüdischen Lehrer des Mittelalters, darunter Yehuda Halevi (1085 - 1145) bis zu Leo Baeck (1873 - 1956), Christentum und Islam in ihrem ethischen Handeln für Gerechtigkeit und Recht als Wegbereitung für das Kommen des messianischen Reiches Gottes verstanden und anerkannt haben. Wir haben deshalb eine Ethik der Wegbereitung für das Kommen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit in der Nachfolge Abrahams, Jesu Christi und Muhammeds zu entfalten. Aus Gen 18 jedenfalls lernen wir: Abrahams Kampf um menschliche Gerechtigkeit ist ein Teil der Verwirklichung des Segens Abrahams für die Völkerwelt und die Menschheit.

Es ist öfters behauptet worden: Das Neue Testament kenne die alttestamentliche und muslimische Tradition von dem Kampf Abrahams um menschliche Gerechtigkeit nicht. Aber genau das Gegenteil ist der Fall: Die Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus und von Lazarus in Abrahams Schoß im Jesusgleichnis (Lk 16,11-31) ist ein leuchtendes und eindrückliches Dokument des Kampfes um menschliche Gerechtigkeit in der Nachfolge Abrahams.

W. Zimmerli wies bereits 1943 auf die Verwandtschaft der ethischen Sendung Muhammeds mit der prophetischen Verkündigung hin, insofern »für ihn (Muhammed) wie für jene (die alttestamentlichen Propheten) der praktische Beweis... (des Glaubens) im rechten und barmherzigen Verhalten zum Nächsten besteht«. So ist bei Muhammed die Forderung des rechten Verhaltens zum Nächsten stark betont: die Sorge für die Waisen, Speisung der Armen (Sure 89,18f; 107,1-3), Loskauf der Gefangenen (90,13). Und »wie unbedingt der Prophet (Muhammed) unter dieser Forderung Allahs lebt, zeigt sich darin, daß er ... den (kritischen) Anruf nicht verschweigt, der ihm selber von Allah zuteil geworden ist: Als er einmal einen armen Blinden, der geistlichen Rat von ihm wollte, um eines ungläubigen Reichen willen, mit dem er gerade redete, zurückwies, hörte er die Offenbarung der Sure ‘der Morgen’ (93,6ff): ‘Hat Er (Gott) dich nicht als Waise gefunden und dir Unterkunft besorgt und dich ... bedürftig gefunden und reich gemacht? So unterdrücke die Waise nicht und fahre den Bettler nicht an und erzähle von der Gnade des Herrn’ [63].« 

V.2 Die Ethik der Rettung des einzelnen Menschenlebens (Abraham — der Freund Gottes)
Der Kampf um die menschliche Gerechtigkeit ist nie nur global und allgemein, sondern immer zugleich konkret zu verstehen und individuell zu leben. Deshalb ist für die jüdische, muslimische und christliche Tradition der Nachfolge Abrahams charakteristisch, die Rettung des einzelnen Menschenlebens und den Einsatz für das einzelne Menschenleben deutlich zu akzentuieren: Die Rettung auch nur eines einzelnen Menschenlebens ist oberstes Gebot und darin Teilnahme am Abraham-Segen und Realisierung der Abraham-Nachfolge. Die Ethik der Gerechtigkeit für die Gesellschaft im ganzen erhält also ihre Nagelprobe in der Ethik der Verantwortung für das Menschenleben im einzelnen.

Für die jüdische Tradition muß hier auf die Rechtsoffenbarung am Sinai und den Talmud als Dokument einer großen sozialen Proklamation verwiesen werden; Leo Baeck schreibt in seiner Theologie des Judentums »Dieses Volk« Bd I 1955:
»Im Talmud bricht überall das Soziale hindurch... Jetzt verstand man es, wie eine ganz andere Stellung zu den sozialen Problemen durch die Bibel gegeben war: Die Gesetze in der Welt ringsumher — in der orientalischen, in der griechischen, der römischen Welt — waren geschrieben vom Standpunkte der Besitzenden aus: Dem Besitzenden sollte sein Besitzstand garantiert sein! Das alte biblische Gesetz, wie dann die Propheten es verkündeten, ist vom Standpunkt des Kleinen, des Schwachen, des Bedürftigen aus geschrieben. Das Schlußwort ist immer: ‘Armer..., dein Bedürftiger..., die Witwe..., die Waise.... damit sie leben können, und der Fremdling, der im Lande ist, leben kann’. Darum sind diese Gesetze gegeben. Ein ganz anderer Standpunkt ist eingenommen: Vom Standpunkte des Schwachen, des Bedürftigen, des Kleinen aus werden die Gesetze gegeben, werden sie immer neu verkündet und proklamiert [64].«

Für die christliche Tradition hat K. Barth in seiner Schrift »Christengemeinde und Bürgergemeinde« (1946) den Einsatz und den Kampf der Christen für Gerechtigkeit und Recht im Raum der Bürgergemeinde beschrieben. Ich zitiere hier schließlich den Koran, der mit der jüdisch-christlichen Tradition übereinstimmend lehrt: Wer einen Menschen getötet hat..., so ist es, als habe er die ganze Menschheit getötet. Wer aber auch nur eines Menschen Leben rettet, so ist es, als habe er die ganze Menschheit gerettet (Sure 5,32).

Diese Ethik der Verantwortung für den einzelnen und der Rettung des einzelnen Menschenlebens konkretisiert die Abrahamverheißung von der Segnung aller Menschen und realisiert sie für die ganze Welt. Im Neuen Testament finden wir einen dieser Aussage im Koran entsprechenden und für die Jesustradition höchst charakteristischen Text im Jakobusbrief:
»Was hilft es, Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe (wie Abraham) Glauben, aber keine Werke hat? Wenn da z.B. ein Bruder und eine Schwester unbekleidet und an der täglichen Nahrung Mangel leiden, (wenn sie gefangen sind und um Asyl nachfragen,) und jemand sagt von euch zu ihnen: Gehet hin in Frieden. Kleidet euch warm und esset euch satt, ihr gebt ihnen aber nicht, was für den Leib nötig ist, was hilft das? Du glaubst, daß es einen Gott gibt? Auch die Dämonen glauben das. Du siehst, daß der Glaube (Abrahams) zusammenwirkte mit seinen Werken. So aber glaubte Abraham Gott, und es wurde ihm zur Gerechtigkeit gerechnet, und er wurde ein Freund Gottes genannt« (Jakobus 2,14-26).

V.3   Der Kampf um die universalen Menschenrechte (Abraham und Melchisedek)
In diesem Kampf um die soziale Gerechtigkeit und um das individuelle Menschenrecht und Menschenleben in der Nachfolge Abrahams wissen sich Juden, Christen und Muslime mit allen Nichtjuden, Nichtchristen und Nichtmuslimen verbunden, die auch ihrerseits um die individuellen und sozialen Menschenrechte, wie sie in der Menschenrechtscharta der UNO dokumentiert sind, kämpfen [65]. Hier — im Kampf um die Rettung des Menschenlebens, der Menschenrechte und der Menschenwürde — gibt es ein praktisches Bündnis von Juden, Christen und Muslimen mit allen Menschen aus welchen Religionen und demokratisch-rechtsstaatlichen Traditionen bzw. demokratisch-sozialistischen Utopien sie auch sonst kommen mögen. Hier bekommt Lessings Plädoyer für Aufklärung und Humanität jenseits von Judentum, Christentum und Islam sein bleibendes Recht.

Aber Juden, Christen und Muslime nehmen — anders als es Lessing meinte und erhoffte — nicht aufgrund einer Toleranz ohne Identität, sondern aufgrund einer Toleranz aus jüdischer, christlicher und muslimischer Identität an diesem Kampf um die universalen Menschenrechte teil.

Goethe hat im West-Östlichen Divan diesen Zusammenhang der Gotteserfahrung bzw. ELOHIM-Offenbarung in den sog. monotheistischen Religionen mit Recht mit der Gerechtigkeitsforderung verbunden und also die Gerechtigkeits- und Menschenrechtsfrage zum Kriterium eines verantwortlichen Redens von Gott und Handelns in der Nachfolge Gottes gemacht: 
»Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident,
Nord und südliches Gelände, liegt im Frieden seiner Hände.
Er, der einzige Gerechte, will für jedermann das Rechte.
Sei von seinen hundert Namen dieser hochgelobet. Amen«

Entsprechend wird im Psalm 82 nicht bestritten, daß der Gott Israels in der Gottesversammlung, im Rat der Götter, steht (Ps 82,1). Wohl aber wird das Kriterium genannt, von dem her die ELOHIM, die Götter der Völker, beurteilt und an dem sie gemessen werden:

»Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? Seid Richter dem Geringen und helft dem Elenden und Dürftigen zum Recht. Rettet den Geringen und Armen und befreit ihn aus der Gewalt der Gottlosen« (Ps 82,2 - 4).

Dementsprechend hat das Judentum in der 11. Beracha-Bitte des Achtzehnbittengebetes die Wegbereitung auf das messianische Kommen des Reiches Gottes und seiner Gerechtigkeit in der Wiederaufrichtung des Rechtes erbeten und erhofft:
»Bringe unsere Richter wieder wie am Anfang und unsere Ratgeber wie zu Beginn. Laß von uns weichen Klage und Seufzen. Herrsche Du über uns, ADONAI, in Güte und Erbarmen und rechtfertige Du uns im Gericht. Gelobt seist Du, ADONAI, der Gerechtigkeit und Recht liebt!«

Dementsprechend hat das Judentum in den für die nichtjüdische Völkerwelt formulierten sieben noachidischen Geboten die Aufrichtung gerechter Gerichte nicht zufällig an erster Stelle genannt.
Deshalb sollten Juden, Christen und Muslime in der Bundesrepublik Deutschland für die nächste Zukunft konkret am Kampf für eine multikulturelle, sozial- und rechtsstaatliche Republik im Unterschied zu einem national und völkisch orientierten Modell »Deutschland« teilnehmen (W. Huber).

Aber nicht nur das Bündnis von Juden, Christen und Muslimen mit anderen, um demokratische und soziale Gerechtigkeit kämpfenden Gruppen und Utopien ist hier gemeint. Die Bibel sagt noch mehr und überraschend darüber Hinausgehendes. Ich denke dabei konkret an die Begegnung zwischen Abraham und Melchisedek, den »König der Gerechtigkeit« aus Jerusalem. Für Juden wie Christen und Muslime ist daran überraschend und ungewöhnlich, daß nicht Abraham den Melchisedek segnet, wie man von der Segensverheißung Abrahams für die Völkerwelt (Gen 12,1 - 4) her erwarten müßte. Sondern daß Melchisedek den Abraham segnet und sich Abraham von Melchisedek segnen läßt (Gen 14). J. Petuchowski hat dazu einen informativen Band herausgegeben: »Melchisedek. Urgestalt der Ökumene«. Darin weist er auf, wie schwer es jüdisch-rabbinischer Exegese gefallen ist, anzuerkennen: Nicht Abraham segnet Melchisedek, den heidnischen König der Gerechtigkeit aus der Völkerwelt, sondem Melchisedek segnet Abraham und — was noch bedeutungsvoller für Juden, Christen und Muslime ist — Abraham läßt sich von Melchisedek segnen [66].

Es gibt also eine rabbinische Diskussion, die es entsprechend auch im Christentum und, wie Smail Balic in seinem Buch »Ruf vom Minarett [67].« deutlich gemacht hat, auch im Islam gibt, die sagt und denkt und praktiziert: Eigentlich muß doch Abraham den Melchisedek gesegnet haben und segnen, umgekehrt geht es doch in keinem Fall. Kommt doch der Segen Abrahams in die Völkerwelt und nicht umgekehrt. Doch, sagt Gen 14, und warnt damit Juden, Christen und Muslime vor Überheblichkeit gegenüber den Nichtjuden, Nichtchristen und Nichtmuslimen: Es gibt die Segnung Abrahams durch den heidnischen König Melchisedek von draußen. Doch, es geht nach Gen 14 genau umgekehrt, als ihr aus eurer orthodoxen Tradition heraus erwarten würdet: Melchisedek segnet Abraham und — noch wichtiger — Abraham läßt sich von Melchisedek segnen. Gen 14, die Begegnung des Abraham mit Melchisedek, ist also eine bis heute unabgegoltene Überlieferung, die über den Trialog hinaus das weite Feld der Begegnung und der Zusammenarbeit mit den außerabrahamitischen Religionen eröffnet und auch von dorther Segen, Segnung und Belehrung erwartet und erhofft.

V.4  Das Denken und Leben vom Anderen her
Der jüdische Philosoph Emmanuel Lévinas aus Frankreich hat eine Philosophie und Ethik — nicht des einzelnen in seinem egozentrierten Selbst und nicht des universalen Ganzen der Welt, sondern eine Ethik des Denkens und Lebens vom Anderen her entfaltet.

Leitbild einer Ethik des Lebens und Denkens vom Angesicht des Anderen her ist nach Lévinas deshalb nicht Odysseus, der am Ende nach Ithaka und das heißt nur zu sich selbst zurückfindet. Leitbild der Begegnung mit dem Anderen ist vielmehr und nicht zufällig Abraham: »Dem Mythos von Odysseus, der nach Ithaka zurückkehrt, möchten wir die Geschichte Abrahams entgegensetzen, der für immer sein Vaterland verläßt, um nach einem noch unbekannten Land aufzubrechen, und der seinem Knecht gebietet, selbst seinen Sohn nicht zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen.« Lévinas nennt dieses Aufbrechen zum ganz anderen und diese Faszination durch das Antlitz des Anderen einen »Aufbruch ohne Wiederkehr, der aber dennoch nicht ins Leere führt [68].«

Zu einer solchen Ethik vom Antlitz des Anderen her, vom Angesicht des Anderen her, könnte auch der Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen beitragen.
Die Verwundbarkeit durch die Schönheit des Anderen, die Faszination durch das Angesicht des Anderen wurde dokumentiert im Israel-Museum in Jerusalem anläßlich einer Ausstellung »The Bible in the Islamic World« (Dokumentationsband Jerusalem 1991):

Ich habe dort ein islamisches Dokument von beeindruckender Offenheit für den anderen und der Faszination durch das Angesicht des Anderen gesehen. Es ist ein sprechendes Dokument gegen die religiösen Vorurteile und für islamische Toleranz, wie sie Smail Balic in seinem mehrfach genannten Buch »Ruf vom Minarett« und A. Falaturi in seinem informativen Büchlein über Muhammed »Der Islam im Unterricht« 1992 überzeugend und für den Islam gewinnend beschrieben haben. Die folgende Geschichte, so haben mich Islamwissenschaftler belehrt, ist auch ein Dokument der Leidenserfahrung und Leidensverarbeitung im Islam. Das Bild, das ich vor Augen habe, stammt aus dem Iran des 19. Jahrhunderts, der Heimat von Professor Falaturi, und trägt den Titel: Die Hofdamen Ägyptens — überwältigt durch die Schönheit Josephs.

Die auf dem Bild wiedergegebene Bankett-Szene aus der Josephgeschichte ist dabei ein beliebtes Motiv der späteren persischen Malerei. Die islamische Tradition erzählt diese Geschichte — im Bild aus dem 19. Jahrhundert dokumentiert — wie folgt:

»Einige der Frauen in der Stadt begannen zu tratschen und zu tuscheln: Die Frau des Potiphar sucht ihren Sklavenjungen zu verführen. Sie muß durch ihn verblendet und in ihn vernarrt sein. Wir Frauen der Stadt betrachten das als eine große Dummheit, die sie damit begeht.

Als der Klatsch die Frau des Potiphar erreichte, lud sie die Hofdamen zu einem Bankett in den Palast ein, bereitete Sitzkissen für sie und versah eine jede von ihnen mit einem Messer, mit dem sie sich Äpfel schälen konnten, um ihre Blicke nicht nur auf Joseph lenken zu müssen. Damit sollten sie sich ablenken, um nicht direkt auf Joseph schauen zu müssen. Dann bat sie den Joseph, vor ihnen zu erscheinen. Als die Frauen seine Gestalt und sein Angesicht erblickten, sahen sie gebannt auf ihn. Und in ihrer Verwunderung und Faszination schnitten sie sich, anstatt ihre Äpfel zu schälen, in ihre Hände. So fasziniert waren sie von der Gestalt und dem Angesicht des Joseph [69].«

Ich will mit dieser Geschichte sagen und will mir durch diese Geschichte sagen lassen: Wer sich nicht religiös und menschlich für andere Religionen und andere Kulturen öffnet, der verstümmelt sich selbst am Ende religiös und auch menschlich.

VI. Epilog: Das Dialog-Modell der Nachbarschaft und WEG-Gemeinschaft
Was ich hier als Trialog-Modell vorgestellt habe und wozu ich hier einladen möchte, ist kein statisches Modell der religiösen Überlegenheit, von dem aus die eine Religion die andere bzw. deren Wahrheit sich integriert und sich so am Ende als überlegen erweist. Ich habe nicht plädiert für ein Modell der Intoleranz aus Überlegenheit und Exklusivität, aber auch nicht für ein Modell der pluralistischen und relativistischen Toleranz und Preisgabe von religiöser Identität. Ich habe vielmehr vorgestellt ein Modell der Nachbarschaft der Religionen, ein Modell der Nachbarschaft des Israelvolkes, des ökumenischen Christenvolkes und der Abraham-Gemeinschaft der Muslime im Dienst der Segensverheißungen Abrahams für die ganze Menschheit. Ich habe damit vorgeschlagen ein Modell des WEGES: auf dem von Abraham her die Söhne Isaaks und Ismaels, die Töchter der Sara und der Hagar gesegnet werden und auf dem der Segen durch den Abraham-Sohn, Jesus Christus, in die Völkerwelt gelangt, durch den wir als Christen und Christinnen gesegnet werden und zur Sendung an die eine Menschheit bestimmt und zur Bewahrung der Schöpfung berufen sind.

Der Gott Abrahams ist der eine und einzige Gott, der Israel Bund und Treue hält ewiglich und nicht losläßt das Schöpfungswerk seiner Hände. Er ist — wie ihn die Muslime bekennen — der Hohe und Erhabene, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der kommende Richter der Gerechtigkeit.

Aber der Gott Abrahams ist als der Unendliche und Erhabene zugleich der nahe und mitgehende Gott, der Gott, der oben im Himmel ist, aber zugleich bei denen, die arm, entrechtet und zerbrochenen Herzens sind, wie es die Hebräische Bibel unvergeßlich sagt (Jes 65,15). Oder wie es eine der schönsten und faszinierendsten Suren aus dem Koran über Gott verkündet, die zur sprichwörtlichen Rede geworden ist: »Gott ist dir näher als deine Halsschlagader« (Sure 50, 15).

Worum es in dieser Ethik der Nachfolge Abrahams geht, hat A. Falaturi in einem »Appell« aus dem Jahre 1991 so umschrieben: »Zweifelsfrei bildet das Streben nach Gerechtigkeit und Frieden und in diesem Sinne die Bewahrung und der Schutz der Rechte der Menschen den Kern der Botschaft der drei Religionen Judentum, Christentum und Islam. Dieser Wert bleibt unberührt, selbst dann, wenn er immer wieder von Anhängern jeder dieser Religionen verletzt wurde. Es ist die Aufgabe der heutigen Generation von verantwortungsbewußten Juden, Christen und Muslimen, sich gegenseitig im Sinne der Verwirklichung der Verantwortung für den Frieden in Europa und in der Welt zu bestärken, statt die Verletzung dieser Kardinalwerte zum Anlaß für neue Streitigkeiten zu nehmen. Ansätze für diese gemeinsame Verantwortung gibt es zahlreich in den Schriften der Religionen. Es gibt keinen Frieden in der Welt, ohne den bewußten Einsatz der Anhänger der großen Religionen für den Weltfrieden [70].«

Danach war es nicht zufällig-, sondern höchst charakteristisch, daß König Hussein von Jordanien, ein leiblicher Nachfahre des Propheten Muhammed, am Sarg des ermordeten israelischen Ministerpräsidenten Rabin in Jerusalem mit Berufung auf ALLAH-ELOHIM sagte:
»Laßt uns die Stimme erheben und laut und öffentlich von unserem Bekenntnis zum Frieden sprechen, nicht nur heute hier, sondern für alle Zeiten. Wir glauben an den Frieden. Wir glauben, daß unser Gott, der eine Gott, will, daß wir in Frieden leben, und will, daß Friede auf uns kommt ... Laßt uns hoffen und beten, daß Gott uns allen, einem jeden in seiner Position die Rechtleitung gibt, das ihm Mögliche für eine bessere Zukunft zu tun [71].«

Die Veröffentlichung auf reformiert-info.de erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Autors Prof. Dr. Bertold Klappert.

Quelle der online-Veröffentlichung: Homepage von Horst Kannemann zu Abraham. Dort weitere Informationen zu gedruckten Fasungen des Vortrags. Die dortige Seite ist seit dem 2. Februar 2007 auch vom Evangelischen Kirchenkreis Niederberg als PDF-Datei ins Netz gestellt.

Anmerkungen
[60] Fr. Mußner, Der Jakobusbrief (Herders Theologischer Kommentar zum NT), 5. Aufl. 1987, 254ff.
[61] a.a.O., 258.
[62] S. Balic, Ruf vom Minarett, 3. Aufl. 1984, 184ff, 241ff.
[63] Zit. bei W. Zimmerli (Anm. 45), 80.
[64] L. Baeck, Dieses Volk, Bd. I 1955, 126.
[65] Vgl. W. Huber, Artikel Menschenrechte/Menschenwürde, TRE Bd. XXII 1992, 577 - 602.
[66] J. Petuchowski, Melchisedech. Urgestalt der Ökumene, 1972, 11 - 37.
[67] S. Balic, Ruf vom Minarett, 117 - 245.
[68] E. Lévinas, Die Spur des Anderen 1983, 215f — H.H. Henrix (Hg.), Verantwortung für den anderen — und die Frage nach Gott, 1984.
[69] In: Biblical Stories in Islamic Paintings, Israel-Museum, Jerusalem 1991; vgl. auch H.J. Margull: Verwundbarkeit, in: Ev. Theologie 34/1974, 410 - 420.
[70] A. Falaturi, Der Islam im Unterricht 1991, 11. — Vgl. M. Stöhr (Hg), Abrahams Kinder. Juden — Christen — Moslems, Amoldshainer Texte 17, 1983. — Vgl weiter die grundlegenden Ausführungen des katholischen Alttestamentlers N. Lohfink: »Auf Abraham berufen sich die drei großen Religionen... Die Moslems nennen ihn (und Hebron, den Ort seines Grabes) Al-Chalil, ‘den Freund’. Denn Gott hat ihn als Freund bezeichnet — etwas ganz und gar Unerhörtes... Die Araber leiten sich auch genealogisch über Ismael von Abraham her. Mohammed betrachtete die Religion, die er verkündete, einfach als die Religion Abrahams. Denn dieser war der erste Muslim, der erste Gottergebene. Die Juden nennen ihn stets ‘Abraham, unseren Vater’. Dem ist kaum etwas hinzuzufügen... Nach dem Neuen Testament müßten wir Christen ihn ebenfalls unseren Vater nennen (Lk 1,73; Röm 4,1.12; Jak 2,21)... Abraham ist für ihn (Paulus) der Vater aller Juden, die den Weg des Glaubens gehen, und überdies auch aller, die glauben, auch wenn sie keine Juden sind (Röm 4,1lf.). So wäre es das beste, auch wir Christen sagten nicht einfach ‘Abraham’, sondem sprächen von ‘unserem Vater Abraham’« (Abraham, in: J. Plöger, T. Schreiner, Hgg., Heilige im Heiligen Land, 1982, 9f). Vgl. schließlich K.-J. Kuschel; Streit um Abraham. Was Juden, Christen und Muslime trennt — und was sie eint, 1994.
[71] Aus: »Jerusalem Post« vom 7.11.1995. Diese Vision König Husseins hat die Wuppertaler Dichterin Else Lasker-Schüler schon 1937 in »Hebräerland« in ihrer Israel und die Palästinenser umfassenden Friedensvision vor Augen gehabt: Israel und die Palästinenser sind »semitische Brüder«, weil sie von Isaak und Ismael herkommen. In »Arthur Aronymus und seine Väter« läßt sie ihren Großvater am Sederabend des Pessach in Anwesenheit des zuhörenden katholischen Bischofs hellsichtig sagen: Nicht die Juden werden in den Neuen Bund der Christen aufgenommen, sondern die Christen werden in den ungekündigten Bund Gottes mit Israel aufgenommen (J. Hessing: Else Lasker-Schüler. Biographie einer jüdischen Dichterin, 1985, 27ff, 157ff). Wir bedürfen solch dichterischer und künstlerischer Visionen und Symbole, auf die ich neulich im Kunsthaus Wien stieß und die wir dem Österreicher Hundertwasser verdanken. Im Kunsthaus Wien hat er 1978 eine Fahne der Versöhnung zwischen dem jüdischen und palästinensischen Volk entworfen: Blauer Davidstern über grünem Halbmond auf weißem Grund. Er hat dazu im Sinne der abrahamitischen Einheit geschrieben: »Die Fahne ist das Symbol der Versöhnung zwischen dem jüdischen und arabischen Volk. Der lange Krieg ist zu Ende... Beide Völker sind für eine neue Zukunft vereint... Es ist die Fahne der Toleranz, unter der Glaubens- und Lebensweise des anderen Volkes geschützt sind ... Es ist das Symbol der wechselseitigen Abhängigkeit, es ist das Symbol der gegenseitigen Befruchtung... Blau ist die Farbe des Himmels, des Wassers... Es ist die Farbe des seherischen Geistes des Menschen... Grün ist die Farbe der Bäume und des Pflanzenreiches... Grün ist die Farbe der Hoffnung. Grün ist die Farbe des Propheten Mohammed... Die Fahne ist Symbol der neuen Ära der Liebe und Zusammenarbeit, weit weg von dem vermeintlichen Zwist im Namen Zions und Mohammeds, der niemals gewollt war... DIE FAHNE KEHRT ZURÜCK ZU ABRAHAM. ES IST DIE FAHNE DER EINHEIT. ES IST DIE FAHNE DES GELOBTEN LANDES.« (Der bisher nicht veröffentlichte Text datiert vom 3.9.1978.)

Literaturtipp:
Dirk Chr. Siedler / Annette de Fallois / Jörgen Klußmann(Hg.)
(K)eine Chance für den Dialog?
Christen und Muslime in der pluralen Gesellschaft
Beiträge zu kontroversen Themen

Taschenbuch: 312 Seiten
Verlag: Alektor-Verlag; Auflage: 1 (17. September 2007)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3884250876
ISBN-13: 978-3884250877

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