'Wir in Europa leben unsere Freiheit wie eine Selbstverständlichkeit'

Interview mit Martina Wasserloos-Strunk

Das Council des europäischen Gebietes der Weltgemeinschaft reformierter Kirchen (WCRC-E) hat Moderamensmitglied Martina Wasserloos-Strunk zur neuen Präsidentin gewählt. Schon seit 2011 war sie als Vizepräsidentin des WCRC aktiv, setzt sich als Leiterin der Philippus-Akademie Gladbach-Neuss für Integration und interkulturellen Dialog ein. Zu den Schwerpunktthemen des Councils gehört in den kommenden Jahren laut Wasserloos-Strunk unter anderem der Austausch mit Kirchen des Mittleren Ostens, außerdem der Umgang mit Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit in der Gesellschaft. Im Gespräch mit reformiert-info.de erklärt sie, warum Europa sich als Wertegemeinschaft definieren muss.

reformiert-info.de: Zunehmender Nationalismus, Brexit, Flüchtlingskrise: Der Zusammenhalt in Europas scheint aktuell sehr angespannt. Nun könnte man sagen, dass es hier mehr um politische Diskussionen geht und damit den WCRC nicht direkt berührt. Kann Kirche das also ignorieren? Wie politisch darf Kirche sein?

Martina Wasserloos-Strunk: Kirche kann gar nicht unpolitisch sein. Sie ist als Akteur in der Zivilgesellschaft immer politisch. Für Christinnen und Christen geht es nicht ohne Weltbezug und Weltverantwortung. Karl Barth würde sagen: Neben die Bibel gehört die Zeitung. Deshalb betreffen uns diese Unsicherheiten ganz direkt - weil die Menschen in Europa davon betroffen sind. Als Christinnen und Christen haben wir nicht auf alles eine Antwort - aber wir können Maßstäbe anbieten.

Den Reformierten Bund vertreten Sie seit Jahren bei ATTAC. In den „10 Prinzipien für einen demokratischen EU-Vertrag“ schrieb das Netzwerk 2007, dass die Europäische Union keine Legitimität in der Bevölkerung besitze. Worin liegt das Problem der EU heute? Wie kommt es zur Ablehnung vieler Bürger?

ATTAC hat das glaube ich recht forsch formuliert.  Dennoch muss die Europäische Union tatsächlich zum ersten Mal in ihrer Geschichte zeigen, dass sie eine Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten ist. So wie auch der WCRC-E. Mein Eindruck war, dass zum Beispiel viele Menschen die Feierlichkeiten um die Erneuerung des Élysee-Vertrages Anfang 2018 kaum noch verstanden. Ich habe Studierenden in Ungarn von meinem Opa erzählt, der vor knapp 80 Jahren nach Paris gezogen ist um dort Krieg zu machen. Und ich habe sie gefragt, wie sie es finden, dass die EU ihnen hilft Studienplätze in Frankreich zu bekommen und dass sie dann mit ihren französischen Freunden nach Griechenland reisen können. Nehmen wir diese Dinge überhaupt noch wahr? Mir macht es Sorge, dass viele Menschen von Europa wie von einem verdorbenen Kuchen reden. Wir leben unsere Freiheit wie eine Selbstverständlichkeit. Genau das aber kann gefährlich werden. Als Kirchen können wir gegenhalten: Weil wir die Netzwerke haben, weil wir mit den Menschen sprechen, weil wir wissen, wie kostbar Gemeinschaft ist - und wie stark.

Auch die Europäische Union zielt auf Gemeinschaft und Zusammenarbeit. Aktuell wächst in der europäischen Bevölkerung aber vielerorts der Zuspruch für rechtsnationale, EU-kritische Parteien. In Deutschland ist die AfD seit der aktuellen Legislaturperiode erstmals im Bundestag vertreten. Wie sollten Kirchen in Europa damit umgehen?

Ich glaube nicht, dass wir mit einer allzu vorsichtigen Haltung in dieser Frage weiter kommen. Gehen wir doch in den Diskurs. Wir müssen nicht Angst haben vor der Vielfalt, sondern vor der Einfalt. Fragen wir AfD-Anhänger doch, warum sie die Freiheit, die sie in unserem Land haben so verachten, die Verfassung, die ihnen gestattet öffentlich zu agieren so durch den Schmutz ziehen. Fragen wir sie doch, warum die Freiheit, die unsere Demokratie allen Menschen bietet für sie so schlecht zu ertragen ist. Ich gebe zu, das klingt jetzt vielleicht etwas undiplomatisch. Ich bin davon überzeugt, dass wir die offene Auseinandersetzung brauchen, um den eingeübten Opferduktus der neuen Rechten aufzubrechen.  Die Mitgliedschaft in der AfD oder auch die geistige Nähe dazu ist kein Fall für die Seelsorge.

Die britische Bevölkerung stimmte für den EU-Ausstieg. Inzwischen rückt der Brexit näher. Sehen Sie bislang Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Mitglieder des WCRC-E?

Ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass der Brexit bezogen auf die Gemeinschaft im WCRC-E bisher kaum von Bedeutung ist. Die reformierten Mitglieder aus Wales und Schottland erlebe ich als die europäischsten Europäer überhaupt. Für diese Geschwister geht kein Weg an Europa vorbei. Auf den Councils des WCRC-E sind sie zudem im Verhältnis zu anderen zahlenmäßig stark vertreten - ich denke, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.


Zur Person:

Martina Wasserloos-Strunk studierte Politikwissenschaften, Germanistik und ev. Theologie Schwerpunkt Staatsrecht und Politische Ethik und leitet die Philippus-Akademie im Evangelischen Kirchenkreis Gladbach-Neuss. Seit 2002 ist sie Mitglied im Moderamen des Reformierten Bundes und beauftragt für die Attac-Arbeit. Für die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste engagiert sie sich im "Arbeitsbereich Justice", wirkt am Globalisierungsprojekt der Reformierten Kirche mit. Im WCRC ist sie seit 2011 Vizepräsidentin. Im April 2018 wurde sie zur Präsidentin gewählt.
 


Wie sieht das im Vergleich mit osteuropäischen Ländern aus? Vor vier Jahren kam der WCRC in Warschau zusammen. Damals dreht sich alles um die Situation im Postkommunismus. Wie stark ist die Grenze zwischen Ost und West in Europa heute noch spürbar?

Nach meinen Erfahrungen taugt diese Einteilung nicht besonders. Wer genau ist „Ost“ und wer „West“?  Wir denken hier oft  immer noch in veralteten Kategorien. Einige Menschen im Osten Europas richten sich heute stark in Richtung Osten, andere richten sich in Richtung Westeuropa. Wieder andere sind auf der Suche nach einem eigenen Weg und scheuen jede Art von Bevormundung. Was dazu führt, dass sie allem, was von der EU kommt kritisch gegenüber stehen.  Dazu noch handelt es sich um sehr politische Kategorien. Die Reformierten Kirchen haben eine andere Grundlage. Und wir stehen hier in einem ständigen Austausch. Was ich im Gespräch mit Geschwistern aus „dem Osten“ zum Beispiel bemerke ist, dass wir sehr unterschiedliche Traditionen, historische Erfahrungen und Narrative haben, so dass wir manche Dinge sehr verschieden beurteilen. Da kann es nicht um "richtig" und "falsch" gehen. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ wird in Ungarn anders gesehen als bei uns und das ist auf der politischen Ebene kaum erträglich. Es ist auch schwierig, wenn Vertreter der Kirche das politische Vorgehen rechtfertigen oder unterstützen.  Andererseits haben wir guten Kontakt zu Mitgliedern der Kirche, die sich intensiv für Geflüchtete engagieren und in Kauf nehmen, dabei ständig „auf dem schmalen Grat“ zu wandeln. Das ist die große Chance unserer Strukturen im WCRC-Europe! Wir können mehr übereinander wissen, als das, was wir in der Presse lesen. "Die sind so!" - das ist der erste Schritt in die Entfremdung. Ich denke, dass es für die Zukunft wichtig sein wird noch mehr das Gemeinsame zu suchen und das Trennende dabei dennoch zu benennen.

Wie könnte diese Suche nach dem Gemeinsamen aussehen?

Ich glaube, dass wir viel mehr aufeinander hören und miteinander reden müssen. Dazu gehört eine fundierte theologische Reflexion, die den Begriff „communio“ beschreibt, lebbar macht und unter den gegebenen Umständen stärkt. Vor dem Hintergrund dessen, was sich zur Zeit in Europa abspielt, dürfen wir uns nicht von Ängsten leiten lassen. Do not fear: Fürchte Dich nicht! Das können wir aus vollem Herzen sagen. Wir haben es sozusagen schriftlich.
 


Das Interview führte Isabel Metzger