Schuldenerlass in Zeiten von Corona

Predigt über 5. Mose 5,13-15 von Gudrun Kuhn

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Sonntag ist. Auch wenn die Kirchen geschlossen sind. Sonntag ist. Und in den Texten für die Predigt geht es um die Sabbatruhe. - Aber wie ist das angesichts der aktuellen Situation zu verstehen?

GEBET

Ach Gott, wir haben es doch gewusst,
dass wir mitten im Leben vom Tod umfangen sind.
Die Kranken wissen es.
Und alle, die an Gräbern stehen.
Doch die Gesunden und Lebensfrohen
konnten dieses Wissen wegdrängen.

Nun hat uns alle die Angst eingeholt.
Wohl begründete und wenig begründete Angst lähmt uns.
Viele Menschen müssen um die blanke Existenz fürchten.
Ach, und so viele Kontakte zu lieben Menschen fehlen uns.

Ach Gott – auch von dir fühlen wir uns allein gelassen.
Dabei haben wir es doch gewusst,
dass du die Welt in die Evolution entlassen hast.
In eine Welt mit Seuchen und Erdbeben und Tsunamis.
In eine Welt mit unterschiedlichen Menschen:
friedfertigen und gewaltbereiten
solidarischen und egoistischen.

Und wo stehen wir?
Wir fürchten um unsere eigene Gesundheit
Und vergessen,
wie gefährdet Ärztinnen und Pfleger und Rettungskräfte sind.
Wir horten Lebensmittel

Und vergessen,
was die Geflüchteten an unseren Grenzen leiden.
Ja, wir müssen bekennen,
dass wir im Moment
zuerst an uns selber denken.

Ach Gott –
Lass uns aus den Schriften und Liedern unserer Vorfahren lernen,
wie sie in Krisen festhielten an der Hoffnung auf dich
und die Weisungen zur Mitmenschlichkeit nicht vergaßen.

AMEN

 

LESUNG        Lukas 4, 16-19 und 6, 4 und 35-36

Lukas 4

16Jesus kam nach Nazaret, wo er aufgewachsen war, und ging, wie er es gewohnt war, am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um vorzulesen. 17 Und man reichte ihm das Buch des Propheten Jesaja. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht: 18Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat, Armen das Evangelium zu verkündigen. Er hat mich gesandt, Gefangenen Freiheit und Blinden das Augenlicht zu verkündigen, Geknechtete in die Freiheit zu entlassen, 19zu verkünden ein Gnadenjahr des Herrn.

Lukas 6

4Wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu erhalten hofft, was für ein Dank steht euch dann zu? Auch Sünder leihen Sündern, um ebenso viel zurückzuerhalten. [...] 35Vielmehr: Liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, wo ihr nichts zurückerhofft. Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Söhne und Töchter des Höchsten sein, denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen. 36Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!

Die Gnade unseres Herr Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns. AMEN

 

Liebe Gemeinde,

In Krisen wurde das Buch Deuteronomium verfasst, mit dem wir uns in diesen Wochen in aller Ruhe beschäftigen wollten. In der Krise des Exils, in der Krise des wieder neu entstehenden Tempels, in der Krise des Glaubens an den einen Gott. In diesen Kri­sen wurden die Geschichten von der Befreiung aus Ägypten und von der Gabe der Ge­bote am Sinai zur Mas­ter­erzählung. Sie sollte den Zeitgenossen Hoffnung und Zu­sammenhalt schen­ken. Und einen Weg zu einer solidarischen Gesellschaft.

Und jetzt stecken wir selber in der Krise. In einer Krise, die jede und jeder von uns am eigenen Leib erfahren kann. Angst und Betroffenheit sind groß. Und es kann passieren, dass wir da­rü­ber all die anderen Krisen vergessen und beiseite schieben, mit denen wir uns irgendwie arrangieren. Fridays for future – ja, aber die Zukunft ist noch nicht gleich. Flücht­lings­ka­tas­tro­phen an unseren Grenzen – ja, aber Griechenland ist weit weg. Vermüllung der Meere – ja, aber bei uns merkt man nichts davon.

Und jetzt fragen Sie vielleicht, was uns diese schwierige uralte Schrift nützen kann. Ob sie Antworten enthält. Auf die hautnahe Krise, der wir uns stellen müssen. Und auf die fernen Krisen, an die uns unser Gewissen erinnert.

Eine berechtigte Frage. Sie macht auch mich ratlos. Eine ansteckungsgefährdete Großmutter, die ihren Enkel meiden muss. Was kann ich Ihnen Zuversichtliches sagen? Ehrlich sagen? Was erwarten Sie von mir?

Ich will versuchen, mich einfach an die Aufgabe zu halten, die mir gestellt ist. Predigen über das 15. Kapitel des Buchs Deuteronomium.

Und der Herr segne Reden und Hören, er segne Zustimmung und Widerspruch, er segne Fragen und Antworten, Verstehen und Weiterdenken. AMEN

Liebe Gemeinde,

Sonntag ist. Auch wenn die Kirchen geschlossen sind. Sonntag ist. Und in den Texten für die Predigt geht es um die Sabbatruhe. Die war den Deuteronomisten sehr wichtig bei ihrer Wiederholung des Dekalogs, der 10 Gebote.

Sabbat. Manche meinen, das sei etwas für orthodoxe Juden. Unsinnige Regeln, dass man den Lichtschalter und die Kochplatte nicht benutzt. Sonntagsheiligung. Das hieß früher einmal, kein Fußball, kein Kino, keine Tanzveranstaltung. Das haben wir jetzt die ganze Woche! Not­ge­drun­gen. Dabei war die Feiertagsruhe unserer Gesellschaft bislang ziemlich gleichgültig ge­we­sen. Werktags wie sonntags pulsierte bei uns das Leben. Und alle waren froh, dass die Zeiten sozialer Kontrolle über den Kirchenbesuch vorüber waren.

Nie­mand – so dachten wir – kann den technischen Fort­schritt aufhalten, der in einer glo­ba­li­sier­ten Wirtschaftswelt auf Effizienz angewiesen ist, alle Ta­ge der Woche. Niemand darf seine re­ligiösen Vorstellungen anderen aufzwingen. Am siebten Tag ruhen, weil der Schöpfer geruht hat? Das soll glauben, wer will ...

Im Buch Deuteronomium (K.5) lesen wir:

13Sechs Tage sollst du arbeiten und all deine Arbeit tun; 14der siebte Tag aber ist ein Sabbat für den HERRN, deinen Gott. Da darfst du keinerlei Arbeit tun, weder du selbst noch dein Sohn oder deine Tochter oder dein Knecht oder deine Magd oder dein Rind oder dein Esel oder all dein Vieh oder der Fremde bei dir in deinen Toren, damit dein Knecht und deine Magd ruhen können wie du. 15Und denke daran, dass du Sklave gewesen bist im Land Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich von dort herausgeführt hat mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Darum hat dir der HERR, dein Gott, geboten, den Sabbattag zu halten. 

(Deuteronomium 5)

Liebe Gemeinde,

alles, was mit noch vor einer Woche dazu eingefallen ist, ist inzwischen hinfällig. Die Vorwürfe, dass wir heute am Sonntag vor allem an Frei-Haben und Freizeit denken. Und dass wir unsere Knechte und Mägde gerade am Sonntag nicht befreien. Die, die unsere Teller im Gasthaus spülen, die die Ki­­nosäle reinigen, die die Clos putzen und die die Fitness-Übungen erklären. Die, die dies vielleicht alles sonn­tags tun müssen, weil der Werktagsjob zum Überleben nicht ausreicht.

Derzeit von Freizeit zu reden, ist allerdings unsinnig. Und die meisten, die im Freizeitbereich ar­beiten, stehen jetzt erstmal vor dem Nichts, weil ihre Jobs gestrichen werden. Oft sehr un­si­che­re Jobs ohne Lohnfortzahlung. Viele sind in Quarantäne zur Untätigkeit verbannt oder wer­den nur noch in Kurzarbeit beschäftigt. Werktags wie sonntags. Und viele müssen bis zur Er­schöp­fung durcharbeiten als Ärztinnen und Pfleger und Polizistinnen und Rettungssanitäter. Werktags wie sonntags.

Nun gab es Ausnahmen vom Sabbatgebot freilich schon immer: Kühe melken, Gebärenden helfen, Menschen und Tiere aus Gefahren retten. Der Sabbat ist um des Menschen willen ge­schaffen, nicht der Mensch um des Sabbats willen. (Mk 2,27) Sie kennen diesen Satz Jesu. Er hat zahl­rei­che Parallelen im jüdischen Schrifttum. Aber was, wenn die Ausnahmesituation zum Alltag wird, wie jetzt?

Unsere Situation verlangt von uns – so meine ich – dass wir das Gebot neu und anders lesen. Nicht der siebte Tag ist im Moment wichtig. Nicht das generelle Ruhegebot. Gültig bleibt viel­mehr die Begründung. In der Version der Deuteronomisten ist nicht die Ruhe des Schöpfers Be­gründung für den Sabbat, son­dern das Befreiungshandeln Gottes. Befreit und befreiend sol­len wir leben, weil Gott sich als Befreier offenbart hat. Als der, der sein Volk aus der Knecht­schaft geführt hat und immer wieder führt. Darum bekommt das Gebot eine soziale Aus­rich­tung. Und die bleibt gültig, auch dann, wenn uns in der Krise der Rhythmus von Werktag und Sonn­tag verloren geht. Der Sonntagsgottesdienst unter dem Wort Gottes kann uns, die wir heu­te nicht arbeiten müssen, helfen, unsere sozialen Pflichten nicht zu vergessen. Im Gebet. Und in der Ermutigung zum Handeln. Aber wie sollen wir handeln? Wie können wir befreiend han­deln? Für die anderen, die nur noch frei haben. Und für die, die gar nicht mehr frei kriegen.

Ich versuche eine Antwort in K.15 des Deuteronomiums (gekürzt) zu finden:

1Alle sieben Jahre sollst du einen Schuldenerlass gewähren. 2Und so soll man es mit dem Schul­­denerlass halten: Jeder Gläubiger soll das Darlehen erlassen, das er seinem Nächsten ge­­geben hat. [...] 9Achte darauf, dass in deinem Herzen nicht der nichtswürdige Gedanke aufsteigt: Das siebte Jahr, das Erlassjahr, ist nahe!, und du deinen armen Bruder unfreundlich ansiehst und ihm nichts gibst und er dann gegen dich den HERRN anruft und dich so Strafe trifft. [...] 12Wenn dein Bruder, ein Hebräer oder eine Hebräerin, sich dir verkauft, so soll er dir sechs Jahre dienen, im siebten Jahr aber sollst du ihn freilassen. 13Und wenn du ihn freilässt, sollst du ihn nicht mit leeren Händen ziehen lassen. 14Von deinen Schafen, von deiner Tenne und von deiner Kelter sollst du ihm etwas mitgeben. Von dem, womit der HERR, dein Gott, dich gesegnet hat, davon sollst du ihm etwas geben, 15und du sollst daran denken, dass du Sklave warst im Land Ägypten und dass der HERR, dein Gott, dich befreit hat. Darum gebe ich dir heute dieses Gebot.

Das Sabbatjahr – das Erlassjahr. Ist das vorstellbar? Im ersten Moment meint man: Noch we­ni­ger als die Einhaltung des wö­chentlichen Feiertags! Doch die Deuteronomisten waren da un­erbittlich. Sabbatruhe. Am siebten Tag, im siebten Jahr und – im sieben mal siebten Jahr gilt die Weisung.

Da müssen wir auch noch das Buch Leviticus zur Kenntnis nehmen (Kapitel 25, gekürzt)

3Sechs Jahre sollst du dein Feld besäen und sechs Jahre deinen Weinberg beschneiden und ihren Ertrag einsammeln. 4Im siebten Jahr aber soll das Land einen Sabbat, ein Ruhejahr, haben, einen Sabbat für den HERRN. Da darfst du dein Feld nicht besäen und deinen Weinberg nicht beschneiden. [...] 10Und ihr sollt das fünfzigste Jahr für heilig erklären und eine Freilassung ausrufen im Land für all seine Bewohner. 17Und niemand soll seinen Nächsten übervorteilen, sondern du sollst dich fürchten vor deinem Gott. Denn ich bin der HERR, euer Gott [...] 35Und wenn dein Bruder verarmt und sich nicht mehr halten kann neben dir, sollst du ihn unterstützen [...] 36Du sollst von ihm weder Zins noch Zuschlag nehmen, sondern dich vor deinem Gott fürchten, so dass dein Bruder neben dir leben kann. [...] 38Ich bin der HERR, euer Gott, der euch herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, um euch das Land Kanaan zu geben und euer Gott zu sein. 39Und wenn dein Bruder neben dir verarmt und sich dir verkaufen muss, sollst du ihn nicht als Sklaven arbeiten lassen. [...] 42Denn meine Sklaven sind sie, die ich herausgeführt habe aus dem Land Ägypten. Sie sollen nicht verkauft werden, wie man einen Sklaven verkauft. 43Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen, sondern sollst dich fürchten vor deinem Gott.

Man kann das alles natürlich sehr schnell wegwischen. Die Weisungen seien allenfalls für eine an­tike Agrarggesellschaft vorstellbar. Es sei eine reine Wunschvorstellung der Rückkehrer aus dem Exil. Es sei eine Weissagung für die Endzeit.

Aber die Vorschriften sind im Einzelnen sehr konkret, sehr juristisch ausgeklügelt. Sie haben Pa­­rallelen in der altorientalischen Rechtsprechung. Und sie wurden nachweislich im ersten nach­­christ­lichen Jahrhundert noch praktiziert. Das hatte konkrete politische Gründe. Der so­zia­le Friede sollte gesichert werden. Entsprechend gehörten Entschuldungsprogramme auch zur Entstehung der Demokratie in Griechenland.

Warum also sollten wir die alten Weisungen nicht ernst nehmen. Gerade als Christinnen und Christen müssen wir das sogar. Die Tora und die Weisungen Jesu. Beides gehört zusammen. In der Version der Bergpredigt bei Lukas nimmt Jesus unmittelbar auf das Deu­te­ro­nomium Be­zug: 34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu erhalten hofft, was für ein Dank steht euch dann zu? Auch Sünder leihen Sündern, um ebenso viel zu­rück­zu­er­hal­ten. Auch das Wort des Propheten Jesaja, mit dem Jesus seine Mission bei Lu­kas beginnt, ist ge­zielt ausgewählt: gesandt, Gefangenen Freiheit und Blin­den das Augen­licht zu verkündigen, Ge­knechtete in die Freiheit zu entlassen,19zu verkünden ein Gna­denjahr des Herrn. Ein Gna­den­jahr, ein Erlassjahr, ein Sabbatjahr.

Mich beeindruckt, wie der Evangelist Lukas hier in sei­nem Erinnerungstext feine Fäden spinnt zur biblischen Überlieferung. Jesus ist eins mit sei­nem Va­ter, der aus der Sklaverei befreit hat und befreit. So ist auch sein Handeln Befreiung. Darum ist er auch gesalbt, den Armen das Evangelium zu verkünden. Und entsprechend nimmt Lukas die deu­te­ro­nomistische Forderung nach Schul­den­er­lass in den jesuanischen Ethik­katalog auf: Lei­hen ohne Aussicht auf Rück­zah­lung. Wie in den Weisungen des Sabbatjahres ist die Erfüllung von Geboten aus­ge­richtet am Wohl der Mitmenschen, wird die Herrschaft über Menschen durch­kreuzt und die Aus­beutung der Abhängigen unter göttliche Strafe gestellt. Dass Lukas die Jesusbewegung auch oder vor allem in diesem Sinn verstanden hat, beweist zu­dem seine Dar­stellung der Je­ru­salemer Urgemeinde als Gütergemeinschaft, in der es kei­nen Privatbesitz gab. Das Land ge­hört Gott, es ist von ihm den Menschen nur als Lehen ge­ge­ben. Das Land ge­hört Gott. Und die Menschen gehören Gott. Niemals dürfen sie zu Schuldsklaven ge­macht werden.

Ich finde, dass all diese uralten Texte durchaus in unsere Gegenwart hinein sprechen. Auch heute müssen die reichen Länder immer wieder erwägen, wie sie Ent­wick­lungs­län­dern einen Schul­denerlass gewähren können. Die Schuldenkrise im Libanon ist uns derzeit ein aktuelles Bei­­spiel. Auch die Corona-Krise wird unsere Banken dazu zwingen, über weitere Schul­den­er­las­se nachzudenken. Und wir können die Griechen nicht alleine lassen. Sie sind überfordert mit der Aufnahme von Flüchtlingen, die die EU ihnen nicht abnimmt. Und was wird sein, wenn in Italien und anderen Ländern die Gesundheitssysteme vielleicht zusammenbrechen? Stän­dig bekomme ich in den Nachrichten die Börsenberichte präsentiert. Vielleicht sollten wir – we­nigstens in Gedanken – mal die Forderungen des Erlassjahrs dazwischenblenden.

Und jetzt entgegnen Sie vielleicht, dass Sie ja ohnehin keine Spekulantin sind. Und niemanden ums Ersparte bringen werden. Nein, das sind wir vielleicht alle nicht. Aber wir stehen in Gefahr, in dieser Krise andere Menschen zu „Schuldsklaven“ zu machen. Mein Frisör und meine Po­do­­login und mein Physiotherapeut – sie können mir keine Rechnungen mehr stellen. Ich soll al­le Kontakte meiden. Noch erklärt unsere Regierung stolz, man werde beim finanziellen Aus­gleich nicht kleckern, sondern klotzen. Aber es ist doch blauäugig, zu glauben, dass alle die Krise ohne erhebliche Verluste überstehen werden. Die vielen kleinen Unternehmerinnen und Frei­be­rufler ... Die werden schon pleite sein, bevor ihr Antrag auf Hilfe bearbeitet ist.

Da wär doch mal eine Gelegenheit, direkt und ohne Umschweife aus der Bibel zu lernen: Leihen, ohne auf Rückzahung zu hoffen. Wer immer dazu finanziell in der Lage ist, der sollte das tun. Entschuldigen Sie, wenn ich da ausnahmsweise so direkt an Sie appelliere. „Leihen“ hieße da: eine Dienstleistung bezahlen, die man umständehalber nicht in Anspruch nehmen kann. Dem Frisör und der Podologin und dem Physiotherapeuten. Und der Putzhilfe, die nicht of­fiziell angemeldet werden wollte und auf die paar Kröten angewiesen ist, die sie bei uns ver­dienen würde. Wie die Sünder denken wir derzeit bei Stornierungen von Konzerten und Ur­lauben gierig daran, unser Geld zurückzuerhalten. Aber wir wären bereit gewesen, dies und noch mehr in unser Vergnügen zu intensivieren. Was, wenn wir es einsetzen, um damit die zu un­terstützen, die mehr als wir unter den finanziellen Einbußen der Corona-Krise leiden! Das lese ich heute aus den Texten zur Sabbatruhe und zum Erlassjahr.

Ohnehin wäre es gut gewesen, wir hätten schon viel früher darauf gehört. Es muss nicht alle sieben und alle 49 Jahre sein. Auf die magische Sieben können wir ver­zichten. Aber den Rat, regelmäßig und ohne Ausflüchte über Kapitalanhäufung und Ver­schul­dung, über Grundbesitz und Wohnungsnot, über Ausbeutung nachzudenken und das Weiter So‘ zu unterbrechen, den haben wir versäumt.

Doch da ist noch etwas ganz anderes, was in mir anklingt, wenn ich von Schuldenerlass lese. Das Vaterunser! Seit unseren Kindertagen beten wir: Und vergib uns unsere Schuld, wie wir ver­ge­ben unseren Schuldigern. Eigentlich ist der Doppelsatz etwas schief. Schuldiger sind Leute, die Schulden haben. De­nen muss man nicht vergeben. Die muss man pfänden oder ihnen die Rückzahlung erlassen. Schuld dagegen – das ist eine mo­ralische Verfehlung. Die kann nicht erlassen, sondern nur vergeben werden. Und was könnte Jesus wirklich gemeint haben? Matthäus überliefert Seine Worte so: Und erlass uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben. (Matthäus 6,12) Und Lukas: Und erlass uns unsere Sünden, denn auch wir selbst überlassen jedem, was er uns schuldig ist. (Lukas 11,4)

Ganz offensichtlich steht das Gebet Jesu in der Tradition des Schuldenerlasses aus dem Deu­teronomium. Wir sind Schuldner und Schuldnerinnen Gottes. Wir haben alles von ihm ge­lie­hen: unser Leben, unsere Bleibe, unser Auskommen. Wir stehen in seiner Schuld. Wir blei­ben ihm alles schuldig. Und wir sind Schuldner und Schuldnerinnen unserer Mitmenschen. Schul­den über Schulden häufen wir an. Unterlassene Mitmenschlichkeit.

Gottesbeziehung und Mitmenschlichkeit sind unauflöslich miteinander verbunden. Das lehren uns die Texte aus dem Deu­te­ro­no­mium und dem Neuen Testament. Es gibt kei­ne Fröm­migkeit ohne Nächs­ten­lie­be. Ihr sollt an eurem Nächsten be­frei­end handeln wie Gott an euch. Ihr sollt eurem Nächsten Schulden erlassen wie Gott euch.

Erlass uns unsere Schulden, erlass uns unsere Sünden. Was wir schuldig bleiben, ist nach dem Urteil Gottes Sün­de. Was wir ihm schuldig bleiben und was wir unseren Mitmenschen schuldig bleiben. Wie trostlos, wenn wir all das niemals loswerden könnten! Die alten Versäumnisse und Ver­let­zun­gen, die Angst, dass nichts wieder gut werden kann. Die viel zu späte Einsicht! Dass wir schon längst die Lage der Geflüchteten hätten verbessern müssen. Dass wir schon längst alle im Gesundheitswesen Beschäftigten hätten mehr würdigen und besser entlohnen müssen. Dass wir seit Jahren Müll und Abfall hätten vermindern müssen. Sind uns unsere Schulden überhaupt noch zu erlassen? Und belasten wir nicht unsere Mit­men­schen mit Schuldzuweisungen und Vorwürfen? Suchen nach Schuldigen für den ‚aus­län­di­schen Virus‘, wie Trump sagt. Im Internet fragt man nach dem, der als Erstinfizierter in der Nachbarschaft entlarvt werden kann. Gnadenlos ...

Erlass uns unsere Schulden. Erlass uns unsere Sünden. Vergib uns unsere Schuld.

Alle drei Aspekte gehören in die Vaterunserbitte hinein. Ein Schuldenerlass ermöglicht es, ganz von vorne anzufangen. Ein Sündenerlass befreit uns von den Schatten der Vergan­gen­heit. Wenn Jesus Menschen Vergebung zusprach,  nahm er die schwere Gewissenslast von ihnen. Befreit konnten sie sich ganz neu aufmachen. ER traute ihnen zu, sich zu ändern. ER sandte sie auf den Weg, die mühsamen kleinen und großen Schritte zu wagen hin in SEIN Reich, in der alle befreit und befreiend handeln würden.

Wir brauchen solche Vergebung alle Tage. Aber jetzt besonders. Vergebung für alles, was wir uns selbst und anderen vorwerfen. Und die Zuversicht, dass Gott mit uns geht, wie es die Deu­te­ro­no­mis­ten unaufhörlich versichern: Gott ist mit euch in der Wüste, im Exil, in den Wirren der Geschichte, in jeder Krise, auch heute.

AMEN

 

GEBET

Ewiger Gott –

Wie konnten wir vergessen, was uns unsere Vorfahren gelehrt haben:
Denn alles Fleisch, es ist wie Gras.
Wir haben ihnen nicht geglaubt, sondern an uns,
an die Macher und Performerinnen, an die Fachleute und Forscherinnen.

Wie konnten wir vergessen, was uns die Physiker längst erklärt haben:
der homo sapiens, unser Planet, unser Universum –
eine Nanokügelchen in den Welten der Welten.

Nun sind wir aufs Existenzielle zurückgeworfen.
Werden unsere Kliniken vielleicht entscheiden müssen,
wen sie überleben lassen und wen nicht?
Wird sich an den Börsen entscheiden,
wer in Zukunft noch seinen Lebensunterhalt hat und wer nicht?

Ewiger Gott –

Manchmal wollen wir dir Vorwürfe machen,
dass du deine Menschen nicht moralisch besser ausgestattet hast.
Aber da gab es doch so viele Vorbilder,
so viele gute Weisungen.

Ewiger Gott –
Schenk uns die Gewissheit, dass uns vergeben ist,
damit wir uns selbst und anderen vergeben.

Schenk uns die Bereitschaft zu handeln,
befreiend und entlastend für alle, die uns etwas schuldig bleiben.
Schenk uns die Kraft, mit unseren Ängsten fertig zu werden
und danach zu fragen, wer uns nötig braucht.

So viele Menschen sind noch viel mehr als wir an Leib und Leben bedroht,
in den Flüchtlingslagern und den Kriegsgebieten
und vielleicht im Nachbarhaus.
Lass uns die nicht vergessen.

Bleibe bei uns

In Gesundheit und Krankheit
In Glück und Unglück
Im Leben und im Sterben. AMEN

Gudrun Kuhn, Nürnberg (leider nicht gehalten im Rahmen einer Predigtreihe zum Deuteronomium)