Buchtipp: Moralischer Fortschritt

Ein Buch des Philosophen Markus Gabriel über Moral macht Hoffnung

Von Jürgen Kaiser

Ratlos macht einen in diesen Tagen der Blick in die Welt. Da ist nicht nur die Pandemie und die Frage, ob und wann ein wirksamer Impfstoff gefunden wird und wie lange es dann wohl dauern wird, bis mehrere Milliarden Menschen geimpft worden sind. Da ist auch der erschreckende Niedergang der demokratischen Kultur und des politischen Anstands in vielen Ländern durch die Wahl populistischer Männer, die ungehemmt die Grenzen ihrer Macht und ihres Egos verschieben. Da sind auch immer mehr Menschen, die dagegen auf die Straße gehen, deren Proteste durch die Polizei aber nicht, wie bei uns, geschützt, sondern brutal niedergeknüppelt werden. Und da ist die große ungewisse und unheilschwangere Drohung, die sich Klimakrise nennt und als dunkle Kulisse im Hintergrund alle anderen düsteren Szenen apokalyptisch überragt.

In diesen dunklen Zeiten hat sich ein junger Philosoph an den Schreibtisch gesetzt und schnell ein Buch über Moral niedergeschrieben. Markus Gabriel, gerade mal 40 Jahre alt, neuer Shooting-Star der Philosophie, schon mit 29 Professor für Erkenntnistheorie und neuere Philosophie in Bonn, Dauergast an der Sorbonne und in New York und - wie mir scheint - ein bisschen luzider als der altlinke Feuilleton- und Fernseh-Philosoph Richard David Precht, erinnert an ein paar einfache Thesen, die an sich kaum etwas Neues sind, die aber ein wenig Licht in die Zukunft werfen, die gerade so düster scheint. Er nennt sein Nachdenken: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Dieser Titel sagt im Grunde schon fast alles. Gabriel stellt sich in die beste Tradition der Aufklärung, die durch das Festhalten universaler Werte den Blick in unsere Zukunft aufklären und uns in diesen dunklen Zeiten nicht resignieren lässt. Worum geht es?

Mit der Behauptung des Werteuniversalismus wendet sich Gabriel gegen einen zur Zeit dominierenden Werte- und Kulturrelativismus, für den es keine absoluten moralischen Werte gibt, weil die Werte von den jeweils sehr verschiedenen Kulturen abhängen, in denen sie gelten. Dagegen erinnert Gabriel daran, dass es in allen Kulturen eine Vielzahl von identischen Alltagswerten gibt. Etwa, Kinder zu quälen, wird in allen Kulturen und Religionen als böse gewertet. Gabriel spricht von „moralischen Tatsachen“, Werten, die da sind und überall gelten und auch dann relevant sind, wenn sie nicht von irgendwoher ableitbar oder begründbar sind, weder durch Gott, noch durch die Evolution noch durch eine allgemeine Menschenvernunft. Sie können und sie müssen auch nicht begründet werden, um zu gelten. Sie sind da, es sind Tatsachen.

Der Universalismus der Werte, an den Gabriel erinnert, hat aber nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Dimension. Werte, die wir heute anerkennen, gelten nicht nur überall, sie galten auch schon immer, auch wenn sie früher nicht erkannt wurden. Sklaverei war immer schon moralisch verwerflich, auch wenn das in früheren Zeiten in vielen Gesellschaften anders gesehen wurde. Darum gibt es moralischen Fortschritt: Wir werden immer moralischer, wir erkennen immer mehr „moralische Tatsachen“. Die Erkenntnis moralischer Tatsachen ist abhängig von der Erkenntnis nichtmoralischer Tatsachen. Wissenschaftlicher Erkenntnisgewinn führt auch zu moralischem Erkenntnisgewinn. Zum Beispiel ist die Behauptung, es gäbe menschliche Rassen, genetisch widerlegt. Es gibt keine Rassen, es gibt nur Rassismus, der - weil ihm die wissenschaftliche Begründung abhanden kam - unmoralisch ist.

Folgt man Gabriels These von einem moralischen Fortschritt, von der immer besseren Erkenntnis und Anerkenntnis universaler moralischer Tatsachen, dann möchte man gern mal in die Zukunft blicken, um zu entdecken, welche moralischen Tatsachen wir heute noch nicht entdeckt haben. Denn wie wir heute überhaupt nicht mehr nachvollziehen können, dass Menschen andere Menschen versklavt und als Ware behandelt haben, so werden Menschen in – sagen wir – 300 oder 500 Jahren fassungslos zur Kenntnis nehmen, dass Menschen im Jahre 2020 offenbar keinerlei moralischen Anstoß daran nahmen, dass … ? Aber was könnte das sein? Dass Menschen es sich herausnahmen, CO2 in die Luft zu setzen, bloß um sich (oft nicht mal aus triftigem Grund) fortzubewegen? Nein, dieses Verhalten gerät jetzt bereits in den Horizont moralischer Anrüchigkeit. Oder dass es im Jahre 2020 immer noch Menschen gab, die das Recht auf Selbsttötung und die Inanspruchnahme von Hilfe zur Selbsttötung für unstatthaft hielten? Ich würde gern in eine Zeitmaschine steigen, nicht nur um zu sehen, wie der technische Fortschritt unser Leben verändern wird, sondern auch, um zu sehen, wie der moralische Fortschritt das Leben humaner macht. Oder wird dieser Prozess irgendwann an ein Ende kommen, weil der letzte Grad an Gerechtigkeit und die ultimative Humanität erreicht sind? Dann wären wir wohl durch Aufklärung im Reich Gottes angekommen.

Gabriel hat sein Buch während des Lockdowns geschrieben. Man merkt ihm an, dass es schnell geschrieben wurde, es sollte wohl rasch auf den Markt. Manches ist etwas ungeordnet, einiges redundant, bisweilen vermittelt es den Eindruck, der Autor habe seine Gedanken gar nicht aufgeschrieben, sondern diktiert. So füllen sich schnell 350 Seiten mit Thesen, die konzentrierter entfaltet auch auf 100 Seiten verständlich gemacht werden könnten. Aber der feuilletonistische und leicht weitschweifende Stil schenkt dem Buch eine gute Lesbarkeit. Ich habe noch nie 350 Seiten Philosophie so rasch „weglesen“ können. Dennoch habe ich das Buch in den Bücherschrank gelegt mit der Hoffnung, dass die Menschheit nicht von allen guten Geistern verlassen ist, sondern ihre Krisen wird meistern können.

Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten
Universale Werte für das 21. Jahrhundert
Markus Gabriel
Ullstein Hardcover
Hardcover mit Schutzumschlag
368 Seiten
ISBN: 9783550081941


Jürgen Kaiser

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