Im Dazwischen

Predigt über Joh 7,37-38 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 16. Mai 2021 (Exaudi)

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Von Bärbel Husmann

Am letzten Tag, dem Höhepunkt des Festes, trat Jesus vor die Menschenmenge und rief laut: „Wer Durst hat, soll zu mir kommen. Und es soll trinken, wer an mich glaubt.

So sagt es die Heilige Schrift: „Ströme von lebendigem Wasser werden aus seinem Inneren fließen.“

(Ps 78,20; Sach 14,8)

Das, liebe Gemeinde,

ist der Predigttext für heute. Er steht im Johannes-Evangelium im siebten Kapitel. Mittendrin sozusagen. Bei Johannes kommt Jesus nicht nur am Ende seines Lebens nach Jerusalem, sondern mehrfach. Dieses Mal kommt Jesus zum sogenannten Laubhüttenfest nach Jerusalem.

[Wüstenzeit als Zwischenzeit]

Das Laubhüttenfest erinnert an die Wüstenzeit in Israels Geschichte. Es ist eine Zeit des Dazwischen in zweierlei Hinsicht. Deshalb passt der Text auch ganz gut zu unserer Situation. Wir leben auf Hoffnung hin, dass die Impfkampagne Erfolg haben möge. Dass dem Virus Einhalt geboten werden kann. Dass wir hier wieder ein bisschen näher und unbeschwerter zusammenrücken können.

Zwischen Himmelfahrt und Pfingsten leben wir auch. Nur dieser eine Sonntag ist dazwischen.

Das jüdische Laubhüttenfest, zu dem Jesus nach Jerusalem gegangen ist, ist ein Fest im September/Oktober. Jüdinnen und Juden erinnern sich daran, dass Säen und Ernten nichts Selbstverständliches sind, dass es eine Zeit zwischen ihrem Sklavenhaus Ägypten und ihrem Leben im gelobten Land gab: die Wüstenwanderung. Vierzig Jahre kein fester Wohnsitz, kein Land, das hätte bebaut werden können, kein gesichertes Essen und Trinken. Nichts war sicher in dieser Zeit. Nicht mal der eigene Glaube. Und so werden in diesem Fest Hütten gebaut mit Dächern aus Laub, damit man den Himmel sieht und weiß: Das feste Dach über dem Kopf, das ist eine Gabe Gottes, es war nicht immer so. Und es muss auch nicht immer so sein. Gott ist der Spender des lebendigen Wassers, das Leben schafft und Ernten möglich macht.

In Psalm 78, der diese ganze Wüstenzeit in Kurzfassung nacherzählt, heißt es über Gottes Rolle in dieser Zeit: Unterwegs in der Wüste zerteilte er Felsen. Da konnten sie trinken, mehr als genug. Er ließ Bäche aus dem Gestein treten und sie wie Wasserfälle herabfließen. (Ps 78, 15-16)

Wasser in der Wüste. Zum Leben. Kein Rinnsal, sondern Bäche wie Wasserfälle. Von Gott geschenkt, damit sein Volk leben kann. Daran erinnert das Laubhüttenfest.

[Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben]

Am Ende dieses Festes ertönt im Johannes-Evangelium die Stimme Jesu:

Wenn jemand Durst hat, komme er zu mir;
und es trinke, wer an mich glaubt.

Bei Johannes sind Jesus und Gott kaum unterschieden. Von Anfang an nicht: Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort. Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. (Joh 1,1.14).

Bei Johannes erscheint Jesus „als ein über die Erde wandelnder Gott“*. Man kann auch sagen: Es gibt bei Johannes eine sehr enge Verbindung zwischen Gott und Jesus; fast nicht unterscheidbar sind sie. Jesus Christus ist nicht nur Mittler, sondern Grund allen Heils.

Was ist das also für eine Szenerie, in der Jesus am Ende des Laubhüttenfestes den Glauben an sich selbst verkündigt?

Für die jüdische Umgebung des Johannes und auch für jüdische Ohren heute klingt das nach Gotteslästerung. Damals gab es keine Sondermarke zu 1700 Jahren Judentum in Deutschland, keinen jüdisch-christlichen Dialog, damals war eher die religiöse Kampfphase angesagt: Wer hat Recht?

Johannes konnte diese Frage, wer Recht hat, einfach nicht offen lassen. Zu frisch war seine eigene neue Identität als Christ. Erinnern Sie sich noch an den Schlager von Jürgen Marcus?

„Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.
Was einmal war, ist vorbei und vergessen und zählt nicht mehr.
Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.
Mir ist, als ob ich durch dich neu geboren wär‘.
Heute fängt ein neues Leben an.“

So ist es wohl mit den neuen Identitäten. Auch ein neuer Glaube ist wie ein neues Leben. Das Alte ist vorbei und vergessen und zählt nicht mehr. Die junge christliche Gemeinde des Johannes soll in ihrem Zusammenhalt nach innen hin gestärkt werden. Das ist ohne Abgrenzung nach außen kaum zu haben. Und ein bisschen Rechthaberei gehört auch dazu.

Johannes konnte die Dinge nicht offen lassen. Und so kommt denn auch der Jesus des Johannes-Evangeliums mit einem Sendungs- und Selbstbewusstsein daher, wie wir ihn aus den anderen Evangelien nicht kennen. Das Laubhüttenfest erinnert im alten Leben an die Wüstenzeit und die Gabe Leben spendenden Wassers. Die neue Liebe zu Jesus Christus ordnet die Dinge neu. Das neue Leben, das ist das Leben, in dem Jesus Christus den Durst stillt.

[Das neue Leben hat einen neuen Leitstern]

Das Laubhüttenfest endet mit dem Festtag Simchat Tora, dem Tora-Freudenfest. An diesem Tag werden die Lesungen der Tora im Gottesdienst abgeschlossen. Und die neue Lesung beginnt. Anders als bei uns wird in einem Jahr die gesamte Hebräische Bibel gelesen. Nicht nur Ausschnitte. Die Bibel ist in Abschnitte eingeteilt; fortlaufend wird an jedem Schabbat einer dieser Abschnitte im Gottesdienst gelesen und ausgelegt.

Mit Jesu Ruf am Ende des Laubhüttenfestes treffen dann also nochmals das alte und das neue Leben aufeinander: Für die einen ist die Tora die Gabe Gottes. Hier steht alles drin, was man für das Verhältnis von Gott und Mensch und von Mensch zu Mensch wissen muss. Ihr Zentrum, die Zehn Gebote, wurden während der Wüstenwanderung offenbart. Und der Auszug aus Ägypten ist die ganz grundsätzliche Befreiung durch Gott, an deren Ende das gelobte Land steht. Gott der Befreier, die Tora als Wegweisung für das neue Leben in Freiheit. All das schwingt beim Laubhüttenfest mit.

Und nun, zwischen Ende und Neuanfang der Tora-Lesung, in diesem Dazwischen, steht Jesus Christus. Jesus Christus, der Durstlöscher. Das neue Leben, der neue Glaube, hat einen neuen Leitstern: nicht mehr die Weisungen der Tora. Sondern der Glaube an Jesus Christus.

[Keine Rinnsale, sondern Ströme]

Wie die Schrift gesagt hat:
„Ströme lebendigen Wassers
werden aus seinem Inneren hervorströmen.“

Die Ströme lebendigen Wassers sind ein starkes Bild. Ein prophetisches Bild für das Ende der Zeiten aus dem Buch Sacharja: Und an jenem Tag werden lebendige Wasser aus Jerusalem fließen, die eine Hälfte zum Meer im Osten und die andere Hälfte zum Meer im Westen, und so wird es sein im Sommer und im Winter. Und der Herr wird König sein über alle im Lande. An jenem Tag wird der Herr der einzige sein und sein Name der einzige. Und das ganze Land wird verwandelt werden... (Sach 14,8-10a).

Das sind andere Dimensionen als eine Beregnungsanlage für heiße Sommer in Hildesheim. Es sind Ströme lebendigen Wassers am Ende der Zeiten, wenn auch die Völker mit Israel vereinigt sein werden.

Vor ein paar Monaten, schon in der Corona-Zeit, schrieb ich einem Freund, der als Freiberufler arbeitet: Ach, ich wünsche dir von Herzen volle Auftragsbücher! Mir war schon klar, dass das ein Wunsch von prophetischem Format war. Aber ich dachte: So kleine Kleckerwünsche schreibe ich ihm nicht. Nicht, dass sich doch mal ein Kunde erbarmen und ihm einen Auftrag erteilen möge. Wenn schon Wünschen, dann groß. So dachte ich. Und hörte dann monatelang nichts mehr.

Ich begann mich zu sorgen und bohrte nach. Der Freund hatte inzwischen volle Auftragsbücher. Aber meinen Wunsch damals fand er nicht so toll. Zu groß sei er gewesen, zu wenig passend zu seiner damaligen Lage.

So kann es gehen mit dem Wünschen. Die Bibel jedenfalls, das Alte und das Neue Testament, beide Testamente sind Weltmeister im Wünschen. Sacharja und Jesus: Wir hören da keine kleinen Mini-Verheißungen. Dass vielleicht so ein bisschen was besser wird. Sondern es ist das ganz große Bild: Ströme lebendigen Wassers werden fließen.

[Große Hoffnungen im Dazwischen]

Bei den Propheten gehen die Ströme lebendigen Wassers von Jerusalem aus. Im Johannes-Evangealium sind wir, die wir an Jesus als den Christus glauben, die Quelle solchen Strömens: Ströme lebendigen Wassers werden aus deinem Inneren hervorströmen.

Aus meinem Inneren auch? Aus Ihrem Inneren? Huch, da zucke ich nun doch etwas zusammen. So mag es dem Freund auch gegangen sein.

Nein, so weit sind wir noch nicht. Also aus meinem Inneren fließt vielleicht mal ein Rinnsal, das den einen oder die andere erquickt. Aber ob’s lebendig ist? Und lebendig macht? So weit ist es noch nicht.

So leben wir also im Dazwischen. Zwischen Schon. Und Noch-nicht. Und das eint uns mit den Juden, die auf das Eintreffen der Verheißungen der Propheten ja auch noch warten. Ströme lebendigen Wassers jedenfalls sind noch nicht zu sehen. Da wie dort nicht. Was für ein schöner großer Wunsch, der Hoffnung gibt! Aus den kleinen Rinnsalen werden Ströme lebendigen Wassers werden!

Amen.

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* Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2. durchgesehene Auflage 2001, S. 255.


Bärbel Husmann