Verbale Aufrüstung

Mittwochskolumne von Paul Oppenheim

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Wie jeder Krieg wird auch der Krieg in der Ukraine von einer Wortschlacht begleitet. Nicht nur schwere Waffen aus Stahl, sondern auch Worte und Begriffe, werden als schwere Geschütze in Stellung gebracht. Hierzu zählt der Begriff „Völkermord“.

Im Vorfeld des russischen Angriffs auf die Ukraine sprachen Putins Propagandisten vom „Völkermord“ an Russen im Osten der Ukraine. Solche Behauptungen wurden im Westen als haltlos abgetan. Seit dem jüngsten Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine sind es ukrainische Politiker, die von „Völkermord“ sprechen. Auch US-Präsident Biden und der kanadische Präsident Trudeau bezeichnen den russischen Angriffskrieg als „Völkermord“ (=genocide) am ukrainischen Volk.

Mich schockiert diese Wortwahl, weil sie den Holocaust  sowie die systematische Vernichtung anderer Volksgruppen relativiert. Der Massenmord an Millionen Juden in ganz Europa gab den Anstoß für die Konvention der UNO zur Verhütung und Bestrafung des Völkermordes aus dem Jahr 1948.

In seinem Buch1 „Rückkehr nach Lemberg“ beschreibt der Autor Philippe Sands, wie der vom Juristen Rafael Lemkin entwickelte Begriff des Genozids bzw. des Völkermords mühsam seinen Weg ins Völkerrecht gefunden hat. Im Umgang mit diesem Begriff war man anfangs noch so vorsichtig, dass er bei den Nürnberger Prozessen nahezu vollständig vermieden wurde. Erst ganz allmählich wurde er zur Beschreibung der Nazi-Verbrechen an den Juden verwendet.

Im Blick auf die systematische Vernichtung der Armenier durch die türkische Regierung in den Jahren 1915/1916 hat es ein ganzes Jahrhundert gedauert, ehe der Deutsche Bundestag im Jahr 2016 beschloss, dafür den Begriff Völkermord zu verwenden. Bis heute wird die systematische Ausrottung der Urbevölkerung Amerikas noch immer nicht als Völkermord geächtet und auch für die massenhafte Tötung und Misshandlung Einheimischer im Zuge der Kolonialgeschichte meidet man den Begriff.

Erst 1998 wurde im Zusammenhang mit den Massenmorden an der Volksgruppe der Tutsi in Ruanda ein Angeklagter wegen des Straftatbestandes des Völkermordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Seither wurden einige Massenmorde gegen ethnische oder religiöse Minderheiten vom Internationalen Strafgerichtshof als Völkermorde eingestuft. Die Achtung vor den Opfern solcher Gräueltaten gebietet es, den Begriff des Völkermordes nicht leichtfertig zu gebrauchen und eine unnötige verbale Aufrüstung zu vermeiden.

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1 Philippe Sands, Rückkehr nach Lemberg: Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Frankfurt am Main, 2018


Paul Oppenheim