'Mit Gewalterfahrungen allein gelassen'

Rheinland: Erste Forschungsarbeit zu sexualisierter Gewalt im Martinstift Moers

© Lutz Hartmann/Wikimedia

Die Arbeit zeigt den Alltag des Schülerheims in den 1950er Jahren als "Gewaltregime aus brutalen körperlichen Strafen und sexuellem Missbrauch".

„Aufarbeitung der gewaltförmigen Konstellation der 1950er Jahre im evangelischen Schülerheim Martinstift in Moers“ lautet die Überschrift der ersten regionalen wissenschaftlichen Untersuchung von Gewalt und sexualisierter Gewalt im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland. Am 30. März 2023 wird die Aufarbeitung im Rahmen eines Medientermins in Moers öffentlich vorgestellt. Die Evangelische Kirche im Rheinland kündigte zu dem Termin eine Stellungnahme von Vizepräses Christoph Pistorius an.

Die Lage in der Moerser Einrichtung beschreibt der Forschungsbericht in seiner Einleitung so: „Im evangelischen Schülerheim Martinstift in Moers wohnten in der ersten Hälfte der 1950er Jahre etwa 70 Jungen im Alter von zehn bis 20 Jahren. Sie besuchten das nahegelegene Gymnasium Adolfinum und sollten im Martinstift fernab des Elternhauses ein ,von christlicher Hausordnung geregeltes Gemeinschaftsleben‘ führen. Pädagogisches Personal stand dafür jedoch nur eingeschränkt zur Verfügung.“

Die meisten Mitarbeitenden seien „zudem ohne entsprechende Qualifizierung. Manche setzten sich bei den Jugendlichen daher auch mit Gewalt durch.“ Leiter des Schülerheims war seit 1953 der studierte Pharmazeut und Gymnasiallehrer Johannes Keubler. Seine Zeit als Schulleiter beschreibt die Arbeit als „Gewaltregime aus brutalen körperlichen Strafen und sexuellem Missbrauch konnte er fast zwei Jahre lang aufrechterhalten. In einem Prozess am Landgericht Kleve wurde er im Mai 1956 wegen ,Misshandlungen und sittlicher Verfehlungen‘ an zahlreichen Schülern zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.“

Obwohl der Missbrauch aufgedeckt, der Täter fristlos entlassen, angezeigt und strafrechtlich verurteilt worden war, „hatte nach Ende des Gerichtsprozesses fast niemand mehr mit seinen Opfern – den Schülern des Martinstifts – die Auseinandersetzung gesucht und ihnen Unterstützungen angeboten. Sie wurden mit ihren Gewalterfahrungen alleine gelassen“, so die Forschenden. Davon ausgehend haben sie nicht nur die Geschichte der Gewalt im Martinstift sowie die Geschichte ihres Verschweigens aufgearbeitet, sondern auch die pädagogischen Kontexte und den gegenwärtigen Umgang mit dem Fall. Ihr Bericht fragt danach, wie die heutigen Nachfolgeinstitutionen mit der institutionellen Verantwortung für die Geschehnisse umgehen.


Quelle: EKiR