Milieustudien in der kirchlichen Zukunftsdebatte

Chancen und Gefahren einer zielgruppenorientierten Angebotspolitik - nach Sinus-Milieus

Die Einteilung der Bevölkerung und auch der Kirchenmitglieder (und Nichtmitglieder) in Milieus kann erleichternd sein, verführt aber auch dazu, es sich zu leicht zu machen. Davor warnte unlängst der rheinische Oberkirchenrat Dembek in seiner Synoden-Eröffnungspredigt.

Früher wurden Menschen vornehmlich nach ihrem Stand (Adel, Bürger, Geistliche, Bauern, Leibeigene) sortiert, später nach Einkommens- bzw. Vermögenssituation bestimmten Klassen oder sozialen Schichten zugeordnet. Mit der Durchlässigkeit der Schichten und der wachsenden Mittelschicht, wurde diese rein materialistische Einteilung fragwürdig.

In den zunehmend politisierten 60er Jahren machte dann die Wahlforschung weltanschauliche Milieus aus, um die politischen Lager zu beschreiben und das wechselhafte Wählerverhalten zu erklären. Und schließlich war es die wachsende Werbebranche in den achtziger Jahren, die die Konsumenten danach typisierte, wie sich Menschen verhalten, welche Vorlieben sie haben und welche Produkte sie kaufen.

Als einigermaßen seriös gelten heute die Modelle des SIGMA-Instituts (eher soziologische Lebensstil-Forschung), des Sinus-Institus (regelmäßig aktualisierte Aufteilung und Beschreibung der Milieus) und das Modell von Gerhard Schulze aus seinem Buch "Die Erlebnisgesellschaft". Die Sinus-Milieus werden zum Beispiel nach folgenden Kriterien beschrieben: Soziodemografische Merkmale, Werteprofil, Selbstbild und Weltbild,  Freizeitaktivitäten, Umgang mit Geld, Konsumorientierung, Marken- und Qualitätsbewusstsein, Aufgeschlossenheit für Werbung, Modebewusstsein, Öko-Konsum, Technik-Interesse, Gesundheitsbewusstsein.

Die Milieus verändern sich teilweise innerhalb weniger Jahre erheblich. Ihre Existenz und Stabilität ist von Faktoren abhängig, wie z.B. der wirtschaftlichen Entwicklung, dem Stand der Arbeitslosigkeit und der Bildungssituation. So gab es nach der deutschen Wiedervereinigung jahrelang ein Milieu, das durch eine ausgeprägte "Ostalgie" erkennbar war. Dieses hat sich nun - nach Meinung der Soziologen - seit einigen Jahren wieder zugunsten anderer Gemeinsamkeiten aufgelöst.

Milieustudien sind heutzutage vor allem für das Marketing interessant. Denn innerhalb eines Milieus kann es leichter als quer durch die Beölkerung gelingen, ein Produkt bekannt zu machen: Menschen eines Milieus nutzen die gleichen Medien, reden untereinander über ihre Wünsche, vergleichen sich gegenseitig und passen sich aneinander an. So kann mit wenig Werbeaufwand manchmal schnell ein hoher Bekanntheitsgrad und eine große Kaufbereitschaft erzeugt werden (siehe z.B. Apple-Produkte).

Für die Kirchen kann es interessant sein, welche Milieus sie mit ihren Angeboten bzw. den Angeboten ihrer Gemeinden erreicht und wo auffällige Defizite bestehen. Wenn eine Kirchengemeinde z.B. in einem Stadtteil ihren Ort hat, in dem bevorzugt Menschen eines bestimmten Milieus wohnen, wäre es kaum sinnvoll, diesen Umstand zu ignorieren.

Umstritten dürfte dagegen sein, ob sich Gemeinden oder gar ganze Kirchen bestimmte Milieus als bevorzugte Zielgruppen vornehmen sollen. Denn dann fallen zwangsläufig andere durch das Raster - eine Vorstellung, die jedenfalls nicht zur volkskirchlichen Struktur der großen deutschen Kirchen passt. Diese macht es zum Auftrag der Kirche, alle Menschen gleich ernst zu nehmen und sie miteinander zum "Volk Gottes" zu verbinden.

Anders sieht es in Ländern wie den Vereinigten Staaten von Amerika aus. Zu keinem Zeitpunkt ist die amerikanische Gesellschaft sozial einheitlicher sortiert als am Sonntag Morgen. Jedes Milieu hat seine eigene Gemeinde, seine eigene Frömmigkeit, seine eigene Frömmigkeitssprache und seine eigene Feierkultur. Soziale Einheitlichkeit macht Vieles leichter und verständlicher, fördert aber nicht gerade den Zusammenhalt der Gesellschaft.

Einige Autoren empfehlen der Kirche und insbesondere den Gemeinden vor Ort eine Auseinandersetzung mit den Milieustudien. Dazu zählt vor allem der Bonner Theologieprofessor Eberhard Hauschildt, der die "Segmentierung der Gesellschaft" als gegeben hinnimmt. Hauschildt plädiert für ein "milieuspezifisches kirchliches Engagement" aber auch für eine "milieuverknüpfende Arbeit" (Milieus praktisch, Seite 295).

Der rheinische Oberkirchenrat Jürgen Dembek hatte jüngst in seiner Predigt zur Eröffnung der Synode betont, das Himmelreich sei nicht "für ein bestimmtes Milieu reserviert" und hatte sich dafür ausgesprochen, die "Distanzierten" mehr in den Blick zu nehmen und missionarische Volkskirche zu sein.

Literaturempfehlungen:

Claudia Schulz /  Eberhardt Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch. Analyse- und Planungshilfen für Kirche und Gemeinde >>> (bei Amazon mit Leseprobe)

Claudia Schulz /  Eberhardt Hauschildt / Eike Kohler, Milieus praktisch II: Konkretionen für helfendes Handeln in Kirche und Diakonie >>> (bei Amazon mit Leseprobe)

Michael N. Ebertz / Bernhard Wunder (Hg), Milieupraxis: Vom Sehen zum Handeln in der pastoralen Arbeit >>> (bei Amazon mit Leseprobe)

Michael N. Ebertz u.a., Hinaus ins Weite - Gehversuche einer milieusensiblen Kirche. Im Auftrag des Arbeitskreises "Pastorale Grundfragen" des ZdK

Carsten Wippermann (Autor), Marc Calmbach (Autor), BDKJ (Herausgeber), MISEREOR (Herausgeber), Wie ticken Jugendliche? Sinus-Milieustudie U27


Georg Rieger, Januar 2011
EKD-Institut präsentiert auf ''Kirchehochzwei'' den Milieu-Selbsttest

EKD. Sehen Sie gerne Spielfilme, Sportsendungen oder politische Magazine? Welche Vorlieben haben Sie? Mögen Sie Rockmusik oder trifft das für Sie gar nicht zu? Testen Sie sich selbst! Vom 14. bis 16. Februar gibt es dafür auf dem Kongress „Kirchehochzwei" in Hannover die "Milieu-Box".