Die ''religiöse Flanke'' von Menschenwürde und Menschenrechten

Gedanken zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2011, dem Vorabend des 3. Advents

Von Barbara Schenck

- Die Würde des Menschen ist unantastbar 
- Drei Facetten einer theologischen Flanke
- Am Anfang war nur ein Adam - Niemand kann sagen: "Mein Vater ist größer als deiner."
- Biblische Gerechtigkeit - Option für die Armen
- Der Gottessohn ein Flüchtlingskind - "Lasst die Kinder zu mir kommen!"

 

Die Würde des Menschen ist unantastbar

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." - So steht es seit dem 10. Dezember 1948 am Anfang der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der "UN-Menschenrechtscharta".
Das klingt selbstverständlich: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Das Grundgesetz des Bundesrepublik beginnt mit 19 Artikeln Grundrechten, in denen sich das deutsche Volk bekennt "zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt."
Doch was selbstverständlich klingt, muss noch lange nicht selbstverständlich sein - im philosophischen Nachdenken wie im menschlichen Miteinander. Immer wieder wird um eine Begründung der Menschenrechte gerungen. Wie verhalten sich Menschenrechte und Menschenwürde zueinander?
Unlängst vertrat Jürgen Habermas die These: Die Menschenwürde sei Quelle der Menschenrechte. Die gleiche Menschenwürde eines jeden begründe die Unteilbarkeit aller Menschenrechte (1).
Prompt folgte eine kritische Anmerkung: "die religiöse Flanke der moralischen Quelle der Menschenwürde" dürfe nicht, wie beim Philosophen Habermas geschehen, unterschlagen werden (2).

Drei Facetten einer theologischen Flanke

Drei Aspekte einer "christlich-religiösen Flanke" seinen an dieser Stelle benannt. Dabei wäre es allerdings geisteswissenschaftlich korrekter, von einer "theologischen Flanke" zu sprechen.
Diese theologische Flanke ankert im biblischen Schöpfungsbericht, in dem Gott, der sein Volk aus der Knechtschaft befreit und Weisung gibt, die Elenden, Armen, Witwen, Weisen und Fremden zu schützen, und in dem Gott, der seinen Sohn als Flüchtlingskind zur Welt kommen lässt.

Am Anfang war nur ein Adam - Niemand kann sagen: "Mein Vater ist größer als deiner."

Am Anfang schuf Gott einen Menschen, einen Adam, erzählt die Bibel. Der Mensch wurde zunächst allein geschaffen. Das war kein Zufall oder eine Laune des Schöpfers, sondern eine bewusste Entscheidung Gottes. Denn, so lehrt jüdische Auslegung:
"Deshalb wurde der Mensch allein geschaffen, um Frieden in der Menschheit zu bewahren, dass niemand zu seinem Nächsten sage: Mein Vater war größer als deiner!"
Alle Menschen stammen von dem einen Adam ab, niemand kann sich über einen anderen erheben. Da sollte es selbstverständlich sein, die Würde des Anderen und seine Menschenrechte zu wahren. Die Rabbinen spitzen diese Erkenntnis zu:
"Die Tora lehrt uns, wer eine Seele zerstört, wird betrachtet, als habe er eine ganze Welt zerstört. Und wer eine Seele rettet, wird betrachtet, als habe er eine ganze Welt gerettet. (Mischna Sanhedrin 37a)" (3)

In der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung spiegelt sich dieser biblische Grund der unveräußerlichen Menschenrechte, wenn es dort heißt:
"dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt wurden" (4).

Biblische Gerechtigkeit - Option für die Armen

Die Menschenrechte werden in Kirche und Theologie "nicht mehr bestritten, vielmehr als geradezu selbstverständlich und evident vorausgesetzt" (5). Wer Menschenrechte und biblische Gerechtigkeit genauer einander zuordnen möchte, kann das mit dem von Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt entworfenen Modell von Analogie und Differenz tun:
"Wir nehmen also an, dass in den Menschenrechten etwas aufleuchtet, das in Analogie zu dem steht, was der Glaube als die Gabe Gottes für alle Menschen zu entschlüsseln vermag, das aber zugleich die Differenz jeder menschlich-geschichtlichen Gemeinschaft - auch jeder Rechtsgemeinschaft - gegenüber der Teilhabe an der Herrschaft Gottes und dem Sein im Leibe Christi deutlich erkennen lässt." (6)

Die biblische Weisung, die Tora, leistet aus ihrem Rechtsverständnis heraus einen eigenen Beitrag zur Konkretisierung von Menschenrechten. Die Tora kennt die Option für die Armen, Gottes Forderung, die Witwen, Waisen und Fremden vor Übergriffen und Not zu schützen. Und sie gibt konkrete Weisungen, Menschen vor staatlicher Willkür zu schützen (5. Mose 16,18f; 17,6), Asyl zu gewähren (5. Mose 19,1-7), vor Hunger zu schützen (5. Mose 23,25f; 24,19-21), eine Existenz sichernde Lohnzahlung zu gewähren (5. Mose 24,14f). (7)

"Und Gott wird abwischen alle Tränen ..." - Die Utopie einer neuen Erde, einer besseren Welt, hält die Verheißung offen. Das, was ist, ist nicht alles. Die Menschenrechte müssen weiter entwickelt werden, neben den bürgerlichen und politischen Menschenrechten wie dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, auf Meinungs- und Pressefreiheit, auf ein ordentliches Gerichtsverfahren, Wahlrecht usw., sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte zu fordern sowie die kollektiven des Rechts auf Frieden, Entwicklung und auf ein Leben in intakten Umwelt.

Der Gottessohn ein Flüchtlingskind - "Lasst die Kinder zu mir kommen!"

Der christliche Gottessohn ist ein Flüchtlingskind. Auf der Flucht von Bethlehem nach Ägypten hat Jesus noch Glück gehabt, vergleicht man sein Schicksal mit dem von flüchtenden Kindern unserer Tage: Er war nicht allein auf der Flucht. Seine Eltern standen ihm bei. Anders ergeht es den 3.000 bis 6.000 minderjährigen Kindern (noch nicht einmal ihre genauere Anzahl ist bekannt!), die ohne Begeleitung eines Erwachsenen nach Deutschland geflüchtet sind (8).

Der Erwachsene Jesus Christus scheint nicht vergessen zu haben, wie wichtig es für Kinder ist, unter elterlichem Schutz zu stehen. Gegen den Willen seiner Jünger, nimmt er die Kinder auf:
"Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes. Amen, ich sage euch: wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen. Und er schließt sie in die Arme und legt ihnen die Hände auf und segnet sie." (Markus 10,14-16)

Was sagt uns das heute? Wohl auch dies, "dass unser Umgang mit Kindern zum Maßstab des Gottesreiches schlechthin wird. Mit anderen Worten: 'Wer das Reich Gottes nicht so empfängt, wie er ein Kind empfangen würde, der wird nicht hineinkommen.' Also in dem Maße, wie eine Gesellschaft mit den Kindern umgeht, spiegelt sich die Präsenz Gottes wider." (9)  Zugespitzt auf den "worst case": Wer Kinder nicht zu sich kommen lässt mit ihren Anliegen, ihren Bedürfnissen und Rechten auf Nahrung, Unterkunft und Bildung, kann auch das Reich Gottes nicht empfangen. Oder hoffnungsvoll-utopisch: "Wo Kindern die Wahrnehmung ihrer Rechte ermöglicht wird und allen Kindern unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus ein Platz für gelingendes Leben geboten wird, da ist das Reich Gottes spürbar." (10)

Da bleibt noch viel zu tun in Deutschland: 16.000 Kinder warten z.Zt. auf eine Entscheidung im Asylverfahren, 24.000 sind lediglich "geduldet" und leben in einem unsicheren Status, allein in Berlin warten rund 80 Flüchtlingskinder auf einen Schulplatz. Für sechsjährige Kinder liegen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz bei derzeit monatlich 132 Euro, das sind fast 50% weniger als der Regelsatz eines gleichaltrigen Kindes nach Hartz-IV (251 Euro).
Die UN-Kinderrechtskonvention gilt seit dem 15. Juli 2010 in der Bundesrepublik ohne Vorbehalt auch für Flüchtlingskinder. Trotzdem werden die Menschenrechte der Asyl suchenden Kinder und Jugendlichen missachtet. Politisch betrachtet ein Skandal und im Glauben eine Sünde.

Anmerkungen / Literatur
(1) In seinem Vortrag "Das utopische Gefälle. Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte" (2010), abgedruckt in den Blättern für deutsche und internationale Politik, August 2010; http://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2010/august/kurzgefasst
(2) Vgl. den Artikel "Die Würde des Menschen ist verletzbar". Von Dirk Pilz in der Berliner Zeitung vom 13.11.2010; http://www.berliner-zeitung.de/archiv/pro-und-contra-juergen-habermas--ist-die-menschenwuerde-die-quelle-der-menschenrechte--die-wuerde-des-menschen-ist-verletzbar,10810590,10754398.html
(3) Vgl. Nechama Leibowitz, Sidrath Bereschith: Der Mensch in Gottes Ebenbild, http://www.hagalil.com/judentum/torah/leibowitz/bereschit.htm
(4) Vgl. CHANCE FÜR EINE GERECHTERE WELT BIBLISCH-THEOLOGISCHE IMPULSE ZU DEN WIRTSCHAFTLICHEN UND SOZIALEN MENSCHENRECHTEN IM KONTEXT DER GLOBALISIERUNG beschlossen von der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland am 12. Januar 2011, 17.
(5) Zitiert nach: Chance, a.a.O., 16.
(6) Vgl. Huber, Wolfgang und Heinz Eduard Tödt: Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt. 3. Aufl. München: Chr. Kaiser Verlag, 1988, S. 162, zitiert nach: Chance, a.a.O., 17.
(7) Vgl. Chance, a.a.O., 13.
(8) Angaben unter www.jetzterstrechte.de
(9) Vgl. Predigtanregungen zu Markus 10,13-16; http://www.ekd.de/download/tag_menschenrechte_2011.pdf
(10) Vgl. Predigtanregungen zu Markus 10,13-16; http://www.ekd.de/download/tag_menschenrechte_2011.pdf


Barbara Schenck, November 2011