Nächstenliebe verlangt Klarheit!

Der Rat der EKD zur aktuellen Debatte um Rechtsextremismus in Deutschland

EKD / 8. Mai 2012. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland nimmt den Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges vor 67 Jahren zum Anlass, die menschenverachtenden Taten und Äußerungen rechtsextremer Gruppierungen auf das Schärfste zu verurteilen.

Einen entsetzlichen Höhepunkt stellt dabei die mörderische Gewalt dar, die von im Untergrund tätigen Neonazis in den vergangenen Jahren ausgeübt wurde. Die Einstellungen, aus denen diese Äußerungen entstehen, finden sich in der Mitte unserer Gesellschaft und somit auch vereinzelt unter Mitgliedern unserer Kirche. Das christliche Gebot der Nächstenliebe gebietet es, uns in aller Klarheit gegen solche menschenverachtenden Einstellungen und Taten, die diesen folgen, auszusprechen. Wesentlich sind nach Überzeugung des Rates insbesondere folgende Grundeinsichten, die uns die Heilige Schrift ans Herz legt:

   I. Theologische Grundlagen

1. "Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde; zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." (1. Mose 1,27)

Alle Menschen sind von Gott nach seinem Bild geschaffen. Darauf beruht nach biblischem Verständnis ihre Würde als Menschen. In der Gottesebenbildlichkeit gründen auch die mit der Würde gegebenen unveräußerlichen Menschenrechte, die für alle Menschen in gleicher Weise gelten. 

Deshalb sind wir als Christenmenschen verpflichtet, gegen die Abwertung und Missachtung von Menschen aufzustehen.

Wir beten dafür, dass Gott uns in der Nachfolge des Urbildes seiner Liebe, Jesus Christus, die Fähigkeit verleiht, Gutes von Bösem zu unterscheiden. Wir bitten auch darum, dass er uns die Kraft gibt, das Gute zu tun und dem Bösen zu widerstehen.


2. Wir leben in einem Land, in dem Menschen aus vielen Völkern, Kulturen und Religionen ihr Leben führen. Die Bibel gibt uns klare Weisung zum Verhalten gegenüber Zugewanderten: "Die Fremdlinge sollst du nicht bedrängen und bedrücken; denn ihr seid auch Fremdlinge in Ägyptenland gewesen." (2. Mose 20, 22)

Wir akzeptieren deshalb nicht, dass Migranten und Migrantinnen oder Deutsche mit ausländischen Wurzeln gewaltsam bedrückt und bedrängt werden. Als Christen und Christinnen treten wir dafür ein, dass sie ihre Persönlichkeit entfalten, ihre Kultur und Religion im Rahmen des Grundgesetzes leben können. Damit treten wir auch aktiv ein für die freiheitliche Demokratie in unserem Land.

Wir beten darum, dass Gott unserer Kirche und unserer Gesellschaft immer wieder neu den Geist des Friedens, der Freundlichkeit und der Toleranz schenkt.


3. "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Galater 3, 28) Mit diesen Worten hat der Apostel Paulus die Kirche als eine Gemeinschaft beschrieben, in der Unterschiede zwischen  Menschen keine Trennung, sondern eine Bereicherung bedeuten. Die Taufe auf Christus schafft eine Gemeinde, in der die Unterschiede zugunsten der Einheit zurücktreten.

Der christliche Glaube entfaltet diese verbindende Kraft nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch im Blick auf das gesellschaftliche Zusammenleben. Unvereinbar damit ist jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sei es, dass sie sich gegen Migrantinnen und Migranten, Menschen jüdischen oder muslimischen Glaubens, Menschen mit Behinderungen, Wohnungslose oder gegen Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung richtet.

Wir beten dafür, dass unsere Gemeinschaft durch das Band der Liebe immer stärker wird und unsere Kirche für die durch Christus begründete Einheit und Gleichheit mutig eintritt.

4. Obgleich das christliche Verständnis vom Menschen rechtsextremistischen Einstellungen widerspricht, vertreten auch Kirchenmitglieder fremdenfeindliche, antisemitische, islamophobe und rassistische Auffassungen. Das Böse als Teil unserer selbst können wir nicht aus eigener Kraft überwinden. Paulus formuliert diese Einsicht so: "Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich." (Römer 7, 18+19) Deshalb bitten wir mit den Worten des Vaterunsers um unsere Erlösung vom Bösen.

Gleichzeitig mahnen wir einzusehen, dass die Schuld der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft nicht wegerklärt oder verharmlost werden darf.

Wir bitten darum, dass Gott uns immer neu unsere Schuld erkennen lässt und neue Anfänge schenkt.

5. Wir wissen, dass rechtsextremistische Einstellungen nahezu immer Antijudaismus, Antisemitismus und Israelfeindschaft einschließen. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage des Apostels Paulus für uns entscheidend: "Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich." (Römer 11, 18b) Als Christenheit sind wir mit dem Volk Israel unlöslich verbunden. Wir bezeugen die bleibende Erwählung des Volkes Israel zum Volk Gottes. Das Bekenntnis zu dem Juden Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein.

Wir ergreifen Partei, wenn Jüdinnen und Juden Opfer von Verleumdungen, Hass und Gewalt sowie aufgrund ihrer Religion angefeindet werden. Wir stehen für das Existenzrecht des Staates Israel und das friedliche, an den Menschenrechten orientierte Zusammenleben aller Völker im Nahen Osten ein.

Wir beten dafür, dass Gott sein Volk Israel schützt und dass er seine Christenheit die bleibende Verbindung mit Israel nicht vergessen lässt.

6. "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!" (3. Mose 19, 18 und Jesus bei Lukas 10,27) Das Gebot der Nächstenliebe verlangt Klarheit gegenüber rechtsextremistischen Haltungen jeder Art. Wir wollen die eigenen Anstrengungen zur Auseinandersetzung mit rechtsextremen und antidemokratischen Einstellungen weiter verstärken. Alle evangelischen Christinnen und Christen bleiben dem Auftrag ihrer Kirche verpflichtet, deutlich und unmissverständlich Zeugnis vom Evangelium Jesu Christi abzulegen, das allen Menschen gilt.

Mit ihren antichristlichen Parolen untergraben rechtsextremistische Gruppen eine Kultur, die von dem Gebot der Nächstenliebe geprägt ist. Das ruft unseren Widerspruch und Widerstand hervor.

Wir bitten darum, dass Gott Klarheit und Kraft schenkt für entschiedenes Engagement gegen rechtsextremistische Einstellungen wie gegen alle anderen menschenfeindlichen Haltungen, die uns in unserer Gesellschaft begegnen. Wir beten, dass der Gott des Friedens, der Liebe und der Barmherzigkeit unser Leben und Handeln in Kirche und Gesellschaft bestimmt.

     II. Konsequenzen

1. Vor dem Hintergrund dieser theologischen Grundeinsichten fordert der Rat der EKD dazu auf, neonazistischen, rassistischen, antijüdischen und islamophoben Äußerungen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen und kirchlichen Lebens energisch entgegen zu treten. Wir bieten uns als Partner von Politik, Staat und Gesellschaft an, wenn es um diesen Widerstand geht. Wir bitten die Bundesregierung, entsprechende Projekte, die von zivilgesellschaftlichen Gruppen initiiert werden, noch konsequenter als bisher zu unterstützen. Dazu gehören insbesondere Programme zur Unterstützung von Menschen, die sich von rechtsextremistischen Überzeugungen gelöst haben.

2. Der Rat spricht sich erneut dafür aus, auf die „Extremismusklausel“ zu verzichten. Sie erschwert die Arbeit von Gruppen und Initiativen gegen den Rechtsextremismus. Zum einen sehen sie sich und ihre Kooperationspartner durch diese Forderung unter Generalverdacht gestellt, zum anderen werden sie zu hoheitlichen Kontrollaufgaben verpflichtet, die ihren Aufgabenstellungen nicht entsprechen.

3. Wir danken ausdrücklich den Mitgliedern der „Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus“, der „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ und vielen anderen kirchlichen Gruppen und Initiativen, deren wichtige Arbeit weiterhin förderungswürdig und unterstützenswert ist. Dafür treten die EKD und ihre Landeskirchen ein. Insbesondere muss sichergestellt werden, dass kirchliche wie kommunale Angebote für Kinder und Jugendliche auch in strukturschwachen Regionen zur Verfügung stehen. Prävention und Immunisierung gegen totalitäre, und damit auch rechtsextremistische Verführungen muss so früh wie möglich in Erziehung und Bildung beginnen.

Wir sprechen allen Personen, Gemeinden und Initiativen, die an vielen Orten einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Rechtsextremismus leisten, unseren Dank aus und ermutigen sie, heute und künftig für die nötige Klarheit zu sorgen – für Klarheit aus Nächstenliebe.

 

Für die Richtigkeit:
Reinhard Mawick
Pressestelle der EKD

Hannover, 8. Mai 2012