Abendmahl und Verrat

Predigt zu Markus 14,17-28 (Gründonnerstag)


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Warum ist Jesus trotz Verrat aus den eigenen Reihen nicht gescheitert - wie Politiker heute -, sondern geistlich auferstanden?

17 Als es Abend geworden war, kam Jesus mit den Zwölfen zum Passahmahl hinzu. 18 Und während sie zu Tisch lagen und aßen, sagte Jesus: »Wahrlich ich sage euch: Einer von euch wird mich ausliefern, einer, der hier mit mir isst.« (Ps 41,10) 19 Da wurden sie betrübt und fragten ihn, einer nach dem andern: »Doch nicht ich?« 20 Er antwortete ihnen: »Einer von euch Zwölfen, der mit mir in die Schüssel eintaucht. 21 Denn der Menschensohn geht zwar dahin, wie über ihn in der Schrift steht; doch wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Für diesen Menschen wäre es das Beste, er wäre nicht geboren!«

22 Und während des Essens nahm Jesus ein Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen mit den Worten: »Nehmt! Das ist mein Leib.« 23 Dann nahm er einen Becher, sprach das Dankgebet und gab ihnen den, und sie tranken alle daraus; 24 und er sagte zu ihnen: »Das ist mein Blut, das Bundesblut (2. Mose 24,8), das für viele vergossen wird. 25 Wahrlich ich sage euch: Ich werde vom Saft der Reben hinfort nicht mehr trinken bis zu jenem Tag, an dem ich den neuen Wein trinken werde im Reich Gottes.«

26 Nachdem sie dann die Dankpsalmen gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg. 27 Dabei sagte Jesus zu ihnen: »Ihr werdet euch alle von mir abwenden; denn es steht geschrieben (Sach 13,7): ›Ich werde den Hirten schlagen, dann werden die Schafe sich zerstreuen.‹ 28 Aber nach meiner Auferweckung werde ich euch nach Galiläa vorausgehen.« (Predigttext Mk 14,17-28)

Liebe Gemeinde,

als 2005 Heide Simonis erneut zur Ministerpräsidentin gewählt werden sollte, fehlte ihr am Ende eine einzige Stimme. In allen vier Wahlgängen des Schleswig-holsteinischen Landtages scheiterte sie. Einer aus den eigenen Reihen hatte ihr die nötige Stimme vorenthalten. Ob Geld geflossen ist, ob Eitelkeiten im Spiel waren, Erpressung oder alte Rechnungen beglichen wurden, das ist bis heute ungeklärt. Auf jeden Fall ist Heide Simonis an diesem Tag politisch demontiert worden. Ihre Partei hat in Schleswig-Holstein dramatisch an Zuspruch verloren. Und der Verrat aus den eigenen Reihen wird noch lange die Zukunft der Partei belasten.

Einige Kommentatoren des Kieler Wahldebakels ereiferten sich über den Umstand, dass Heide Simonis durch die eigenen Leute gestürzt wurde. Doch genau betrachtet ist es vielfach so, dass die größte Gefahr nicht von außen droht – von der Konkurrenz oder der Opposition. Sondern ein Machtverlust wird nicht selten in den eigenen Reihen vorbereitet:

Helmut Kohl z.B. wäre im September 1989 beinahe durch Heiner Geißler, Rita Süssmuth und Kurt Biedenkopf gestürzt worden; sie wollten Lothar Späth zum neuen Bundeskanzler machen. [Nur die Ausreisegenehmigung für die in Ungarn festsitzenden DDR-Bürger rettete Kohl damals die Kanzlerschaft.] Oder denken wir an Oskar Lafontaine, der 1995 mit einer Rede Rudolf Scharping stürzte und an dessen Stelle zum Parteivorsitzenden gewählt wurde. Die Liste aus der Politik ließe sich hier problemlos fortsetzen.

II.

Liebe Gemeinde,

im heutigen Predigttext wird uns ein anderer Fall von Bedrohung aus den eigenen Reihen geschildert. Ein Fall, der anderes als bei Heide Simonis nicht zum politischen Tod führt, sondern zur geistlichen Auferstehung des Betroffenen und der von ihm begründeten Bewegung. Dies führt zu der Frage der vorliegenden Predigt, warum Jesus trotz des Verrats aus den eigenen Reihen nicht gescheitert ist – im Unterschied zu den genannten Beispielen.

Sehr schnell könnte man darauf hinweisen, dass der Verrat ja von Gott und Jesus einkalkuliert war, um schriftgemäß Kreuz und Auferstehung vorzubereiten. In unserem Predigttext wird diese Lösung auch kurz angedeutet, wenn Jesus vom vorgezeichneten Leidensweg des Menschensohnes spricht (V.18.21). Und in den anderen Evangelien kommt noch deutlicher zum Ausdruck, dass der Verrat zum Plan dazugehörte.[1] Doch diese theologische Deutung ist aus dem Abstand von mehreren Jahrzehnten aufgeschrieben und überspringt m.E. zu schnell die dadurch entstehenden kritischen Rückfragen. In unserem Predigttext sagt Jesus seinen Jüngern nicht: »Keine Sorge, das ist Gottes Plan, alles wird gut«, sondern zunächst verweist er auf den Abgrund des Verrats: »Wehe dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Für diesen Menschen wäre es das Beste, er wäre nicht geboren!« Jesu Lösung für die unerträgliche Situation am Vorabend seiner durch Verrat herbeigeführten Verhaftung ist zunächst eine andere.

III.

Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich diese bedrückende Situation am Abend in Jerusalem näher betrachten.

Zunächst einmal fällt auf, dass Judas in dem ganzen Abschnitt nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Es geht nicht um den Verrat eines Einzelnen, sondern um Krise und Misstrauen der inneren Gruppe um Jesus. Es ist die Gruppe der Zwölf, die zusammen mit anderen Jüngern und Jüngerinnen das Passahmahl in Jerusalem feiert. Diese Gruppe der Zwölf zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit Jesus in dieselbe Schüssel eintaucht (V. 20). Der Abstand beträgt also wenige Armlängen. Ein Abstand, an den Menschen einander nur lassen, wenn von dem anderen keine Gefahr ausgeht oder um ihn genauer zu beobachten. Jesus erfasst die im Raum stehende Verunsicherung und spricht sie offen an: »Einer von euch wird mich ausliefern, einer, der hier mit mir isst.« (V. 18).

Die Wirkung dieser Worte ist vergleichbar mit der Verkündung des Wahlergebnisses im Schleswig-holsteinischen Landtag: 34 zu 34 Stimmen. Einer aus der Landtagsfraktion der SPD hatte mit seiner  Stimme die noch amtierende Ministerpräsidentin dem Spott der Leute ausgeliefert. Alle sind entsetzt, einige schauen betreten zu Boden. Alle sind verdächtig. Denn einer von ihnen hat erahnen lassen, welche verborgene Macht in ihm steckt. Würde er auch dann, wenn es darauf ankommt, nicht davor zurückschrecken, die Tat zu vollenden. Würde er auch im letzten Wahlgang mit einem einzigen Kreuz ein politisches Erdbeben auslösen?

In Jerusalem dementieren die Jünger – einer nach dem anderen. »Doch nicht ich«, sagen sie. Aber Jesus nennt keinen einzelnen Namen, er verweist auf die unmittelbare Mahlgemeinschaft und nennt dann die Zahl zwölf: »Einer von euch Zwölfen, der mit mir in die Schüssel eintaucht.« (V. 20). Der Abgrund des Verrats ist also zum Greifen nah, er vergiftet das gemeinsame Mahl. Jesus weiß, dass er mit den Zwölfen an diesem Abgrund steht, dass der Abgrund unausweichlich ist. Und ein voreiliges »Gott will es so« hätte den Abgrund der Verunsicherung nur noch weiter geöffnet.

IV.

Die SPD in Schleswig-Holstein weiß bis heute nicht, wer der Verräter war. Keiner hat in seiner Verzweiflung den Weg der Selbsttötung gewählt und damit dem Verdacht Nahrung gegeben, er sei der gesuchte Abweichler gewesen, der heimtückische ›Heidemörder‹ - wie er in der Presse schon bald genannt wurde. Keiner vermag bis heute in dem Geschehenen einen höheren Sinn zu entdecken. Für einen gemeinsamen Neuanfang gibt es keine Zeichen. Und selbst, wenn die Partei wieder zu neuer Stärke erstünde, der einmal erlebte Abgrund der Verunsicherung bliebe ihr erhalten.

Anders in Jerusalem: Und damit komme ich nun zu der Frage, wie Jesus es geschafft hat, die Jünger für die Zeit nach dem erfolgten Verrat vorzubereiten, sie gegen die innere Zersetzung zu immunisieren.

V.

Dass die Gefahr dazu bestand, zeigen andere Nachrichten aus den Evangelien: Die Jünger zanken sich über einzelne Worte Jesu. Es gibt Rangstreitigkeiten unter ihnen. In Gethsemane verschlafen sie in der Nacht des Verrats, Jesus beizustehen. Und selbst Petrus verleugnet dreimal seine Zugehörigkeit zum Kreis der Jünger.[2]

Jesus hatte genau dies Petrus prophezeit und wusste, worauf er seine Jünger und Jüngerinnen vorzubereiten hatte. Für die Zeit seiner Abwesenheit musste er Vorsorge treffen. Denn schon beim Propheten Sacharja stand die Warnung, dass die Herde nach dem Verlust des Hirten auseinander getrieben würde (V. 27). Und genau das galt es zu verhindern.

Jesus tut dies, indem er an zwei alte Erinnerungen Israels anknüpft – an den Abend vor dem Auszug aus Ägypten und an den Bundesschluss am Sinai.

1. Die erste Erinnerung ist das Passahmahl, das Jesus an dem Abend mit seinen Jüngern in Jerusalem feiert. Das Passah erinnerte daran, dass Gott sein Volk gegen den Widerstand des Pharao aus der ägyptischen Gefangenschaft befreit hatte. Zehn Plagen ließ Gott über das Land kommen. Und erst bei der letzten Plage – dem Sterben der Erstgeborenen – ließ der Pharao die Israeliten ziehen. Um sich vor dieser letzten Plage zu schützen, sollten die Israeliten ein Lamm schlachten und dessen Blut an ihre Türpfosten streichen; der Todesengel würde dann an ihrem Haus vorbeigehen. Von daher bekam das Fest seinen Namen: Passah – was so viel bedeutet wie »überspringen, vorbeigehen, verschonen«. Jedes Jahr, wenn Juden und Jüdinnen das Passahlamm essen mit ungesäuertem Brot, Wein und Bitterkräutern, dann vergegenwärtigen sie, wie Gott ihre Vorfahren verschont und dann aus der Gefangenschaft herausgeführt hat.[3]

2. Die zweite Erinnerung betrifft den Bundesschluss am Sinai: Nach dem Auszug aus Ägypten errichtete Mose am Sinai einen Altar mit je einem Stein für die zwölf Stämme Israels. Er bespritzte zuerst den Altar mit Blut von einem Opfertier und dann auch die Israeliten, um den Empfang der Zehn Gebote und den Bund Gottes mit Israel zu besiegeln: »Siehe«, sagte Mose, »das ist das Blut des Bundes, den der Herr auf alle diese Worte mit euch geschlossen hat.« (Ex. 24,8).

Das Passahmahl und der Bundesschluss am Sinai – diese beiden Erinnerungen stehen im Raum, als Jesus an die Aufgabe geht, seine Jünger und Jüngerinnen auf das Kommende vorzubereiten.

Jesus lässt es nicht bis zum vierten Wahlgang kommen. Und er versucht auch nicht, den Verräter zu enttarnen. Jesus hält sich nicht für unabkömmlich, sondern bereitet seine Jünger vor auf die Zeit ohne ihn. Und hier sieht er zwei Gefahren: eine Gefahr von außen und eine Gefahr von innen.

a. Die äußere Gefahr bestand in der Verfolgung durch religiöse Instanzen. Und zugleich waren da die Römer, die das Land besetzt hielten und empfindlich auf jede Form von Aufbegehren reagierten. Jesu Verkündigung war religiös und politisch verdächtig. Und seine öffentliche Verurteilung musste seine Jünger in große Schwierigkeiten bringen. Deshalb war das von Jesus und seinen Jüngern gefeierte Passahmahl wie das erste Passahmahl in Ägypten ein Mahl in großer äußerer Bedrängnis. Und zugleich war es ein Hoffnungsmahl für die Bewahrung in dieser Not und für die Befreiung daraus: So wie die Israeliten ihre Türpfosten zum Schutz vor dem Verderben mit Blut bestrichen hatten, so reicht Jesus jedem von ihnen den Becher. Und, nachdem alle getrunken haben, sagt er »Das ist mein Blut (…), das für viele vergossen wird.« (V. 24). Im Kontext des Passahmahls konnten die Jünger das verstehen als ein Schutzzeichen für die bevorstehenden Bedrängnisse. Als ein Hoffnungszeichen dafür, dass die Gefahr vorübergehen wird. Dass der bedrohlichen Nacht ein Morgen folgen wird auf dem Weg ins Gelobte Land. Und Jesus macht deutlich, wo dieses Gelobte Land liegt: in Galiläa, wohin er seinen Jüngern nach der Auferweckung vorauseilen wird.

b. So weit die äußere Gefahr, der Jesus mit der Kraft der Passah-Erinnerung begegnet. Aber noch größer ist die Gefahr von innen: das Versagen, das Misstrauen, die Machtkämpfe, die fehlende Orientierung. Jesus beugt diesen Gefahren vor, indem er zum einen den Verrat vorher angekündigt. Er nimmt ihm damit das Überraschungsmoment, das den Verrat so wirksam macht. Dieser Verrat, so Jesus, steht nicht im Dienst des Verräters oder seiner Auftraggeber, sondern hat sich dem vorgezeichneten Weg unterzuordnen.

Zum anderen macht Jesus deutlich, dass selbst die größte Nähe zu ihm nicht vor Verrat und Untreue schützt. Jesus verlangt von seinen Jüngern und Jüngerinnen nicht, dass sie moralisch oder religiös makellos sind. Denn schon vorher hatte Jesus immer wieder Sünder und Sünderinnen in seine Mahlgemeinschaft aufgenommen. Und dies sollte auch weiterhin Geltung haben, weit über den Kreis der Jünger hinaus »für viele« (V.24).

Um das zu bekräftigen, erinnert Jesus mit einer Zeichenhandlung an den Bundesschluss am Sinai: »Das ist mein Blut, das Bundesblut (Ex 24,8), das für viele vergossen wird.« (V.24). Die Jünger konnten das verstehen als einen Neuen Bund, bei dem Jesus sie auf die Grundsätze seiner Verkündigung verpflichtete. Ein Neuer Bund, für den der Gott Israels in Jesus Christus der Garant ist. Sie konnten es verstehen als Vorwegnahme des himmlischen Mahles, bei dem sie wieder mit Jesus vereint sein würden.

Liebe Gemeinde,

in Schleswig-Holstein hat die unvorhergesehene Bedrohung aus den eigenen Reihen tiefe Verunsicherung hinterlassen. Und auf Jahre hinaus wird ein Neuanfang wohl schwierig bleiben.

Anders verhält es sich bei den Jüngerinnen und Jüngern Jesu. Sie werden zwar durch den Verrat und den Tod Jesu auseinander geschleudert. Aber sie sind durch das von Jesus eingesetzte Abendmahl gegen die Gefahren von außen und von innen immunisiert. Jesus hat in der Nacht des Verrats mit seiner vorausschauenden Liebe vorgesorgt für die treu- und hilflosen Jünger. In dem Auferstandenen begegnet ihnen der, der vorausblickend seine Gegenwart in Brot und Wein verheißt, der das Gemeinschaftsmahl ›zu seinem Gedächtnis‹ stiftet und seine Gegenwart und die schöpferischen Kräfte in dieses Mahl einbindet. Durch das Abendmahl ermöglicht Jesus, dass seine Jünger und Jüngerinnen zu allen Zeiten, auch in Zeiten größter Not, die Gemeinschaft mit ihm erneuern können.[4] Und so wollen wir dieses Mahl der Versöhnung, der Befreiung und des Friedens miteinander feiern.

»Und der Friede Gottes, der höher ist, als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.«

Amen. 


[1] »Was du tun willst, tue bald« (Joh 13,27b)

[2] Z.B. Mk 14,37-41.66-72; Lk 22,24; Joh 6,60.52.

[3] Ex 12; Num 9,1ff; 28,16ff; Dtn 16,1ff.

[4] Wichtige Hinweise verdankt die letzten Abschnitte den Überlegungen von Michael Welker, Was geht vor beim Abendmahl?, Stuttgart 1999, 53-63.80f.110-124.


Pfr. Dr. Achim Detmers, 2010