Backsteinpflaster und Sonnenstrahlen

Reformiertes Bekennen

©Foto: Ev.-luth. Kirchengemeinde Heppens

von Margit Ernst-Habib

Vor der Kirche befindet sich ein großer Platz, gepflastert mit hellen und dunklen Backsteinen, der in früheren Zeiten auch als Marktplatz genutzt worden sein mag – ein Kirchvorplatz, wie man ihn zu Hunderten in Norddeutschland findet und der sich in nichts von anderen zu unterscheiden scheint. Nähert man sich jedoch der Kirche vom Vorplatz aus, dann wird etwas Überraschendes sichtbar: Von der Kirchentür ausgehend formen die helleren Steine Sonnenstrahlen, die die Kirchenbesucher geradezu in die Kirche hineinzuleiten scheinen. In der Kirche selbst wird der Blick der Gemeinde zum Zentrum der Kirche, zu Kanzel und Abendmahlstisch geführt. Verlässt man die Kirche nach dem Gottesdienst wieder, dann geleiten dieselben Backsteine, die in das Herz der Kirche geführt haben, die Gemeinde wieder hinaus in die offene Weite des Vorplatzes. Diese jahrhundertealten, abgenutzten Steine, die die Gemeinde um Wort und Sakrament versammelt haben, senden sie jetzt in die Welt.

Werde ich danach gefragt, welchen Nutzen wir heute noch von den alten wie von neuen Glaubensbekenntnissen haben, dann beginne ich meine Antwort gerne damit, dass ich diese norddeutsche Kirche und ihre Sonnenstrahlen als Gleichnis verwendende. Das Bild von den »Backsteinpflastern und Sonnenstrahlen« öffnet den Blick dafür, wie historische, aber auch aktuelle Glaubensbekenntnisse  auch heute noch das Herz christlichen Glaubens, christlicher Frömmigkeit und christlichen Lebens zu berühren vermögen. Wie können diese Bekenntnisse, genau wie eben jene steinernen Sonnenstrahlen, uns in das Zentrum des Glaubens und Lebens der Kirche, der Gemeinschaft der Heiligen führen? Aber auch: Wo werden diese Bekenntnisse oder Teile von ihnen uns zu Stolpersteinen?

Bekenntnisse in der Reformierten Tradition

Beginnen wir jedoch mit dem Bekenntnisverständnis der reformierten Tradition, wie wir es nicht nur in den klassischen Bekenntnistexten der Reformationszeit, sondern gerade auch in den neueren Bekenntnistexten vorfinden. Reformiertes Bekenntnisverständnis unterscheidet die reformierte Tradition weltweit nicht nur von den meisten anderen christlichen Kirchen, sondern ist zudem entscheidend dafür, wie auch heute Bekenntnisse verstanden werden und wie sich reformierte Gläubige zu ihnen in Beziehung setzen. Wir können daher nicht wirklich in ein Gespräch mit Bekenntnissen eintreten, wenn wir nicht zunächst zur Kenntnis nehmen, wie diese Bekenntnisse selbst gehört, gelesen und bekannt werden wollen.

Backsteinpflaster ist strapazierbar und langlebig, aber es wurde nicht für die Ewigkeit gemacht. Wenn es seinen Zweck nicht mehr erfüllt, dann kann es umgebaut, ergänzt oder entfernt werden. Backsteinpflaster soll nützlich sein, eine bestimmte Aufgabe, einen alltäglichen Zweck erfüllen – und nicht von Zeit zu Zeit aus der Ferne betrachtet und bewundert werden. In gleicher Weise wollen auch reformierte Bekenntnisse benutzt werden und weder unkritisch verehrt noch wohlwollend ignoriert oder gar achtlos begraben werden. Diese reformierte Aufmerksamkeit gegenüber Bekenntnissen und Bekennen ist in der Familie der weltweiten christlichen Gemeinschaften besonders auffällig. Bei aller Hochachtung auch gegenüber überlieferten Bekenntnistexten (in unserem Kontext vor allem das Apostolische Glaubensbekenntnis und der Heidelberger Katechismus), haben reformierte Kirchen auch nach dem Reformationszeitalter im 16. Jahrhundert nicht damit aufgehört, neue Bekenntnisse für neue Zeiten und Orte zu verfassen. Allein seit der Barmer Theologischen Erklärung aus dem Jahr 1934 haben reformierte Kirchen weltweit mehr als 60 neue Bekenntnisse verfasst, die Mehrzahl davon in den Kirchen des globalen Südens. Diese Kirchen bekennen ihren christlichen Glauben erneut, weil sie das Prinzip des »Semper Reformanda« ernst nehmen: Die Kirche, unsere Kirche wie jede andere auch, ist nicht ein-für-allemal in der Vergangenheit »reformiert« worden, sondern bedarf immer wieder und von neuem der Reformation durch Gottes Wort – sie muss, im doppelten Wortsinn, immer wieder reformiert werden. Das kontinuierliche Bekennen des christlichen Glaubens, mit Worten und Taten, in Bekenntnissen, Predigten wie in allen Handlungen der christlichen Gemeinschaft, beruht auf eben dieser Reformation durch das Wort Gottes und wird von ihr fortdauernd gestaltet und geprägt. In diesem Sinne könnte man von der Reformierten Tradition als einer kontinuierlichen Bekenntnisbewegung sprechen, entsprechend der ursprünglichen Bezeichnung der verschiedenen Gestalten der einen Kirche als »Konfessionen« – im eigentlichen Wortsinn ja Bekenntnisse. Nicht nur die sogenannte Bekennende Kirche im Dritten Reich, nein, jede einzelne Kirche der reformierten Tradition ist per se bekennende Kirche und Teil der Bekenntnisbewegung – genau wie alle anderen christlichen Gemeinschaften auch, die mit dem Neuen Testament bekennen, dass »Jesus Christus der Herr ist« (Phil 2,11). Durch die Jahrhunderte führte das Vertrauen auf die Leitung des Heiligen Geistes viele Kirchen der reformierten Tradition daher immer wieder dazu, dass sie – hier und jetzt – erneut ausformulieren, was es heißt, diese Herrschaft Christi zu bekennen. Reformierte Kirchen, wenn auch nicht immer und überall, haben versucht, dieser Grundüberzeugung treu zu bleiben, indem sie für neue Bekenntnisprozesse offen blieben. Das für die deutschen reformierten Kirchen bekannteste Beispiel für dieses Bekenntnisverständnis ist die bereits erwähnte Barmer Theologische Erklärung von 1934; darüber hinaus ist auch das sogenannte Belhar-Bekenntnis der damaligen Niederländisch-Reformierten Missionskirche von Südafrika aus dem Jahr 1986 von großer Bedeutung, dessen 30. Jubiläum vor kurzem auch in unseren Kirchen und Gemeinden gefeiert wurde.

Bekenntnisse als untergeordnete Autoritäten

Mit diesem Bekenntnisverständnis werden reformierte Kirchen (und mit ihnen alle reformierten Christinnen und Christen) allerdings in eine schwierige Situation versetzt: Verstanden als Dokumente einer Bekenntnisbewegung stellen reformierte Bekenntnisse die Gläubigen mitten hinein in ein dialektisches Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Autorität, das häufig nur schwer auszuhalten ist. Als reformierte Christinnen und Christen handeln und bekennen wir nicht als freie, ungebundene »Herren« unserer selbst – unsere Bekenntnisse beanspruchen Autorität über uns, unseren Glauben, unser Handeln. Gleichzeitig jedoch ist diese Autorität keine absolute Autorität, sondern, im Gegenteil, nur eine vorläufige, zeitliche und relative Autorität. Um diese besondere Art von Autorität der Bekenntnisse verstehen zu können müssen, müssen wir zunächst einen Blick darauf werfen, welcher Autorität die Bekenntnisse selbst untergeordnet sind: Von ihren Anfängen an hat die reformierte Tradition nachdrücklich betont, dass kein Bekenntnis die Stelle von Gottes Wort einnehmen kann und dass letztgültige Autorität, auch und gerade in Bezug auf Glauben und Leben, immer in den Händen des lebendigen und weiterwirkenden Gottes verbleibt. Bekenntnisse sind in diesem Sinne kein Ersatz für das Wort Gottes, stattdessen führen sie uns zu dem Wort Gottes in Jesus Christus, wie es uns in der Heiligen Schrift Gottes bezeugt wird (Erste These der Barmer Theologischen Erklärung), gerade so, wie auch das Backsteinpflaster die Gemeinde zur Kanzel und zum Abendmahlstisch geführt hat. Kein Bekenntnis, und sei es theologisch noch so richtig und aktuell, ist in sich selbst Endzweck; recht verstanden »herrschen« reformierte Bekenntnisse also nicht, sondern dienen der Gemeinschaft der Heiligen, indem sie immer wieder auf Gottes Wort verweisen.

Zurecht ließe sich allerdings fragen, wozu wir überhaupt Bekenntnisse brauchen; ist denn die Bibel nicht ausreichend für alle unser Glaubens- und Lebensfragen? In gewisser Weise müsste diese Frage in der reformierten Tradition tatsächlich mit einem kräftigen »Ja« beantwortet werden; zusammen mit anderen protestantischen Kirchen haben reformierte Kirchen durch die Jahrhunderte den Reformationsslogan »sola scriptura« (allein aufgrund der Schrift) bekräftigt. Bekenntnisse ersetzen reformiertem Verständnis nach die Schrift nicht, beanspruchen nicht die gleiche Autorität wie die Heilige Schrift; sie bieten jedoch einen besonderen und spezifischen Dienst an: Als Vermittler stehen sie zwischen der Schrift und gegenwärtiger Sprache, Kultur und Leben. Sie wollen sich nicht an die Stelle der Bibel setzen, sondern bieten vielmehr einen ersten Kommentar zur Bibel (Karl Barth) an, der zum Verständnis der Schrift beitragen will. Gleichzeitig muss das Bekenntnis selbst immer wieder auch an eben dieser Schrift gemessen werden, muss überprüft werden, ob das Bekenntnis tatsächlich noch wiedergibt, was uns als Frohe Botschaft in der Bibel bezeugt wird – oder ob es dieser Botschaft vielleicht gar wie ein Stolperstein im Wege steht. Wenn auch die Bibel die erste und vorrangige Quelle ist, auf der wir das Bekenntnis zu überprüfen haben, so ist sie doch nicht die einzige, denn reformiertem Verständnis nach hat der Heilige Geist schon viele Male zuvor zur Kirche gesprochen und die christliche Kirche hat schon viele Male geantwortet. Daher werden Bekenntnisse in der reformierten Tradition immer wieder auch anhand von historischen und aktuellen Glaubensbekenntnissen der reformierten Tradition zu überprüfen sein, sogar auch im Blick auf Bekenntnisse, die außerhalb der reformierten Tradition entstanden sind. Finden wir in den anderen Bekenntnissen Aspekte der Frohen Botschaft, die wir übersehen haben? Finden wir in den anderen Bekenntnissen Fragen, vielleicht gar Kritik an uns, unseren Glauben und unser Leben, die wir nicht beantwortet haben?

Reformierte Bekenntnisse verstehen sich also nicht als absolute, sondern als untergeordnete Autoritäten, aber es ist ebenso wichtig wahrzunehmen, dass sie sich auch als Autoritäten verstehen. Sie verstehen sich selbst als bis auf weiteres gültige und geltende Ant-Wort der Kirche auf das Drängen des Heiligen Geistes, hier und jetzt ein neues Wort zu sprechen oder ein altes Wort für eine neue Zeit und einen neuen Ort aufs Neue zu interpretieren. Sie verstehen diese Ant-Wort nicht als ein weiteres, beliebiges Wort der Kirche, als eine kirchliche Erklärung unter vielen anderen, sondern als ein Wort, das seine Autorität über uns dadurch gewinnt, das es uns in die richtige Richtung weist: zu dem einen Wort Gottes, Jesus Christus. Reformierte Bekenntnisse beanspruchen für sich selbst, dem biblischen Zeugnis und dem Bekenntniskanon ihrer Tradition zu entsprechen, und falls wir diesen Anspruch für vertrauenswürdig halten, dann sind wir dazu aufgerufen, ihnen zu folgen. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, dann haben die Bekenntnisse tatsächlich Autorität über uns; dann sind wir gehalten, darauf zu vertrauen, dass sie uns recht lehren und leiten, sowohl in unserem gemeinschaftlichen als auch in unserem individuellen Leben. Die Synodalen der Barmer Synode sendeten 1934 ihre Thesen mit einem Aufruf an die evangelischen Gemeinden und Christen in Deutschland, der genau dieses reformierte Bekenntnisverständnis anschaulich macht und für uns heute eben noch so aktuell ist wie damals: »Prüfet die Geister, ob sie von Gott sind! Prüfet auch die Worte der Bekenntnissynode […], ob sie mit der Heiligen Schrift und den Bekenntnisschriften der Väter übereinstimmen. Findet ihr, dass wir wider die Schrift stehen, dann hört nicht auf uns! Findet ihr aber, dass wir in der Schrift stehen, dann lasset keine Furcht und Verführung euch abhalten, mit uns den Weg des Glaubens und des Gehorsams gegen Gottes Wort zu beschreiten.«

Zwischen Freiheit und Autorität

So versetzt also dieses Bekenntnisverständnis, wie gesagt, nicht nur die Gemeinschaft der Gläubigen, sondern auch die einzelne reformierte Christin, den einzelnen reformierten Christen in eine schwierige Situation. Auf der einen Seite sind wir in und mit unseren Kirchen dafür verantwortlich, selbst immer wieder die historisch überlieferten Bekenntnisse daraufhin zu überprüfen, ob sie tatsächlich Gottes Wort entsprechen, auf dem Boden der Bibel stehen und sich mit anderen Bekenntnissen vereinbaren lassen. Auf der anderen Seite müssen auch wir je und je neu entscheiden, ob nicht für uns jetzt auch die Zeit gekommen ist, ein neues Wort für unsere Zeit und unseren Ort zu bekennen. Dass dieses reformierte Bekenntnisverständnis tatsächliche keine einfache Aufgabe für reformierte Kirchen darstellt, lässt sich immer wieder auch daran ablesen, wie Kirchen und Gläubige mit ihren Bekenntnissen umgehen: Da gibt es den Versuch, dieser Spannung zwischen Freiheit und Autorität auszuweichen, indem einzelnen oder mehreren Bekenntnissen größtmögliche Autorität zugesprochen wird, oder – im Gegensatz dazu – wird die Existenz (reformierter) Bekenntnisse mehr oder weniger wohlwollend ignoriert, weil sie den eigenen Zwecken nicht (mehr) dienlich sind. Schaut man auf das Bekenntnisverständnis reformierter Kirchen nicht allein in der Vergangenheit, sondern auch weltweit in der Gegenwart, dann sind beide Wege keine wirklich reformierten Wege, sich zum Bekenntnis des christlichen Glaubens in Beziehung zu setzen, weil auf beiden Wegen die notwendige Spannung zwischen Autorität und Freiheit ignoriert wird.

Um zum Anfang unserer Überlegungen und dem Bild von den Sonnenstrahlen aus Backsteinpflaster zurückzukehren: Bekenntnisse wollen und sollen die Kirche zu ihrer Mitte leiten: Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird. Sie wollen und sollen einen ersten Kommentar zur Heiligen Schrift geben, sie wollen und sollen in den Chor der Bekenntniszeugen einstimmen, kurz: Sie wollen und sollen dienen. Sie versammeln die Gemeinde um ihr Zentrum und senden sie aus in die Welt, sie wollen zwischen der Schrift und unserem Leben vermitteln, sie wollen uns einen Weg des Glaubens und des Gehorsams ebnen. Solange sie das tun, solange sie uns nicht zu Stolpersteinen werden, solange können und sollen wir sie dankbar und frohgemut als Geschenke unserer Mütter und Väter im Glauben nutzen, um uns immer wieder als das Volk Gottes von neuem auf den Weg des Glaubens und des Gehorsams gegenüber Gottes Wort zu machen.
 


(Stark gekürzte Fassung des Artikels M. Ernst-Habib, A Conversation with the Twentieth-Century Confessions, in: Joseph D. Small (Hg.), Conversations with the Confessions. Dialogue in the Reformed Tradition, Louisville 2005)

 

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