Die Kraft des Wortes

Calvin und die Psalmen


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Calvin liebte die Sprache. In den Genfer Psalmen treten unsere ganzen Zweifel, Hoffnungen und Ängste zutage. Wir können uns in der Musik damit wiedererkennen.

Lieben Sie die Psalmen? Haben Sie beim Lesen oder Hören eines Psalms schon einmal gedacht: Ja, so ist es. Dieser Psalm spricht mir aus dem Herzen. Dieser Psalm erzählt auch von meinem Leben. Dieser Psalm gibt mir Energie zum Glauben und zum Leben. Dieser Psalm klingt so kunstvoll und melodisch, dass ich ihn gerne auch singen möchte. Wenn Sie diese und andere Erfahrungen mit Psalmen schon gemacht haben, dann teilen Sie eine grundlegende Empfindung, die der evangelische Jubilar dieses Jahres, Johannes Calvin, Zeit seines Lebens gemacht hat.

Calvin liebte die Sprache der Psalmen. Sie wurden ihm zu einer Lebensbegleiterin von den Jahren an, als er noch während seines Studiums der Rechtswissenschaften nicht nur die Gesetzesbücher, sondern die Bibel kennen- und schätzen lernte. Und mitten in der Bibel ließen ihn die Gebete Israels, deren Sprache wir Christinnen und Christen uns leihen, nicht wieder los. Calvin empfand es so, dass nicht er nach den Psalmen griff und in ihnen suchte – vielmehr griffen die Psalmen nach ihm und boten ihm Raum und Platz, um seinen Glauben und sein Leben in ihnen wiederzuentdecken.

Wenn sich die evangelischen Kirchen als Kirchen des Wortes verstehen, so hat das auch mit ihren Anfängen zu tun und besonders mit der Weise, in der Calvin die Bibel las. Calvin machte ernst damit, dass Christenmenschen von der Kraft des Wortes leben und ihr Reden und Tun an der ausgelegten biblischen Botschaft messen. Als Pastor und Lehrer der Kirche vertiefte er sich in die Schriften der ganzen Bibel, entwickelte eine besondere Leidenschaft für die hebräische Bibel und erklärte die Texte für die Gemeinde. Nahezu alle biblischen Bücher hat er kommentiert.

Ganz im Stile der Humanisten ging er dem Wortlaut – der hebräischen und griechischen Wahrheit, wie er sagte – auf den Grund, um sich den Blick auf die Texte nicht durch vorgefertigte Urteile verstellen zu lassen, sondern um selbst Gottes Stimme hinter den von Menschen geformten Worten zu entdecken. Immer wieder machte Calvin auf den unerschöpflichen Schatz der Bibel aufmerksam. Sie sei der „Schlüssel, der uns das Reich Gottes öffnet”, ein „Spiegel, in welchem wir Gottes Angesicht betrachten”, und das „Zeugnis seines guten Willens”.[1] Außerdem bezeichnet er sie als „Weg”, „Schule der Weisheit”, das „königliche Zepter” und göttlichen „Hirtenstab”.[2]

Durch diese geradezu liebevollen Kennzeichnungen der Bibel deutet Calvin an, was die Christenmenschen in ihr suchen sollen und finden können: einen Zugang zum heilsamen Herrschaftsbereich Gottes, einen Schlüssel zu einem sonst verschlossenen Raum. Calvin war davon überzeugt, dass die Bibel und in ihr die Psalmen Menschen dazu anleitet, Gott zu erkennen und auch sich selber zu erkennen. Die Bibel begleitet die Gemeinde auf ihren schwierigen und gefahrvollen Wegen durch die Zeit.

Die Frucht von Calvins lebenslanger Beschäftigung mit und Leidenschaft für die Psalmen ist ihre 1557 erschienene Auslegung. Seit 1549 predigt Calvin annähernd jeden Sonntag über die Psalmen. Es folgen Vorlesungen und Erklärungen über die Psalmen. Calvin beschäftigt also sich nahezu ein ganzes Jahrzehnt so intensiv mit den Psalmen, dass sie ihm zur wichtigsten alttestamentlichen Grundlage seiner Theologie werden.

Diese Jahre, in denen Calvin die Psalmen immer wieder von Neuem durchmisst, waren gekennzeichnet von schweren Auseinandersetzungen in der Genfer Kirche. Immer wieder trägt er seine eigenen Kämpfe – Anfeindungen und Verleumdungen, die er erlebte – feinsinnig in die Auslegung ein, wenn er etwa zu Psalm 41 erklärt: „Die Aufzählung seiner Leiden beschließt David mit der Klage darüber, dass er sogar von einem seiner besten Freunde Treulosigkeit erfahren musste.“[3]

Calvin zeigt sich als ein mit seiner ganzen Person engagierter Ausleger, der ein Gespräch mit den Psalmen und mit denen, die sie lesen, führt. Er erklärt: „Meine reichlichen Erfahrungen aus den Kämpfen, in denen der Herr mich auf die Probe gestellt hat, haben mir gehörig dabei geholfen, nicht nur die von mir [in den Psalmen] entdeckte Lehre für die Gegenwart nutzbar zu machen, sondern auch einen möglichst freien Weg gebahnt zu finden, um die Absicht der einzelnen Verfasser der Psalmen zu erkennen.“[4] Calvin ist der festen Überzeugung, dass seine eigenen Erfahrungen die Arbeit am Text nicht behindern, sondern ihn tiefer in den Sinn der Texte blicken lassen. In ihnen erkennt er „vielfältige und glänzende Reichtümer“ und einen „Schatz“[5], der dem „Aufbau der Kirche“[6] zugute kommen soll.

Calvins tiefes persönliches Engagement bei den Psalmen wird auch dadurch deutlich, dass er seiner Auslegung eine Vorrede voranstellt, in der er seine vergangenen Lebensjahrzehnte Revue passieren lässt. Ansonsten macht er wenig Worte über sich. Aber hier, im Umkreis der Psalmen, finden wir ein autobiographisches Selbstzeugnis. In ihm gibt Calvin Einblicke in sein Seelenleben, in seine Empfindungen und Gefühle. Die Psalmen selbst sind es, die ihn dazu anleiten. Calvin sieht in den Psalmen eine Aufgliederung – wörtlich sagt er: Anatomie – aller Teile der Seele, so dass jeder in ihnen ein Spiegelbild seiner eigenen inneren Regungen finden kann.[7]

Lebendig treten in ihnen Schmerzen, Traurigkeit, Befürchtungen, Zweifel, Hoffnungen, Sorgen, Ängste und Verwirrungen vor Augen. Sie bieten die Möglichkeit, ja reizen dazu, sich in ihnen wiederzuerkennen und sich mit ihnen zu identifizieren. Das gesamte Spektrum menschlicher Empfindungen einschließlich der Gottesbeziehung begegnet in den Psalmen, so dass die Menschen dies mit ihrem eigenen Leben in Beziehung setzen können. Wer die Psalmen liest, hört oder singt, entdeckt das eigene Leben mit seinen Grenzen, Schwächen und Abgründen wieder. Ferner vermitteln sie „himmlische[r] Weisheit“ und leiten Gotteslob an.[8]

Calvin entdeckt gerade in David, der nach damaligem Verständnis der Autor der Psalmen war, sein eigenes Leben und das der bedrängten Kirche wieder. In seiner unerwarteten Berufung zum Reformator, in seiner gefährdeten Stellung in Genf, in seinen Kämpfen und Niederlagen bei der Erneuerung der Kirche identifiziert er sich mit David. Und nimmt identisches Erleben und Erleiden bei sich wahr. Davids Erfahrungen – seine Erfolge, aber auch sein Scheitern und seine Schuld – werden Calvin zum Spiegel und Abbild seines eigenen Lebens.[9]

Dieses versteht Calvin gleichsam als Bühne, auf der Gott Regie führt. Calvin wörtlich: „Wie [David] von den Schafweideplätzen fort zur höchsten Königswürde erhoben wurde, hat Gott mich aus meinen dunklen und geringen Anfängen emporgehoben und mich mit dem so ehrenvollen Amt betraut, Verkündiger und Diener des Evangeliums zu sein.“[10]

Das Verständnis von Gott als Autor des eigenen Lebens erweist seine Kraft im Bestehen von Grenzerfahrungen. Diese erfährt Calvin vielfach, etwa als seine Frau nach nur neun Jahren Ehe starb oder als ihr gemeinsamer Sohn Jacques nach wenigen Tagen starb. Trotz allem: Calvin lebte und starb am Ende mit dem Vertrauen, dass Gott schöpferisch wirksam und in Davids und seinem eigenen Leben tatsächlich am Werk ist. In einer Predigt über Psalm 27 sagt Calvin: „David war ganz Mensch, den gleichen Leidenschaften unterworfen, die uns dann und wann quälen und umtreiben. Doch um eine feste Führung zu haben, gibt er Acht auf das, was Gott ihn sehen lässt.“[11]

Welche Entdeckungen macht Calvin in den Psalmen? Zwei Beispiele:

1. Die Psalmen reden von Gottes Regieren bis in die äußersten Winkel der Welt. Calvin spricht sogar davon, dass Gott wie ein König diese Weltregierung ausübt. Dies lässt die Zuversicht der Gemeinde wachsen, in den Bedrängnissen der Welt tatsächlich Schutz bei Gott zu finden. Würden die Christinnen und Christen Gottes universales Wirken in Abrede stellen, gerieten sie unweigerlich in Furcht und Zittern. Gottes Sorge um die Welt und den einzelnen Menschen vollzieht sich mit „wunderbarer Weisheit und Gerechtigkeit“ (zu Ps 93).[12]

Seine Herrschaft überragt nicht nur alles Irdische, sondern auch alle himmlische Herrlichkeit (zu Psalm 95). Wie sich Gottes Herrschaft in kosmische Dimensionen hinein erstreckt, so dehnt sie sich auch auf der ganzen Erde bis in die äußersten Winkel aus (zu Psalm 47). Calvin lenkt dabei den Blick auf die ökumenische Sammlung der Gemeinde und ihre Einheit. An anderer Stelle unterstreicht er die Lebensdienlichkeit von Gottes Herrschaft: Heil, Glück und Gerechtigkeit leuchten in aller Welt auf, ausgehend von den Juden bis hin zu den Völkern (zu Psalm 97).

Dies schließt die Bestrafung des Unrechts und die Bewahrung des auserwählten Volkes der Juden vor den sie umgebenden Feinden ein – ein Gesichtspunkt, dessen bedrängende Aktualität uns sehr bewusst ist. Und: Macht und Recht sind in dieser Herrschaft miteinander zu dem Ziel verbunden, dass auch unter den Menschen Gerechtigkeit wachsen möge (zu Psalm 99). So bedeutet Gottes Regieren Schutz und Ordnung der Welt (zu Psalm 145; 99). Die Ehre Gottes, die gelegentlich als Triumph Gottes über den Menschen missverstanden wird, steht nicht im Gegensatz zur menschlichen Freiheit. Gott habe „alles so gestaltet, dass alles, was zu seiner Ehre dient, auch für uns heilvoll ist“.[13]

Es geht Calvin um Gottes gerechte Macht, in der er sich selbst daran bindet, in allem, was er tut, Gott für die Menschen zu sein. „Wo Gott bekannt ist“, so Calvin, „ist auch für die Menschheit gesorgt“ (zu Jer 22,16). Aus diesem Satz spricht die Humanität Calvins – eine Humanität, die er der Menschlichkeit Gottes, der für seine Geschöpfe wach bleibt, abgeschaut hat.

2. Die Psalmen reden von der Schöpfung als einem „Schauspiel der Ehre Gottes“. Gott und seine Schöpfung gehören nicht nur am Anfang, sondern auf Dauer zusammen. Die Welt und unser Leben verdanken sich keinem blinden Zufall. Calvin wörtlich: „Die Welt ist [...] nicht zufällig aus Atomen hervorgegangen, sondern die wunderbare Ordnung, die wir vor uns sehen, ist auf Gottes Befehl auf einmal entstanden“ (zu Psalm 148).[14] Gott hat alles zu dem Ziel geschaffen, dass die Menschen Gottes Namen loben: „Wir wissen, dass wir auf diese Erde niedergesetzt sind, um mit einem Herzen und aus einem Munde Gott zu loben, und dass dies das Ziel unseres Lebens ist“ (zu Psalm 6).[15]

Wie Gott den Menschen geschaffen hat, um im Bund mit ihm zu leben, so hat er die Welt geschaffen, damit der Mensch in ihr heimisch wird: „Gott hat die Menschen geschaffen und in diese Welt gesetzt, damit er für sie ein Vater sein kann“ (zu Psalm 89).[16] Gott sorgt für die Welt, damit die Menschen seine Fürsorge empfinden (zu Psalm 115). Darum ist ein christliches Leben nach Calvin ein Leben mit Gott, das übrigens auch die Züge von Zufriedenheit (zu Psalm 16) und Freude an den besonderen Gaben der Schöpfung – etwa Wein und Öl – trägt (zu Psalm 104). An anderer Stelle spricht Calvin davon, dass sich Gottes Herrlichkeit „im Bau der Himmel und im Kunstwerk ihrer wunderbaren Ordnung“ spiegelt (zu Psalm 19).[17]

Selbst wenn das Meer „von Fischen entleert wäre, müsste es allein durch den Anblick seiner Weite und Tiefe bewundernswert sein, zumal da es bald, durch Winde und Stürme [erregt], anschwillt, bald wieder in großer Ruhe daliegt“ (zu Psalm 104).[18] Die Erde ist der Raum der Güte Gottes, den Gott den Menschen zu ihrer Verfügung frei gegeben hat. An die Bodenhaftung auf dieser Erde erinnert Calvin mit diesen Worten: „Warum den Flug in die Luft nehmen und den festen Boden ver­lassen, der doch der Schauplatz der Güte Gottes ist? [...] Es muss der Fuß fest auf der Erde ste­hen, ist sie doch die Stätte, auf der wir nach Gottes Anordnung eine Zeitlang weilen.“[19]

Calvin weist den Menschen damit in eine Welt ein, in der dieser seine Verantwortung übernehmen soll, statt sich aus dieser Welt herauszuträumen. Hier tun sich Spuren der calvinischen Ethik auf, sich entschlossen der Schöpfung, Kultur und der Erforschung der Welt zuzuwenden. Schließlich hat Gott den Menschen zur Hoffnung geschaffen und mit Vernunft begabt: „Eine wahrhaft außergewöhnliche und unvergleichliche Ehre, dass ein sterblicher Mensch als Vertreter Gottes so über die Welt herrschen darf, als ob das sein Recht wäre, und dass er überall, wohin er auch sein Auge wendet, sieht, dass ihm nichts zu einem glücklichen Leben fehlt!“ (zu Psalm 8).[20] Welche Ehre des Menschen – als Gottes Vertreter auf der Erde zu leben und sich hier in der ihm eigenen Menschlichkeit zu bewähren!

Calvin liest die Psalmen im Horizont der ganzen Bibel. Und er trifft eine folgenreiche Entscheidung: Er liest nicht Jesus Christus in die Psalmen hinein. Sondern er versucht an markanten Stellen, die Linien von den Psalmen nach vorn weiterzuzeichnen. Das, was David versprochen war, weist über dessen Gegenwart hinaus. Denn sein Königreich war – verglichen mit dem Kommen Christi – eine schattenhafte Vorausabbildung: „Seit David zum König eingesetzt ist, wissen wir nun, dass die Fundamente des ewigen Reiches gelegt sind, das mit der Ankunft Christi endlich offenbar geworden ist.“ (zu Psalm 118).[21]

Im Thron Davids sieht Calvin das Abbild der ewigen Herrschaft Christi. Als Repräsentant des kommenden Christus bleibt David ein fehlbarer, der Vergebung bedürftiger Glaubender.[22] Auch in dieser Hinsicht entdeckt sich Calvin in David wieder. Denn David bildet im Erfolg, aber gerade auch in seinem Leiden nicht nur Christus, sondern auch die Kirche Jesu Christi ab.[23] Gerade in seiner Schuld repräsentiert David auch die schuldig werdende Kirche und gibt ihr eine Stimme.[24]

Gottes Weltregierung, das Lob der Schöpfung, die hervorgehobene Stellung des Menschen in ihr, aber auch ihre Schuld und die der Kirche: Das und vieles andere spürt Calvin in den Psalmen auf. Sie werden ihm zu einem unerschöpflichen Schatz. Schon früh traf Calvin deshalb eine folgenreiche Entscheidung: dass die Psalmen nicht nur gelesen und gehört werden sollen, sondern dass sie auch gesungen werden können. Die Geburtsstunde des Genfer Psalters bzw. des Hugenottenpsalters! In der Genfer Gottesdienstordnung von 1542 schreibt Calvin über die vertonten Psalmen: „Wir werden keine besseren und geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids [...]. Wenn wir sie singen, so sind wir sicher, dass Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge, um seine Ehre zu erhöhen.“[25]

Erste Impulse zum Psalmengesang im Gottesdienst erhielt Calvin 1538 in Straßburg. Dort lernte er die Psalmen des Hofdichters von Franz I., Clément Marot, kennen, der Psalmen in Reime brachte und mit Melodien von populären Liedern vertonte. Diese Marot-Psalmen ergänzte Calvin, so dass schließlich 1539 das Straßburger französische Gesangbuch entstand. 1542 verfasste Calvin ein Psalmengesangbuch mit 17 weiteren Psalmbereimungen. Abgeschlossen mit der Bereimung und Vertonung sämtlicher 150 Psalmen war der Genfer Psalter 1562. Für ihn sind der einstimmige, unbegleitete Gesang und die Melodien mit nur zwei Notenwerten – Halben und Vierteln – charakteristisch.

In der deutschen Fassung durch Ambrosius Lobwasser 1573 und durch Matthias Jorissen 1793 wurde der Genfer Psalter auch in deutschen reformierten Gemeinden populär. Für den häufig in den Psalmen ausgesprochenen Gedanken, in der Not bewahrt zu werden, nenne ich als Beispiel eine Strophe aus Psalm 13 in der Bereimung durch Matthias Jorissen: „Herr, Dir vertrau, Dir hang ich an, da Dein Erbarmen retten kann. Oft jauchze ich in meinen Schmerzen ob Deinem Heil und sing von Herzen: Herr, Du hast stets mir wohlgetan!“[26]

Welche Früchte kann der Glaube aus den Psalmen ziehen?

1. Das Reden von Gott, das Calvin in den Psalmen entdeckt, leitet dazu an, verbindlich von Gott zu reden. Calvin stellt sich der Vielfalt der biblischen Gottesbezeichnungen. Er weiß von der Freiheit Gottes und seiner Andersartigkeit. Er spricht vom Schöpfer des Kosmos und seiner Fürsorge für den Menschen. Er stellt sich auch dem richtenden Gott, der sein Recht ausübt. Er tastet sich in die Bereiche der Verborgenheit und des Zorns Gottes vor. Er kann von ihm als dem Heiligen reden und sieht ihn zugleich in seiner Bundesgemeinschaft mit den Menschen. Es ist die bunte Vielfalt in der Einheit Gottes, die Calvin in den Psalmen entdeckt. Belehrt durch diese Vielfalt, tritt er dafür ein, dass das exakte Hören auf die biblischen Texte unserem Reden von Gott zur Sprache verhilft.

2. Calvins Psalmenauslegung ist von dem Grundgedanken bestimmt, dass Gott im Bund mit den Menschen für diese heilsam gegenwärtig und wirksam ist. Gott erweist sich als ein Gott in Beziehungen, so dass auch das Reden von Gott ihn als den anredet, der nicht schweigt, sondern redet. Wer unter dieser Voraussetzung von Gott redet, wird auch die eigene Person in ihren Empfindungen und Lebensäußerungen ins Spiel bringen und sich selbst als von Gott angesprochenes Wesen verstehen. Eine solche Lesekunst, wie sie bei Calvin erkennbar ist, kann das eigene Leben in die gelesene Schrift einzeichnen, um in der Gegenwart Israels von Gott zu reden.

3. Verbindliches Reden von Gott berücksichtigt, dass Gott als Person und mit Namen angeredet werden will. Alle Rede von Gott wird darum umschlossen sein von dem Ruf „Allein Gott die Ehre“. Wer Gott allein die Ehre gibt, achtet alles Geschaffene, ohne es zu vergötzen, und spricht dem Menschen als Geschöpf Gottes seine Würde zu. Wo Gott allein die Ehre zukommt, kann auch der Mensch menschlich leben.

4. Die Aufgabe der christlichen Gemeinde, von Gott zu reden, ist mit der Lebensäußerung verbunden, zu Gott zu reden.[27] Darauf zielt alle Theologie: auf die Anrufung Gottes im gesprochenen oder gesungenen Gebet. Das Gebet ist der entscheidende Ort des Gesprächs von Mensch und Gott. Ohne das Gebet würde der Glaube leblos werden. Das Reden zu Gott im Gebet wird zur Sehhilfe des Glaubens. Gerade im Genfer Psalter, dem reformierten Gesangbuch schlechthin, lässt sich Calvins Leidenschaft erkennen, dass die Rede von Gott den Gesang zu Gott einschließt, begleitet und ermöglicht.


[1] CO 9,823; vgl. J. Quack, Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, Tübingen 1975, 113–115 (Übers.: 113).

[2] CO 9,823.

[3] CO 31,422.

[4] Calvin-Studienausgabe, Bd. 6: Der Psalmenkommentar. Eine Auswahl, Neukirchen-Vluyn 2008, 25 (= CStA 6).

[5] Ebd., 21.

[6] Ebd., 41.

[7] Ebd., 21.

[8] Ebd.

[9] Ebd., 25.

[10] Ebd.

[11] CO 8,425.

[12] Ebd.

[13] Genfer Katechismus von 1545, Frage 258, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2: Gestalt und Ordnung der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1997, 95 (= CStA 2).

[14] CO 32,435; Übers.: H. Selderhuis, Gott in der Mitte, Leipzig 2004, 60.

[15] CO 31,76; Übers.: Selderhuis, Gott, 61.

[16] CO 31,828f.; Übers.: Selderhuis, Gott, 61.

[17] CStA 6,77.

[18] Ebd., 305.

[19] CO 23,37.

[20] CStA 6,71.

[21] Ebd., 365.

[22] Vgl. Kommentar zu Ps 51,12 (CStA 6,195).

[23] Vgl. Kommentar zu Ps 109,1 (CO 32,147).

[24] Vgl. Kommentar zu Ps 51,20 (CStA 6,205.207).

[25] Genfer Gottesdienstordnung von 1542, in: CStA 2,159.

[26] Die Psalmen Davids in Reime gesetzt durch Matthias Jorissen, nach der Ausgabe von 1818, Rödingen 2006, 44f.

[27] Vgl. E. Busch, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 28f.