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Das Verständnis der Musik bei Johannes Calvin und seine Nachwirkungen
von Dr. Jan R. Luth, Rijksuniversiteit Groningen (NL)
Vortrag im Rahmen der Reformierten Matinee in der Evangelisch-reformierten Gemeinde in Frankfurt am Main zur Eröffnung des Themenjahres "Reformation und Musik" im Rahmen der Reformationsdekade der EKD am 30. Oktober 2011
Das Verständnis der Musik bei Johannes Calvin und seine Nachwirkungen
Dr. Jan R. Luth, Rijksuniversiteit Groningen (NL)
Der Genfer Psalter
Johannes Calvin (1509-1564) hat das Entstehen der Bereimung der Psalmen – in der Geschichte bekannt als der Genfer Psalter oder Hugenottenpsalter - stark gefördert. Dieser Psalter hatte Jahrhunderte lang bis heute einen wichtigen Platz im gottesdienstlichen Repertoire des reformierten Protestantismus und die calvinistische Musik ist Jahrhunderte lang bestimmt gewesen vom Genfer Psalter.
Die Zeit des Entstehens umfasst 23 Jahre. Die erste Ausgabe mit 19 Psalmen und Gesängen, bestimmt für Calvins Gemeinde in Strassburg, erschien 1539. Dieses Gesangbuch wurde von Calvin verfasst und hatte neben Psalmbereimungen von Clement Marot auch einige Psalmen und Gesänge von Calvin selbst. Diese Reimpsalmen wurden gesungen auf Melodieen aus dem Gesangbuch der deutschsprechende Gemeinde von Strassburg. (z.B. Ps. 36 = 68 von M. Greitter, später auch bekannt O Mensch, bewein dein Sünde gross). Calvin war aber davon überzeugt, dass Bereimen und Komponieren ein Gewerbe ist und so suchte und fand er Dichter und Komponisten, die seinen Wunsch nach einem vollständigen Psalter erfüllen konnten. Ab 1541 arbeitete Calvin in Genf. 1562 waren alle 150 Psalmbereimungen fertig und seitdem hat der Genfer Psalter viele Drucke erlebt in verschiedenen Sprachen. Nur in der Strassburger Ausgabe finden wir Texte von Calvin. In den späteren Ausgaben wurden Bereimungen von Marot und seinem Nachfolger Théodore de Bèze aufgenommen, aber die Melodien aus Strassburg wurden beibehalten. Die meisten Melodien wurden komponiert von den Genfer Kantores Louis Bourgeois, Maître Pierre und Guillaume Franc. Mehrere Melodien sind von einem Hymnus oder Sequenz übernommen worden, wie Ps. 80 Victimae paschali laudes, Ps. 141 Conditor alme siderum. Diese Psalmen wurden von der Gemeinde in Genf einstimmig gesungen ohne Begleitung. Mehrstimmige Sätze, wie von Louis Bourgeois (1547) und Claude Goudimel (1565) hatten nicht ihren Ort im Gottesdienst, sondern in den Häusern.
Dass Calvin viel Zeit und Energie im Verlaufe seines Lebens diesem umfangreichen Projekt gewidmet hat, kann nur aus seiner theologischen Auffassungen bezüglich Musik und insbesondere gottesdienstlicher Musik erklärt werden. Das soll heute morgen erläutert werden.
Es ist auffallend, dass schon vor der Reformation der Kirchengesang zusammen mit der Feier des Abendmahls und dem Wunsch, einen Katechismus zur Verfügung zu haben, im Mittelpunkt der Veränderungsbestrebungen stand. Auch für Calvin lag hier der Schwerpunkt für die Änderungen, die er in der Kirche für notwendig erachtete. Er wusste zweifellos, dass Gemeindegesang in Wittenberg und Strassburg eingeführt wurde, und vielleicht hatte er Gemeindegesang in Basel gehört, wo dieser seit 1535 eingeführt worden war. Jedenfalls wünschte Calvin schon vor allen reformatorischen Änderungen eine singende Gemeinde.
Psalmsingen gehörte für Calvin zum öffentlichen Gebet und war notwendig zum Aufbau der Kirche und um Gott zu loben und zu preisen. Calvin weist darauf hin, dass diese Gewohnheit zurück geht auf die alte Kirche und auf Paulus. Er ist der Meinung, dass die Gebete der Gläubigen so kalt sind, dass es beschämend ist. Das Singen der Psalmen kann uns aber anregen, unsere Herzen zu Gott zu erheben und uns bewegen, Gott zu loben. Seine Kritik an der römisch-katholischen Kirche ist, dass die Psalmen dort entartet sind zu einem Gemurmel, ohne dass jemand etwas davon versteht.
La Forme des Prières (1542)
Einen wichtigen Teil von Calvins Theologie der Musik finden wir im Gesangbuch La Forme des Prieres et Chant Ecclesiastiques, das 1542 in Genf erschien. Calvin weist darauf hin, dass der Gottesdienst zum Zweck hat, Gott zu ehren. Auch soll der Gottesdienst die Gemeinde erbauen. Das ist aber nur möglich, wenn man versteht, was im Gottesdienst gesprochen und getan wird. Calvin ist der Meinung, dass es nicht ausreichend ist, am Gottesdienst nur visuell teilzunehmen. Inhalt und Bedeutung sind wichting. Wo das nicht der Fall ist, tritt das Verbot des Paulus in Kraft, dass man nicht ohne Erklärung in Zungen sprechen soll. Das heißt: für Calvin sind Kenntnis und Verstehen sehr wichtig. Das war eine Reaktion auf die Katholische Messe, in der die Gemeinde viel vermutete, aber wenig verstand.
Seiner Meinung nach gibt es drei Elemente, die Gott für den Gottesdienst verpflichtet hat: die Verkündigung, die Gebete und die Sakramente. Was die Gebete betrifft, gibt es einen Befehl des Heiligen Geistes, dass die in der Volkssprache sein sollen. Das begründet er mit Epheser 5,19 und Kolosser 3,16 wo Calvin liest, dass Lieder mit dem Herzen gesungen werden sollen, jedoch nicht innerlich, sondern so, dass das Herz der Zunge vorangeht. Aber das Herz kann nicht ohne den Verstand. Das ist den Unterschied zwischen Menschen und Vögeln: mit Verstand Singen ist eine besondere Gabe, die nur dem Mensch gegeben worden ist; der Mensch weiss und versteht, was er singt. Nach dem Verständnis folgen das Herz und die Affekte. Das ist der Fall, wenn den Gesang im Gedächtnis eingeprägt worden ist.
Calvin unterscheidet zwei Gebetsgattungen: es gibt gesprochene und gesungene Gebete. Diese Einteilung geht ebenfalls zurück auf Paulus, aber daneben gibt es auch die Erfahrung die lehrt, dass Singen eine grosse Kraft hat, um die Menschen zu bewegen und dazu zu bringen, dass sie Gott loben.
Calvin ist der erste in der Geschichte, der unterscheidet zwischen Musik für den Gottesdienst und Musik ausserhalb des Gottesdienstes, oder wenn man will: zwischen weltlicher und geistlicher Musik. Calvin sagt folgendes: Es ist sehr wichtig darauf zu achten, dass das Kirchenlied nicht leicht und flüchtig sei, sondern Gewicht und Gravität hat. Es soll einen grossen Unterschied geben zwischen der Musik, mit der man sich zu Hause und zum Tisch vergnügt und den Psalmen, die man in der Kirche singt in Anwesenheit von Gott und seinen Engeln. Aber auch ausserhalb des Gottesdienstes ist Singen ein Mittel, Gott zu loben und seine Grösse zu überdenken. Das ist so notwendig, weil nur das gesprochene Wort viel zu kurz greift.
Unter den Sachen, die den Menschen Vergnügen und Freude geben, ist Musik die wichstigste. Weil sie aber eine Gabe Gottes ist, soll sie so auch benutzt werden. Deshalb warnt Calvin, anders als Luther, gegen den Missbrauch der Musik. Diese Warnung stützt er auf Plato, der der Meinung war, dass nichts die Sitten des Menschen so beeinflusst wie Musik. Calvin schreibt, dass er täglich diese unglaubliche Kraft der Musik erfährt.
Sehr wichtig und ziemlich unbekannt ist der Unterschied, den Calvin macht zwischen zwei Aspekten der Musik, nämlich dem Text und der Musik. Die Wirkung, so schreibt er, eines Textes ist viel grösser, wenn eine Melodie dazu kommt. Dann wird das Herz viel kräftiger durchschnitten und wird das Innere des Menschen erreicht. Als Illustration benützt er das Bild eines Trichters: wie Wein durch einen Trichter ins Fass gegossen wird, so auch ein Text durch die Melodie in den Menschen. Diese intensive Wirkung einer Melodie hat zur Folge, dass die Textwahl von größter Bedeutung ist.
Calvin akzeptiert deshalb nur heilige Texte. Für ihn kommen die Psalmen an erster Stelle. Was kann man besser singen als Wörter, die Gott uns selber gegeben hat. Er bezieht sich auf Augustin. Deshalb bevorzugte Calvin die Psalmen und schreibt: wenn wir diese Worte singen, sind wir sicher, dass Gott sie in unseren Mund gelegt hat, wie wenn er selber in uns singt. Calvin beschliesset seine Vorrede mit der Mitteilung, dass er die Melodien modifiziert hat, damit sie Gewicht und Stolz haben, und so in Űbereinstimmung sind mit dem Inhalt und geeignet, um sie in der Kirche zu singen.
Wichtig in Calvins Theologie der Musik ist die Auffassung von Schöpfung und von Gottesdienst. Einerseits ist Musik die wichtigste Gabe der Schöpfung, die Freude bringt, andrerseits wird diese Gabe immer von Missbrauch bedroht. Gottesdienst als Ereignis für das Angesicht Gottes und seine Engel ist für ihn eine Selbstverständlichkeit.
Macht der Musik
Calvins Mitteilung über seine eigene Erfahrung mit der Macht der Musik steht quer zu der Auffassung in der Literatur, dass er zwar der Organisator des Genfer Psalters war, aber selber nichts mit Musik hatte. Wir finden Gedanken über die Macht der Musik übrigens nicht nur bei Calvin, auch die Humanisten erkannten die Macht der Musik und stützten sich ebenfalls auf Plato und Augustin. Auch der Reformator von Strassburg, Martin Bucer schrieb, dass durch Musik das Böse tief in das Herz des Menschen eindringen kann.
Ein eigener Stil
Ich habe schon darauf hingewiesen, dass Calvin als erster in der Geschichte unterscheidet zwischen Musik im Gottesdienst und anderer Musik. Musik in der Kirche soll anders klingen als ausserhalb der Kirche. Calvin fordert einen kirchlichen Stil und Melodien, die “convenable au sujet”, sind; das bedeutet: in Űbereinstimmung mit den Texten die gesungen werden. Daneben sollen Melodien “poids & majesté” haben. Am besten ist das zu übersetzen mit „Gewicht und Vornehmheit“. Die Frage ist natürlich, wie Melodien, die Gewicht und Vornehmheit haben, sich unterscheiden von Melodien, die das nicht haben und für Calvin “legier & volage”, ohne Gewicht und flüchtig sind. Diese Frage ist nicht so einfach in einer Definition zu beantworten. Aber die Merkmale der Genfer Melodien helfen uns weiter. Charakteristisch ist, dass die Wahl der Kirchentonart bestimmt wurde vom Inhalt des Textes. Psalmen über Schuld und Buße haben z. B. die phrygische Kirchentonart, wie Psalm 51. Ein weiteres Merkmal des Genfer Psalters ist der Gebrauch von nur zwei Notenwerten und das vermeiden von Melismen, d.h. das Singen von mehreren Noten auf einer Silbe, wie das in der Gregorianik üblich war.
Das Thema Calvin und die Kirchenmusik kennt einige Missverständnisse
Wir haben gesehen, dass Calvin einen Akzent darauf legt, dass der Gottesdienst für Gott und seine Engel stattfindet und dass die göttliche Nähe ihn dazu bringt, gottesdienstliche und weltliche Musik zu unterscheiden. Der Ausdruck “poids & majesté”, „Gewicht und Vornehmheit“, benützt Calvin um deutlich zu machen, was er für den Gottesdienst als akzeptabel achtet. Mit Unrecht aber wird dieser Ausdruck oft angewendet um zu verteidigen, dass mit „Gewicht und Vornehmheit“ in der Kirche gesungen werden soll, das bedeutet: vornehm und in einem sehr niederigen Tempo. Calvin schreibt hier aber nicht über Aufführungspraxis, sondern er charakterisiert einen Stil: Melodien die im Gottesdienst gesungen werden, sollen „Gewicht und Vornehmheit“ haben. Das unterscheidet diese Melodien von anderen, die kein Gewicht haben und flüchtig sind. Dass diese Interpretation die richtige ist, zeigen die verschiedenen zeitgenössischen Űbersetzungen dieser Vorrede Calvins.
Wenn es um Missverständnisse geht, möchte ich noch auf einen anderen Punkt hinweisen.
Meistens wird Luther in der Literatur gesehen als der grosse Stimulator der Kirchenmusik, und Calvin als ein Feind der Künste, also auch der Musik. Das ist bestimmt falsch. Ein wesentliches Merkmal in Calvins Theologie ist die Auffassung, dass liturgische Musik gesungene Verkündigung ist. Ausgangspunkt dafür ist die damals übliche Erklärung von Paulus Brief an die Epheser 5,19 und dem Paralleltext in Paulus Brief an die Kolosser 3,16: Redet unter einander in Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern, singet und spielet dem Herrn in euren Herzen. Die Erklärung Calvins ist, dass Singen nicht nur Lob Gottes ist, sondern wenn die Gemeinde singt, singt man zugleich einander zu: das wird von Calvin gesehen als gesungene Verkündigung. Singen ist also nicht ein sekundäres Phänomen neben der gesprochenen Verkündigung, der Predigt. Für Calvin ist die Predigt nicht wichtiger als das Singen im Gottesdienst. Im Gegenteil: gesunge Verkündigung hat sogar einen grösseren Aktionsradius als gesprochene Verkündigung. Das ist der Kernbedeutung vom genannten Bild des Trichters, das er benützt, um die grosse Wirkung der Musik darzustellen. Wenn man einem Text eine Melodie hinzufügt, ist die Wirkung des Textes viel grösser als wenn ein Text gesprochen wird. In diesen Hinsicht geht Calvin ebenso weit wie Martin Luther, wenn es um die Bedeutung der Kirchenmusik geht. Damit ist auch klar, dass Calvin zu Unrecht gesehen wird als jemand, der die Kirchenmusik als nicht von Bedeutung achtete. Die jedenfalls in den Niederlanden viel gehörte Aussage, dass es im Gottesdienst um das Wort geht, würde Calvin bestimmt unterschreiben, vorausgesetzt, dass dies nicht nur das gesprochene, sondern auch das gesungene Wort betrifft.
In Genf hat man mit diesem Prinzip den Gottesdienst gestaltet, was an der Tatsache zu sehen ist, dass man den Psalmen als Form der Verkündigung einen bedeutenden Platz im Gottesdienst eingeräumt hat. Beim Eingang von St. Pierre in Genf und später auch in den Genfer Gesangbüchern wurden Tafeln geschrieben und gedruckt, in denen angegeben wurde, welche Psalmen während des Gottesdienstes gesungen wurden. Als der Genfer Psalter 1562 vollständig vorlag, war die Struktur dieser Tafeln so, dass alle 150 Psalmen in 26 Wochen, also zweimal pro Jahr, gesungen wurden, verteilt über drei Gottesdienste pro Woche: zwei am Sonntag und ein Gottesdienst am Mittwochabend. Wenn wir uns diese Tafeln näher ansehen, dann stellt sich heraus, dass in jedem Gottesdienst etwa 33 Strophen gesungen wurden und weiter, dass soviel wie möglich ganze Psalmen gesungen wurden, oder Teile der sehr langen Psalmen, wie Psalm 119. Diese Teile wurden in den Gesangbüchern zwischen den Strophen durch Sternchen markiert und später ersetzt von dem Wort “Pause”. So entstand in Deutschland der Ausdruck “einen Pausam singen.“([1]) Das Wort Pausam bedeutet dann nicht Pause als Zeichen am Zeilenende, sondern eine Anzahl Strophen, meistens 3 oder 4.
Die Wahl der Psalmen in diesen Tafeln ist nicht eindeutig zu erklären. Es gab kein Kirchenjahr und Calvin hat auf der Grundlage der Lectio continua gepredigt, d.h. dass er ganze Bibelbücher erklärte. Es ist aber klar, dass am Sonntag hauptsächlich Lobpsalmen und am Mittwochabend Busspsalmen in Genf gesungen wurden. Es steht also fest, dass der Gemeindegesang grosse Bedeutung hatte, nicht nur in Calvins Theologie, sondern dieses wird auch gezeigt in dem grossen Anteil der Psalmen im Gottesdienst.
Es ist sprichwörtlich geworden, dass Calvin den Psalmen eine bevorzugte Stellung einräumt. Das erklärt sich daraus, wir schon sahen, dass er die Psalmen als von Gottes Geist eingegeben sah. Wer diese Texte singt, singt von Gott gegebene Wörter. Das hat dazu geführt, dass in einigen reformierten Kirchen in den Niederlanden, Schottland, Amerika und Australien das Singen von anderen Gesängen abgewiesen wurde und wird. Calvin wollte ja, dass nur Psalmen gesungen werden. Es ist die Frage, ob man hier Calvin zu Recht in Anspruch nimmt. Obwohl er den Psalmen den Vorzug gab, hat er in seiner Bereimung der Zehn Gebote eine letzte, freie Strophe hinzugefügt, die nicht auf einen Bibeltext zurückgeht. Im Psalter von Ambrosius Lobwasser lautet diese 9. aus dem Genfer Psalter übersetzte Strophe wie folgt:
“Herr Gott, dein wort gestreng und heftig
Klingt heller dann einig Metall
Wirck in uns durch dein gnad so kräftig
Das wir thun deinen willen all.”
Viertes und letztes Missverständnis. Das betrifft den Gebrauch von Instrumenten im Gottesdienst. Luther gestattet sie, Calvin nicht. Für Calvin gibt es Instrumentalmusik zum Vergnügen. Sie ist nicht notwending, aber auch nicht überflüssig, oder sogar verboten. Aber die menschliche Stimme ist primär. Instrumentalmusik, so Calvin, gehört zum Gottesdienst des Alten Testaments und gehört nicht in den Gottesdienst, ebensowenig wie Kerzen und Weihrauch. Gott hat Wohlgefallen an Einfachheit. Ausserdem verbietet Paulus, im Gottesdienst anders zu sprechen als das, was verständlich ist (er verweist auf den ersten Brief des Paulus an die Korinther 14,16.) Für ihn gehört Instrumentalmusik, wie das Reden in Zungen, zu dem, was nicht verständlich, ist und dient darum nicht dem Aufbau der Gemeinde.
Noch wichtiger ist der Gedanke, dass die menschliche Stimme das natürlichste Instrument ist. Instrumentalmusik wurde davon abgeleitet und ist deshalb sekundär. Man geht in einer falschen Weise mit der Schöpfung um, wenn Instrumente benützt werden.
Für viele Menschen spricht Calvin hier als ein Feind der Künste. Aber einen solchen Vorwurf macht man nicht zu Recht. Denn Calvin wiederholt einfach die Auffassung des frühen Christentums, das sogar Instrumentalmusik in den Häusern verbot. Diese frühchristliche Auffassung finden wir heute noch immer in den Orthodoxen Kirchen des Ostens. In Russland, auf dem Balkan, in Griechenland klingt keine Instrumentalmusik in den Gottesdiensten; nur Vokalmusik. Es ist also nicht typisch für Calvin und den reformierten Protestantismus des 16. Jh., Instrumentalmusik zu verwerfen. Calvin hat die Orgelmusik nicht abgeschafft, er führte sie einfach nicht ein, denn es existierte überhaupt keine Begleitung des Gemeindegesanges und auch vor der Reformation war Orgelmusik eine Ausnahme. Die Orgel klang bei festlichen Gelegenheiten, entweder solo, oder in Abwechselung mit dem Chor (die sogenannte Alternatimpraxis). Diese Gewohnheit wurde von Calvin nicht übernommen.
Zusammenfassend
Für Calvin findet der Gottesdienst statt vor dem Angesicht Gottes und seiner Engel. Das bestimmt die hohe Anspüche, die er an die Kirchenmusik stellt.
Gemeindegsang ist nicht nur Lobpreis Gottes, sondern auch gesungene Verkündigung. Gesungene Verkündigung hat einen grösseren Aktionsradius als gesprochene.
Er unterscheidet und scheidet gottesdienstliche und nicht-gottesdienstliche Musik.
Qualität im Gottesdienst ist sehr wichtig.
Der Einfluss des Genfer Psalters war groß. Er wurde in vielen Landen übersetzt und gesungen und hat viele Komponisten inspiriert. Ein schönes Beispiel ist Deutschland. Die erste deutsche Űbersetzung des Genfer Psalters ist Ambrosius Lobwasser zu verdanken. Seine bekannteste Ausgabe erschien 1573, zusammen mit den vierstimmigen Sätzen von Claude Goudimel. Lobwassers Psalter wurde in der reformierten Kurpfalz eingeführt; anschließend folgten in Deutschland zahlreiche Ausgaben. Mitte des 17. Jahrhunderts beauftragte der reformierte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg den Berliner Kantor Johann Crüger, neue Sätze zum Lobwasserpsalter zu komponieren. Sie erschienen in den Jahren 1657 und 1658 unter dem Titel Psalmodia sacra. Bei der Komposition der Melodien ließ sich Crüger vom Genfer Psalter inspirieren. Z.B. das Lied „Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen“, hat eine Melodie, die vom 23. Psalm des Genfer Psalters abgeleitet wurde.
Zum Schluss. Wie steht es mit der Nachwirkung?
Calvin war sehr wichtig für die Kultur. Der Genfer Psalter hat sich weltweit ausserordentlich verbreitet. Aber die Theologie, die diesem besonderen Psalter zugrunde liegt, nicht. Im reformierten Protestantismus kennt man Calvin, wenn es um Dogmatik (z.B. seine Abendmahlsauffassung) und um kirchliche Organisation geht. Was den Gottesdienst und die Kirchenmusik betrifft, ist Calvin entweder unbekannt, oder falsch verstanden.
Literatur
Jan R. Luth, Calvinistische Musik, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil 2, Kassel, Basel, London, New York, Prag, Stuttgart, Weimar, [1995], S. 336-342.
Idem, Calvinistische Musik II. Reimpsalter und Gesänge in den Niederlanden, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, 2. neubearbeitete Aufl. hg. von Ludwig Finscher, Sachteil Bd.2, Kassel 1995, Sp. 335-344.
Idem, Kirchenlied, Niederlande, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, begründet von Friedrich Blume. Zweite, neubearbeitete Auflage, hg. von Ludwig Finscher, Sachteil 5, Kassel, Basel, London, New York, Prag, Stuttgart, Weimar, 1996, 94, 95.
Idem, Jan Utenhoves Reimpsalter im Gottesdienst, in: Chr. Strohm (Hg.), Bibliothek und Reformation. Miszellen aus der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Veröffentlichungen der Johannes a Lasco Bibliothek 4, 2001, 151-175.
Idem, Der Genfer Psalter und niederländische Reimpsalter im 16. Jahrhundert, in: P.E. Bernouilli, F. Furler (Hg.), Der Genfer Psalter. Eine Entdeckungseise, Zűrich 2001, 57-62.
Idem, Das Tempo der Genfer Psalmmelodien, in: Bulletin Int. Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie 25/ 1997, 41-62.
Idem, The Music of the Dutch Reformed Church in Sweelinck´s Time, in: P. Dirksen (ed.), Sweelinck Studies. Proceedings of the Sweelinck Symposium Utrecht 1999, Utrecht 2002, STIMU (Foundation for Historical Performance Practice); 27-38. E. Grunewald, H.P. Jürgens,
E. Grunewald, H.P. Jürgens, J.R. Luth (Hrsg.), Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden, Niemeyer Tübingen 2004, 498 S. [Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. In Verbindung mit der Forschungsstelle “Literatur der Frühen Neuzeit” an der Universität Osnabrück, Bd. 97.] ISBN 3-484-36598-6.
J.R. Luth, Aulcuns psealmes et cantiques mys en chant A Strasburg 1539, in: E. Grunewald, H.P. Jürgens, J.R. Luth (Hg.), Der Genfer Psalter und seine Rezeption in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden, Niemeyer Tübingen 2004, 9-19.
Gemeindegesang in den Niederlanden im 16. Jahrhundert, in: idem, 421-434.
Gemeindegesang und Orgelbegleitung in den Niederlanden im 18. Jahrhundert, in: idem, 481-498.
Idem, Strassburg und Genf. Der reformierte Psalmengesang, in: Matthias Schneider, Beate Bugenhagen (Hg.), Zentren der Kirchenmusik, Laaber-Verlag, Laaber 2011, 78-82 [Matthias Schneider, Wolfgang Bretschneider, Günther Massenkeil (Hrsg.), Zentren der Kirchenmusik, Bd. 2]
©Dr. Jan R. Luth, Rijksuniversiteit Groningen (NL)
[1] W. Blankenburg, “Was bedeutet `einen Pausam singen?”, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 1963, 170, 171.
Jan R. Luth, Das Verständnis der Musik bei Johannes Calvin
und seine Nachwirkungen.pdf
Dr. Jan R. Luth, Rijksuniversiteit Groningen (NL), Oktober 2011
Calvin hatte das große Ideal vom liturgischen Gesang als lebendiger Verkündigung, nicht weniger wichtig als die Predigt. Aber wie sah die Praxis aus? Gebrüll, grässliche Harmonien ohne erkennbaren Rhythmus. Und auch die reformierten Gemeinden liebten Lieder aus lutherischer Tradition, die ihre Synoden verboten hatten. Die Melodien des Genfer Psalters galten in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts als altmodisch und schwierig. Den Gemeindegesang nachhaltig zu verbessern gelang erst Mitte des 20. Jahrhunderts.
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