Den Schritt vom Tod zum Leben wagen

Gedanken zu Pessach und Ostern


© Eczebulun/Wikimedia

Von Klaus Müller

In den Tagen um Karfreitag und Ostern vergewissert sich die christliche Kirche des Todes und der Auferweckung Jesu Christi. Wir feiern die Schöpferkraft Gottes, die den Todesmechanismen dieser Welt die neue Realität eines befreiten Lebens entgegenstellt. Der Schritt vom Tod zum Leben ist vorgebildet im Auszug Israels aus Ägypten. Im Gegenüber zu Karfreitag und Ostern feiert die jüdische Glaubensgemeinschaft im Passafest das Ursprungsgeschehen biblischen Glaubens: den „Überschritt“ (das meint die hebräische Wurzel „passach“) von der Knechtschaft zur Freiheit, vom Tod zum Leben.

Traditionell ist die Festrolle zum Passafest das Hohelied Salomos, gedeutet auf die junge Liebe zwischen Gott und seinem Volk Israel: „Siehe, meine Freundin, du bist schön! Siehe, schön bist du! Deine Augen sind wie Taubenaugen hinter deinem Schleier. Dein Haar ist wie eine Herde Ziegen, die hinabsteigen vom Gebirge Gilead“ (Hoheslied 4,1). Der Festgesang zu Passa ist Grundmelodie auch für Karfreitag und Ostern.

Dieses Jahr ist es der Montagabend in der Karwoche, an dem sich die jüdischen Gemeinden und Familien zum Passamahl versammeln – am Vorabend des 14. Nissan, unter dem Vollmond des Frühlingsmonats. Passa und Karwoche - das ist ein Gleichklang, der über das zeitlich zufällige Moment weit hinausreicht. Christen und Juden haben in ihrer je eigenen Weise Anteil an der großen Befreiungsgeschichte Gottes. Diese hat eine innere Richtung und ist unumkehrbar: Zuerst weinen sie und streuen ihren Samen und dann lachen sie und bringen ihre Garben (Ps 126,6). Auch die Leidensgeschichte Jesu weist im Letzten den Weg aus den Toten zum Leben – und nicht umgekehrt. Nicht zuletzt die Passionsmusik von Johann Sebastian Bach vermag – einmal befreit aus dem Zugriff antijudaistischer Gedanken – die Verbindung von Christen und Juden zu dem einen Gott des Lebens neu zu knüpfen.

Die frühe Kirche hat ihr geistliches Leben von allem Anfang an und in ganzer Tiefe am jüdischen Überschreitungsfest orientiert. Der Osterfestkreis mit seinem Abschluss im Pfingstfest ist zunächst einmal auf Pessach und die sich anschließende Zählung der sieben Wochen bis zum Wochenfest ausgerichtet: Bei der Fixierung des Ostertermins auf den Sonntag nach dem Frühlingsvollmond legt sich also der Sonntags-Rhythmus über den Jahresrhythmus und führt dazu, daß der Ostertermin in keinem Kalender mehr datumsmäßig fixierbar ist.

Das Fest wird sozusagen nicht routinemäßig - auch nicht einfach rite - begangen, sondern ist letztlich unverfügbares Widerfahrnis - ein hochbedeutsamer Umstand, eine der wichtigsten Botschaften, die im Kirchenjahr steckt, weit mehr als nur ein Ergebnis irgendwelcher obskurer Kalender-Arithmetik. In dieser zeitlichen Ansetzung tut sich deutlich kund, wie wenig der jährliche Tag der Auferstehung Christi - und in Abhängigkeit von ihm ebenso der fünfzigste Tag der Pentekosté - ursprünglich einfach nur Rückverweis auf ein vergangenes Geschehen ist, sondern ein Fest jenseits weltlicher Kalküle – es geht inmitten aller Zeit um Gottes Zeit für uns.

Die Christuserfahrung - die Erfahrung des Gekreuzigten und Auferstandenen - gewinnt ungeachtet ihrer Eigenständigkeit theologisch und liturgisch Kontur vom jüdischen Passa-Schritt her, den das frührabbinische Schrifttum und die Pessachhaggada in die Worte fassen: „matchil bi-gnut u-messaiem be-schävach“ – „es beginnt mit Erniedrigung und geht hin auf Verherrlichung“ (Mischna pessachim 10,4). Diesen transitus unternimmt Israel in der Feier des Passa, an diesem Überschritt hat Jesu letztes Mahl teil, der Überschritt vom Tod zum Leben ist der Ausdruck des Christusgeschehens.

Hier waltet nun nicht ein Verhältnis der Art, dass mit der christologischen Einlösung das alte Vorbild zu seinem Ende gekommen wäre; vielmehr liegt diesem Entsprechungsgeschehen die Selbigkeit Gottes zugrunde, die Identität des einen Gottes, der sich selbst vorstellt als derjenige, der aus dem Sklavenhaus befreit, und der dem, was nicht ist, ruft, dass es sei.

Jener Grund-Schritt der biblischen Glaubensgeschichte – aus der Knechtschaft in die Freiheit - jüdisch und christlich der „Über-Schritt“ von der Todverfallenheit in die Sphäre des Lebens, eröffnet Freiheit und motiviert zu befreiendem Handeln: „Denn als unser Passalamm ist Christus geopfert worden. So lasst uns denn Festfeier halten, nicht mit dem alten Sauerteig, nicht mit dem Sauerteig der Bosheit und Schlechtigkeit, sondern mit den ungesäuerten Broten der Lauterkeit und Wahrheit“, so der Apostel Paulus in 1.Korinther 5,7+8. Von den Grundlagen ihres Glaubens her haben Juden und Christen allen Anlass, das Fest der Überschreitung in kraftvolle Taten der Befreiung umzusetzen.

Dazu braucht es Mut in iener Zeit, die sich mehr und mehr auf lebensfeindliche Logiken und Machenschaften einlässt. Wo Gott die engen Grenzen des Todes sprengt, können und dürfen wir nicht zurückfallen in die alten Muster der Ausgrenzung und der Menschenverachtung – nicht im Kleinen-Alltäglichen und auch nicht im Großen-Weltpolitischen. Seit Pessach und Ostern sind die Handlanger und Sachwalter der Knechtschaft und des Todes „von gestern“. Es braucht Koalitionäre des Lebens, die das Heute Gottes ansagen. „Wer hungrig ist, komme und esse“, heißt es zu Beginn der Passaliturgie. „Nehmt in euch auf Brot des Lebens und den Trank der Befreiung“, ist die Zusage am Tisch des Herrn. „Wer schuldig ist, trete herzu“ (Lothar Steiger). Darum: den Schritt vom Tod zum Leben wagen.


Klaus Müller