'Die Menschen erwarteten ein Friedenszeichen'

Evangelisch-reformierte Kirche nimmt Abschied von Hans-Jürgen Sievers


Hans-Jürgen Sievers 2009 bei einem Vortrag in Nordhorn © ErK

Der ehemalige Pfarrer der Evangelisch-reformierten Kirche zu Leipzig starb am Mittwoch, 13. März, in Leipzig im Alter von 75 Jahren.

Sievers war von 1974 bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2005 Pfarrer der Leipziger Gemeinde. Er hat dort mit seiner Gemeinde die bewegte Zeit der friedlichen Revolution nicht nur miterlebt, sondern auch mitgestaltet. Nach dem Mauerfall hat sich seine Gemeinde, die jahrzehntelang in der DDR selbstständig war, der Evangelisch-reformierten Landeskirche angeschlossen.

Hans-Jürgen Sievers erklärte später den 9. Oktober 1989 als den eigentlichen Tag des „Sieges der Revolution“. An diesem Tag standen in Leipzig 70.000 demonstrierende DDR-Bürger 8000 Polizisten und auch Soldaten der NVA gegenüber. Diese kamen nicht zum Einsatz: „Das Wunder von Leipzig“ erinnerte sich Sievers anlässlich des 20. Jahrestags des Mauerfalls. Am Abend des 9. Oktobers waren vor dem Demonstrationszug die Nicolai-, die Thomas- die Michaelis- und die reformierte Kirche am Tröndlinring für Friedensgebete geöffnet. In den Monaten nach dem Mauerfall am 9. November 1989 engagierte sich Sievers beim Runden Tisch.

Kirchenpräsident Martin Heimbucher würdigte die Verdienste von Hans-Jürgen Sievers. Mit ihm habe die Evangelisch-reformierte Kirche einen gradlinigen und glaubwürdigen Zeugen der bewegten und bewegenden Wendezeit verloren. Im folgenden teilt er einen sehr persönlichen Abschiedsbrief:

Am Mittwochabend erreichte mich die Nachricht vom Tod von Pastor Hans Jürgen Sievers aus Leipzig. Heute morgen habe ich noch einmal drei seiner Predigten gelesen, die er im Oktober 1989 bei den Friedensgebeten in der Reformierten Kirche in Leipzig am Tröndlinring gehalten hat.

Am 9. Oktober rief er in einer Ansprache zu 1. Korinther 13,11 der Gemeinde zu: „Wir haben uns auf einen Weg begeben. Wir sind auf dem Weg, erwachsen zu werden. Jahrelang, jahrzehntelang sind wir wie Kinder gewesen. Jetzt werden wir erwachsen. Es wird ein langer Weg werden. Manchem wird es zu langsam gehen. Wir werden ihn ermahnen, geduldig zu sein. Aber wie es für einen Jugendlichen oder einen Erwachsenen keine Möglichkeit gibt, wieder ein Kind zu werden, so wird es auf unserem Weg kein Zurück geben können.“ Und am Ende erneuerte Pastor Sievers seine Mahnung zu strikter Gewaltlosigkeit: „Wenn wir ein gutes Ziel haben, muss auch der Weg dahin ein guter Weg sein und müssen die Mittel, die wir anwenden, gut sein.“

Drei Wochen später, am 30. Oktober, predigte er zu einem Vers aus der Josephsgeschichte (1. Mose 37,19f). Die Brüder begrüßen dort Josef mit dem höhnischen Ruf: „Da kommt er, der Träumer. Lasst uns ihn töten, dann werden wir sehen, was aus seinen Träumen wird.“ Sievers nahm in seiner Ansprache dieses biblische Drohwort auf und wandelte es in eine selbstbewusste Proklamation: „Hier sind wir, die Träumer, die wir davon geträumt haben, es würde einmal hier und in anderen Städten unseres Landes Menschen auf die Straßen gehen und Reformen erzwingen. Was für ein Traum nach 40 Jahren Lethargie! Was für ein schöner, aber utopischer Traum. Da sind wir, wir Träumer. Auf einmal beginnt unser Traum zu leben, unabhängig von unserem eigenen Willen. Auf einmal ist es nicht nur ein Traum.“

Und schließlich predigte Hans-Jürgen Sievers am 11. Dezember, nachdem klar geworden war, dass die Montagsdemonstrationen und die Friedensgebete der Weltgeschichte eine unerwartete, hoffnungsvolle Wendung verliehen hatten, über die Jahreslosung von 1989: „Keinem von uns ist Gott fern.“ Er erzählte von berührenden Begegnungen der vergangenen Wochen, von Tränen der Erschütterung und der Rührung auf beiden Seiten, bei Demonstranten auf der einen und Polizisten auf der anderen Seite. Zum Schluss erinnerte er daran: „Wir haben in den vergangenen Wochen und Monaten ein ungeheures Gefühl der Zusammengehörigkeit gehabt - hier in der Kirche und draußen auf der Straße. Dieses Gefühl wird jetzt geringer. Das Schlimme dabei ist nicht, dass sich unterschiedliche Meinungen zeigen – wir haben uns immer Pluralität gewünscht. Das Schlimme ist, in welcher Art und Weise verschiedene Gruppen begonnen haben, miteinander umzugehen. Setzen wir uns dafür ein, dass - trotz unterschiedlicher Vorstellungen über die Gestaltung der Zukunft - der Geist der erlebten Gemeinsamkeit unter uns weiterhin zu Hause bleibt.“

Beim Wiederlesen dieser Predigten von Bruder Sievers beeindruckt mich der Mut, die Besonnenheit und die orientierende Kraft, die von diesen biblisch geerdeten und politisch hellwachen Worten  ausgeht. Ich bin Gott von Herzen dafür dankbar, dass er uns in diesen Jahren so gradlinige Zeugen wie Hans-Jürgen Sievers gesandt hat. Ich teile die Trauer und die große Dankbarkeit in seiner Familie und in seiner Gemeinde.

Martin Heimbucher
Leer, 14. März 2019


Quelle: ErK