Die Weiterentwicklung des Imperiumbegriffs – eine Lesehilfe

von Peter Bukowski

Die Glaubensverpflichtung von Accra 2004 hat in reformierten Kirchen eine Diskussion angestoßen um die Charakterisierung des neoliberalen Wirtschaftssystems als "Imperium". Der Uniting Reformed Church in Southern Africa (URCSA) und der Evangelisch-reformierten Kirche (ERK) sind gemeinsam bereits im September 2009 zu einem Verständnis von Imperium gelangt, das alte Fronten hinter sich lässt. Der Moderator des Reformierten Bundes, Peter Bukowski, erläutert dieses Verständnis von Imperium als "Geist und Wirklichkeit" einer "herrenlosen Gewalt".

Die Erklärung von Johannesburg „Globaler Dialog zum Accra-Bekenntnis“ (September 2009) nimmt positiv die Weiterentwicklung des Imperiumbegriffs auf, die in der Zusammenarbeit von der Uniting Reformed Church in Southern Africa (URCSA) und der Evangelisch-reformierten Kirche (ERK) entstanden ist. Und in der Tat: den beiden Kirchen – aus Südafrika die eine, aus Nordeuropa die andere – ist es in ihrem die Kontinente überschreitenden gemeinsamen Globalisierungsprojekt gelungen, zu einem Verständnis von Imperium zu gelangen, das geeignet ist, alte Fronten hinter sich zu lassen, auf große Akzeptanz zu stoßen und, was das Wichtigste ist, in der Sache weiter zu führen. Dies soll durch einen Kommentar des entscheidenden Zitates verdeutlicht werden.

Zunächst das Zitat als ganzes:

„Wir sprechen von Imperium, weil wir feststellen, dass es in unserer heutigen Welt eine Zusammenballung wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Macht gibt, Geist und Wirklichkeit einer „herrenlosen Gewalt“, von Menschenhand geschaffen.

Es ist ein allumfassendes, globales System, das den Interessen mächtiger Konzerne, Nationen, Eliten und privilegierter Personen dient, sie schützt und verteidigt, während es die Schöpfung ausbeutet und Menschlichkeit verhindert, missachtet und sogar opfert.

Es ist ein allgegenwärtiges System, das von Eigennutz und Gier, Vergötzung von Geld, Gut und Eigentum getragen wird; in diesem System wird Konsum wie ein Evangelium gepredigt, durch eine mächtige Propaganda verbreitet, wie eine Religion gerechtfertigt, geglaubt und angenommen.

Es vereinnahmt Denken, Werte und Vorstellungen durch Herrschaftslogik; ein System, das keine barmherzige Gerechtigkeit kennt und das Leben und die Gaben der Schöpfung verachtet.“

Auf den ersten Blick ist es nicht ganz leicht, den Erkenntnisgewinn dieser neuen Definition zu erkennen, denn wie es bei Kommissionstexten (leider) üblich ist, ist ein nicht eben leserfreundliches Definitionsungetüm. Deshalb zitiere ich noch einmal, indem ich den Text in Abschnitte gliedere, die dann einzeln ´angeschaut´ werden sollen:

(1) „Wir sprechen von Imperium, weil wir feststellen, dass es in unserer heutigen Welt eine Zusammenballung wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Macht gibt,

(2) Geist und Wirklichkeit einer „herrenlosen Gewalt“, von Menschenhand geschaffen.

(3) Es ist ein allumfassendes, globales System, das den Interessen mächtiger Konzerne, Nationen, Eliten und privilegierter Personen dient, sie schützt und verteidigt, während es die Schöpfung ausbeutet und Menschlichkeit verhindert, missachtet und sogar opfert.

(4) Es ist ein allgegenwärtiges System, das von Eigennutz und Gier, Vergötzung von Geld, Gut und Eigentum getragen wird; in diesem System wird Konsum wie ein Evangelium gepredigt, durch eine mächtige Propaganda verbreitet, wie eine Religion gerechtfertigt, geglaubt und angenommen. Es vereinnahmt Denken, Werte und Vorstellungen durch Herrschaftslogik; ein System, das keine barmherzige Gerechtigkeit kennt und das Leben und die Gaben der Schöpfung verachtet.“

(1) Das Imperium – eine politisch-gesellschaftliche Realität.

Der erste Abschnitt hält fest, dass der Begriff Imperium eine gesellschaftlich-politische Realität charakterisiert. Diese wird gekennzeichnet als eine Konzentration wirtschaftlicher, kultureller, politischer und militärischer Macht. Dass es solche Konzentration gibt, liegt auf der Hand. Indem sie mit einem Begriff charakterisiert wir, soll deutlich werden, dass das gegenwärtig erlittene Unrecht nicht auf einen Faktor reduziert werden kann sondern nur als Ergebnis eben jenes multifaktoriellen Zusammenspiels recht verstanden werden kann. Das bedeutet auch: Das Ganze jener sich manifestierenden Macht ist mehr, als die Summe ihrer Teile und man würde ihre komplexe Realität verfehlen, wenn man meinte es bei der Analyse (oder der Veränderung) nur eines seiner Faktoren belassen zu können. Die Finanzkrise samt ihren verheerenden Auswirkungen hat uns einmal mehr bestätigt, wie sinnvoll eine solche ganzheitliche Sicht der Zusammenhänge ist: Der Ruf nach einem stärkeren staatlichen Eingreifen alleine verkennt die Eigenmacht der Finanzmärkte, wie umgekehrt eine einseitige Schuldzuschreibung in Richtung des Marktes die Mittäterschaft der Politik übersieht; und beides konnte und kann auch deshalb zu katastrophalen Zuständen führen, weil es eingebettet ist in eine allgemeine Unkultur der Gier usw.

Dieser erste Teil der Definition ist im Grunde nicht neu, er nimmt auf, was in der Accraerklärung  Absatz 11 zum Imperium gesagt worden war. Allerdings wird schon hier eine entscheidende Weiche gestellt. In Accra wird Imperium als Subjekt eingeführt: Die Welt(un)ordnung, heißt es da, wird von (einem) Imperium verteidigt; und: das Imperiumssystem steht unter der Herrschaft mächtiger Nationen. Dies führte in der Folge zu der Rückfrage, ob Imperium ungebrochen mit einer bestimmten Region – etwa Europa und Nordamerika – in eins gesetzt werden könnte: führt das nicht zu einer allzu simplen Scheidung von Opfern und Tätern? Außerdem: Lassen sich diese Regionen auf solche Charakterisierung reduzieren? Was ist mit den dort Gott sei Dank auch zu findenden Gegenkräften? Ganz zu schweigen davon, dass jedes einzelne politische oder wirtschaftliche Phänomen einen ambivalenten Charakter trägt. Es geht jetzt nicht so sehr darum, ob die kritischen Rückfragen der Intention der Accraerklärung gerecht werden oder nicht. Jedenfalls wurden sie durch die dort gewählten Formulierungen provoziert und führten zu anhaltendem Dissens.

Dem gegenüber ist die neue Definition nicht etwa weniger deutlich oder weniger profiliert, aber sie hilft, ein reduktionistisches Missverständnis von Imperium zu vermeiden. Indem sie den Mechanismus als solchen charakterisiert, nötigt sie jeden sich zu fragen, wie und in welchem Maße der Ort an dem er lebt vom Imperium infiziert ist. Und wie der Einzelne selbst zu stehen kommt: gehört er mehr auf die Opfer- oder auf die Täterseite oder ist er mal das eine, mal das andere? Und ich denke auch ein Christ aus dem Süden wird sich von der Imperiumsdefinition angesprochen wissen: sicher zunächst als Glied einer Region, die unter der hier beschriebenen Machtkonzentration leidet, und sich zu Recht als ihr Opfer sieht. Dann aber vielleicht auch als jemand, der erkennen muss, dass die unheilvolle Verquickung von Macht auch ein Problem innerhalb des eigenen Kontextes darstellt. Nicht von ungefähr wird der dritte Abschnitt von einem allumfassenden, globalen System reden, das den Interessen mächtiger Konzerne, Nationen, Eliten und privilegierter Personen dient, sie schützt und verteidigt.

Solche Ausweitung und Tiefung des Verständnisses von Imperium wird deutlicher, wenn wir uns nun dem zweiten Abschnitt der Definition zuwenden. Hier stoßen wir auf das Herzstück der neu gewonnenen Erkenntnis.

(2) Das Imperium als „herrenlose Gewalt“ – die Theologie des Imperiumbegriffs.

Das ist der wichtigste Zugewinn der neuen Bestimmung, dass sie Imperium theologisch fundiert, und zwar unter Rückgriff auf Karl Barths Lehre von den „herrenlosen Gewalten“. Worum geht es nun mit dieser theologischen Beschreibung?

Immer wieder ist dem Imperiumbegriff vorgeworfen worden, er sei ideologisch-schwammig. Er mache nichts wirklich klar. Er sei nicht anschlussfähig an eine wissenschaftlich analysierende Betrachtungsweise. Und dies vor allem deshalb, weil er sich in mythologische Redeweise versteige.

Nun war es Karl Barth der im letzten Kapitel seiner Kirchlichen Dogmatik (KD IV,4, Fragment, §78) ein energisches Plädoyer für diese biblische „mythologische“ Redeweise gehalten hat indem er ihren theologischen Erkenntniszuwachs herausarbeitet: Jenseits von Eden, also in der Abkehr von Gott lebend, machen Menschen die Erfahrung, dass sich ihr Planen, Wollen und Tun gegen sie kehrt. Ihre besten menschlichen Fähigkeiten: sich zu einem komplexen Gemeinwesen zu organisieren, wirtschaftliche Austauschprozesse in Gang zu setzen, aber auch die Entwicklung von Recht, von Kultur, von Wissenschaft und Technik – all dies gerät, korrumpiert durch die menschliche Sünde, wie im Gedicht vom Zauberlehrling aus dem Ruder. Am Ende bekommen die Menschen was sie da geplant und ins Werk gesetzt haben nicht mehr in den Griff, es entwickelt eine Eigendynamik, die sich gegen sie kehrt und sich, obwohl von ihnen gemacht, der Beherrschbarkeit entzieht. Und Barth charakterisiert eben diese Mächte als „herrenlosen Gewalten“ und nennt „Imperium“, „Mammon“, „Ideologie“. Er schreibt: Das Neue Testament „sieht und versteht die Menschen als Schiebende nicht nur, sondern auch als Geschobene – als Treibende nicht nur, sondern als Getriebene… Ohne deren Verantwortlichkeit und Schuld in Frage zu stellen, sieht es hinter und über jenen… jene unangreifbaren, aber höchst wirksamen Potenzen, Faktoren und Agenten, jene imaginären, aber gerade in ihrem imaginären Charakter erstaunlich aktiven „Götter“ und „Herren“ (371).

Genau diesen Gedanken nimmt die neue Definition auf, indem sie Imperium als „herrenlose Gewalt“, von Menschenhand geschaffen, versteht. Erst diese theologische „Tiefenbohrung“ wehrt aller Simplifizierung (und ist im übrigen anschlussfähig zu basalen Einsichten der Systemtheorie). Denn mit diesem Bezug wird erst klar, dass einerseits niemand sich herausreden kann: Es bleibt dabei, die Machtzusammenballung ist von Menschen geschaffen. Gleichzeitig wird deutlich, dass und warum die Täter sogleich auch geknechtete ihres Tuns sind, „Geschobene“, „Getriebene“, wie es Barth formuliert hat (Karl Marx konnte schon davon reden, dass die „Proprieteure“, wie er sie nannte, „befreit“ werden müssen!). Deshalb werden wir allzu einfachen und einseitigen Schuldzuweisungen oder Politikrezepten nicht auf den Leim gehen. Vor allem aber wird deutlich, dass der Kampf gegen das Imperium allererst eine geistliche Herausforderung darstellt: Nur indem wir zurückfinden zum eigentlichen Herren, zum Schöpfer Himmels und der Erden, zum Vater Jesu Christi, werden wir in der Lage sein, die falschen Herren als solche zu entlarven und ihnen die Stirn zu bieten: Mit Mat. 6, 24-32 gesprochen: Das Trachten nach dem Reich Gottes schafft Befreiung vom Mammonismus.

(3) Politische Konturen des Imperiums

Im dritten Abschnitt wird, an den ersten anknüpfend, die theologische Betrachtung sogleich wieder „geerdet“. Was seine Wurzel in einer geistlichen Fehlpolung als Hinkehr zu den falschen Herren hat, bleibt kein geistiges Phänomen, sondern wird zur bitteren und leidvollen Realität: die „herrenlose Gewalt“ Imperium -  ähnlich wie die Gewalt des „Mammon“ – manifestiert sich als ein allumfassendes, globales System, das den Interessen mächtiger Konzerne, Nationen, Eliten und privilegierter Personen dient, sie schützt und verteidigt, während es die Schöpfung ausbeutet und Menschlichkeit verhindert, missachtet und sogar opfert.

Die Zeilen sprechen für sich: eindringlich beschreiben sie, wie verhängnisvoll sich die „herrenlosen Gewalten“ auswirken: sie bedrohen und beschädigen Mensch und Schöpfung. Und sie überschreiten alle räumlichen und zeitlichen Schranken: weltweit sind sie am Werk und nicht nur die Gegenwart, auch die Zukunft droht unter ihrem Zugriff zu verkommen. Dieser Rückbezug der Theologie auf die Gegebenheiten macht deutlich, dass Theologie und Analyse wohl unterschieden, aber nie getrennt werden dürfen. Sie gehören zusammen wie Kontemplation und Kampf (Roger Schütz).

(4) Geistliche Konturen des Imperiums

Der soeben betonte Zusammenhang wird im letzten Abschnitt noch einmal von der anderen Seite her in den Blick genommen. Es wäre nämlich zu kurz gegriffen, wollte man nach der theologischen Charakterisierung der herrenlosen Gewalten lediglich deren realpolitische Auswüchse in den Blick nehmen, wie es in (3) geschah. Gewiss, sie müssen bewusst gemacht werden und sie werden wohl als erste genannt, weil sie ja unmittelbar am Tage liegen und nach Erlösung schreien. Aber doch sind sie nur die augenfällige Außenseite einer inneren Störung, auf die eindringlich hinzuweisen das besondere Verdienst der neuen Imperiumsbestimmung ist. Denn hier kommt – ohne die gesellschaftlichen Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren! – jeder einzelne in den Blick: In jedem von uns nisten Eigennutz und Gier, Vergötzung von Geld, Gut und Eigentum. Deshalb keine Trennung von geistlich und politisch! Die Politische Aktion muss begleitet sein von geistlicher Introspektion. Von der Frage also, wo ich selbst in meinem Eigennutz und Gier der „herrenlosen Gewalt“ erlegen bin. Und diese Frage muss sich jede und jeder stellen. Wohl gibt es solche die primär „Täter“ und andere primär „Opfer“ sind. Und auch das Maß an Schuld ist sehr unterschiedlich verteilt. Aber die von der Sünde angefachte „herrenlose Gewalt“ macht vor niemandem halt. Auch vor dem „Opfer“ nicht – sonst fänden sich nicht immer wieder solche, die sich von den Mächten des Imperium korrumpieren lassen und zur Mittäterschaft bereit sind. Es wird in Zukunft nicht zuletzt darum gehen, wie es uns gelingt dies beides zu sehen ohne das eine gegen das andere auszuspielen.

Zuletzt wird auch die gesellschaftliche kulturelle und politische „Großwetterlage“ noch einmal geistlich betrachtet. Hier entfaltet die neue Imperiumsbestimmung ihr religionskritisches Potential. Das was als Zusammenballung von Macht daher kommt (vgl. Absatz 1) ist im Grunde eine Gegenreligion: In diesem System wird Konsum wie ein Evangelium gepredigt, das Denken, Werte und Vorstellungen vereinnahmt für die Logik der Unbarmherzigkeit und die Missachtung des Lebens.

Durchschaut haben wir die „herrenlosen Gewalten“ erst, wenn wir ihren religiösen Machtcharakter begriffen haben. Wie Götter spielen sie sich unter uns auf und fordern ihren Tribut. Ihre Sprache ist verräterisch genug: Kriegsopfer, Wirtschaftsopfer, Opfern von Hasstiraden, Verkehrsopfer. Je mehr wir dies durchschauen und uns im Gebet zum lebendigen Gott flüchten, werden wir auch befähigt, uns dem Zugriff der Mächte zu entwinden. Wir lernen, unseren Verstand und unsere Wissenschaft nicht weiter zur Optimierung des Götzendienstes zu gebrauchen, sondern dazu, Wege aus der Sklaverei zu suchen und Schritte in die Freiheit zu tun.

Fazit: Als Ergebnis einer intensiven Weiterarbeit an der Accraerklärung bietet die neue Bestimmung von Imperium eine hilfreiche Orientierung auf dem weiteren Weg der Reformierten Gemeinschaft. Es bleibt zu hoffen, dass sich die in Grand Rapids Versammelten diese Bestimmung zueigen machen.

We speak of empire, because we discern a coming together of economic, cultural, political and military power in our world today. This  is constituted by a reality and a spirit of lordless domination, created by humankind. An all-encompassing global reality serving, protecting and defending the interests of powerful corporations, nations, elites and privileged people, while exploiting creation, imperiously excludes, enslaves, and  even sacrifices humanity. It is a pervasive spirit of destructive self-interest, even greed – the worship of money, goods and possessions; the gospel of consumerism, proclaimed through powerful propaganda and religiously justified, believed and followed. It is the colonization of consciousness, values and notions of human life by the imperial logic; a spirit lacking compassionate justice and showing contemptuous disregard for the gifts of creation and the household of life.


D. Peter Bukowski, Moderator des Reformierten Bundes, Juni 2010
Reformierte nehmen Stellung zur neoliberalen ökonomischen Globalisierung