Aktuelles
Aktuelles aus den Landeskirchen >>>
Aktuelles aus den Gemeinden >>>
Kolumne >>>
Buchtipps >>>
from... - die reformierte App
Newsletter
Wir auf Facebook
''Die menschliche Gerechtigkeit nicht einmal bei den Heiden so sehr darniederliegt wie bei den Christen''
500 Jahre zwinglischer Imperativ des Seins statt Scheins

Zur Konsolidierung des im Zuge der Zürcher Reformation Erreichten in der Auseinandersetzung mit der nach wie vor starken katholischen Opposition und mit den Täufern sowie im Bemühen um die Einheit der Reformationsbewegung bei gleichzeitiger deutlicher Profilierung Luther gegenüber verfasste Huldrych Zwingli in nur dreieinhalb Monaten, von Dezember 1524 bis März 1525, unter dem Titel „De vera et falsa religione commentarius“ (Kommentar über die wahre und falsche Religion) die erste vollständige, auf Lateinisch geschriebene evangelisch-reformierte Dogmatik. Sie erschien 1525, also vor genau 500 Jahren, in Zürich und stellt Zwinglis Hauptwerk dar. Darin kritisiert der Verfasser, dass in der Kirche lange Zeit mehr heiliger Schein als heiliges Sein geherrscht habe:
„Statt selber heilig zu werden, waren wir alle vielmehr darauf bedacht, heilige Dinge entweder zu betasten oder um und bei uns zu haben, ja, um offen zu reden, wir waren eifrig bestrebt, durch unsere eigene Kraft Dinge heilig zu machen, die vielleicht gar nicht heilig waren. Weiß doch jedermann, wieviel Geld es kostete, um die Anbetung der Gebeine frommer Menschen herbeizuführen! Die Folge war, dass wir Holz, Stein, Erde, Staub, Schuhe, Kleider, Ringe, Helme, Schwerter, Gürtel, Knochen, Zähne, Haare, Milch, Brot, Teller, Tische, Wein, Messer, Krüge und was jemals fromme Menschen angerührt hatten, angebetet, umarmt und geküsst haben. Und was das Dümmste war: Wir schätzten uns geradezu selig, wenn wir derartige Dinge nur schon anschauen konnten. Wir versprachen uns, die Sünden seien uns durch sie erlassen, das Schicksal und die ganze Welt sei uns günstig. Die wahre Gottesfurcht aber – die nichts anderes ist als die Unschuld, die einer aus der Liebe zu Gott und Gottesfurcht heraus bewahrt hat – haben wir so im Stich gelassen, dass, wie es offenkundig ist, die allgemeine, d. h. die menschliche Gerechtigkeit nicht einmal bei den Heiden so sehr darniederliegt wie bei den Christen. Wir meinten, wir täten etwas Großes, wenn wir von sehr heiligen Gegenständen – denen wir doch selber die Heiligkeit verliehen hatten! – erhaben dachten, und wenn wir in möglichst gebildeten Worten über sie redeten; dabei waren wir gleichzeitig voll von Schmutz wie übertünchte Gräber. Gott vertrauen und heilig sein, das heißt ein Christ sein!“i
Wenn Zwingli darauf hinweist, „wieviel Geld es kostete, um die Anbetung der Gebeine frommer Menschen herbeizuführen“, meint er damit die Kosten für den erfolgreichen Abschluss eines Heiligsprechungsprozesses.
Im vorletzten Satz des zitierten Abschnittes nimmt Zwingli Bezug auf eine Bibelstelle, die er aber nicht ausdrücklich als solche kennzeichnet und nur anzitiert. Sie stammt aus den im Matthäusevangelium wiedergegebenen Wehrufen Jesu über Schriftgelehrte und Pharisäer und lautet in der auf Zwinglis Reformation zurückgehenden Übersetzung der Zürcher Bibel (in ihrer Ausgabe von 2007) wie folgt:
„Wehe euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler! Ihr gleicht getünchten Gräbern, die von außen schön anzusehen sind, inwendig aber sind sie voller Totengebein und Unrat. So erscheint auch ihr den Leuten von außen als gerecht, innen aber seid ihr voller Heuchelei und Verachtung für das Gesetz.“ (Mt 23,27–28)
Zwinglis und Jesu Kritik an heiligem Schein statt heiligem Sein lässt an den Ersten Brief des Johannes denken, in dem dieser schreibt:
„Meine Kinder, das schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn einer doch sündigt, haben wir einen Fürsprecher beim Vater, Jesus Christus, den Gerechten. Er ist die Sühne für unsere Sünden, aber nicht nur für unsere, sondern auch für die der ganzen Welt.
Dass wir ihn erkannt haben, erkennen wir daran, dass wir seine Gebote halten. Wer sagt: Ich habe ihn erkannt, und hält seine Gebote nicht, ist ein Lügner – in dem ist die Wahrheit nicht. Wer aber sein Wort bewahrt, in dem ist die Liebe Gottes wirklich zur Vollendung gekommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind. Wer sagt, er bleibe in ihm, ist verpflichtet, seinen Weg so zu gehen, wie auch er seinen Weg gegangen ist.“ (1Joh 2,1–6)
Um den johannesschen und zwinglischen Imperativ des Seins statt Scheins befolgen zu können, gilt es, sich die Gebote Jesu, wie sie beispielsweise in der Bergpredigt formuliert sind, zu vergegenwärtigen. Besondere Beachtung verdient dabei die goldene Regel, „denn darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12). Sie lautet:
„Wie immer ihr wollt, dass die Leute mit euch umgehen, so geht auch mit ihnen um!“ (Mt 7,12)
i Huldrych Zwingli, Kommentar über die wahre und falsche Religion 1525. In: Huldrych Zwingli, Schriften, Band 3. Im Auftrag des Zwinglivereins herausgegeben von Thomas Brunnschweiler und Samuel Lutz unter Mitarbeit von Hans Ulrich Bächtold, Andreas Beriger, Christine Christ-von Wedel, Rainer Henrich, Hans Rudolf Lavater, Peter Opitz, Ernst Saxer und Peter Winzeler. Theologischer Verlag Zürich, Zürich 1995, S. 31–452, hier S. 254 f.
Thomas Tews