Einsamkeit - Verbundenheit - Trost

Dietrich Bonhoeffer in der Gefängniszelle von Tegel


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Essay von Kirchenpräsident Martin Heimbucher, Evangelisch-reformierte Kirche

Einsamkeit

Am Nachmittag des 5. April 1943 wird Dietrich Bonhoeffer in seinem Elternhaus im Grunewald von zwei Beamten der Gestapo verhaftet. Fast zwei Jahre lang wird er als Gefangener im Wehrmachts-Untersuchungsgefängnis Berlin-Tegel verbringen. Anfang 1945 verlegt man ihn ins KZ Buchenwald. Im Morgengrauen des 9. April 1945 wird er dann nach einem willkürlichen Standgericht in Flossenbürg als Mitglied der Widerstandsgruppe um Admiral Canaris umgebracht.

Obwohl Bonhoeffer sich bereits seit Beginn der Naziherrschaft ernsthaft mit der Möglichkeit seiner Inhaftierung auseinandergesetzt hatte, hat dem 37jährigen die Erfahrung des Eingesperrtseins massiv zugesetzt. Der leidenschaftliche Wanderer und Tennisspieler musste eineinhalb Jahre lang in einer zwei mal drei Meter kleinen Zelle ausharren, anfangs sogar in „Isolierhaft“: Kein Wärter durfte ein Wort mit dem politischen Häftling wechseln.

Der Wechsel von dem beziehungsreichen Leben dieses weltgewandten und weitgereisten Berliner Theologen zur Häftlingsexistenz war krass:

Eben noch hatte sich die vielköpfige Schar seiner Geschwister, Schwäger und Schwägerinnen, Nichten und Neffen zum 75. Geburtstag des Vaters, Karl Bonhoeffer, versammelt. Von Kindheit an war Bonhoeffer durch das lebhafte kulturbürgerliche Leben seines Elternhauses geprägt; bei Familienfesten wirkte er als versierter Klavierbegleiter.

Sodann lebte Bonhoeffer auch als ehemaliger Direktor des von den Nazis 1937 aufgelösten, illegal aber bis 1940 weiterarbeitenden Predigerseminars Finkenwalde, in einer engen, brieflichen Verbindung mit vielen seiner Schüler. Sein vormaliger Assistent im Predigerseminar war inzwischen zu seinem engsten Freund und Vertrauten geworden: Eberhard Bethge. Nach dem Krieg sollte er der erste Herausgeber der Schriften Bonhoeffers und sein Biograph werden.

Nicht zuletzt aber hatten Bonhoeffer und die 18jährige Maria von Wedemeyer es kurz vor der Inhaftierung gewagt, sich miteinander zu verloben – per Brief! Die Mutter der Braut hatte auf einer einjährigen Probezeit bestanden hatte, in der die beiden einander nicht sehen sollten. Am 5. April 1943, dem Tag der Inhaftierung Bonhoeffers, schreibt Maria in ihr Tagebuch: „Ist etwas Schlimmes geschehen? Ich fürchte, dass es etwas sehr Schlimmes ist“. Erst über eine Woche später erfährt sie, was geschehen ist. Die beiden werden einander nur noch bei einigen wenigen Besuchen Marias im Gefängnis nah sein können – unter der argwöhnischen Beobachtung eines Wärters, versteht sich.

In einem anrührenden Gedicht reflektiert Bonhoeffer nach mehr als einem Jahr Haft seine Situation:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?<
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge.
Ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und zu leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?
Wer bin ich? Der oder jener?

Verbundenheit

Nach einem anfänglichen Haftschock gelingt es Bonhoeffer, seine Gefängniszelle zu einem Ort intensiver brieflicher Kommunikation, theologischer Reflexion und dichterischer Produktivität zu machen. Die Basis dieses fragmentarisch gebliebenen faszinierenden Werkes aus der Haft ist der theologische Briefwechsel zwischen Bonhoeffer und Bethge. Bethge veröffentlichte die theologischen Passagen aus Bonhoeffers Gefängnisbriefen im Jahr 1951 unter dem Titel „Widerstand und Ergebung“.

Für viele Theologinnen und Theologen meiner Generation ist dieses Buch zu einem herausfordernden Einstieg in das theologische Denken geworden. Heute zählt „Widerstand und Ergebung“ in aller Welt zu den theologischen Klassikern. Bonhoeffer wagt es im Zwiegespräch mit seinem Freund, die Situation einer „mündig gewordenen Welt“, in der die Menschen ohne weiteres auf Gott als einer Voraussetzung ihres Lebens und Denkens verzichten können, theologisch zu reflektieren: „Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in dieser Welt leben müssen, als ob es Gott nicht gäbe. Und eben dies erkennen wir vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. … Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt. Gott lässt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt und gerade und nur so ist er bei uns und hilft uns.“ Dem Freund Eberhard Bethge vertraut Bonhoeffer auch am ehesten seine dichterischen Versuche an.

Persönliche Briefe richtet Bonhoeffer natürlich auch an seine Familie, seine Eltern und seine Geschwister. Gerade am Anfang seiner Haftzeit spielt er ihnen gegenüber die Qualen der Einsamkeit bewusst herunter. „Vor allem müsst ihr wissen und auch wirklich glauben, dass es mir gut geht.“ So schreibt er den Eltern am neunten Tag seiner Haft. Später enthalten die Briefe an die Familie vielfach auch chiffrierte Botschaften: über den Stand und die Verteidigungsstrategie im Prozess gegen Bonhoeffer und seinen Schwager Hans von Dohnanyi. Und über Einschätzungen der militärischen und politische Lage und der Pläne des Widerstand gegen Hitler. Mit der Zeit ist es Bonhoeffer gelungen, Angehörige des Wachpersonals im Gefängnis ihm gewogen zu machen. Briefe und Bücher werden an der Zensur vorbei aus dem Gefängnis heraus und ins Gefängnis hinein geschmuggelt. Oft blättern die Familienangehörigen im Grunewald die von Bonhoeffer gelesenen Bücher akribisch durch, um auf jeder zehnten Seite einen unscheinbaren Bleistiftpunkt unter einem der Buchstaben zu finden. Zusammengesetzt erhalten sie dadurch brisante Botschaften.

Dann aber gibt es aus dem Gefängnis noch jenen anderen Briefwechsel. Maria von Wedemeyer hat ihn bis zu ihrem Tod im Jahr 1977 gehütet wie einen Schatz. Fünfzehn Jahre danach wurde er veröffentlicht und ist wiederum zu einem viel gelesenen Buch geworden: „Brautbriefe Zelle 92“. Auf der einen Seite der in Kreisen der Bekennenden Kirche bereits beachtete Pastor und Autor theologischer Bücher, auf der anderen das zuweilen ungestüme Mädchen vom Gutshof in der Neumark, das unter diesen extremen Bedingungen den Weg in die Selbstständigkeit geht. Ein ungleiches Paar sucht – und findet! – in diesen Briefen den Gleichklang in dem starken Wunsch, doch schon bald, möglichst sehr bald heiraten und gemeinsam leben zu können …

Trost

Bonhoeffers Gedicht „Wer bin ich" endet mit den Zeilen:

Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?
Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Wie findet man Trost im Gefängnis, in einer mal hoffnungsvoll und dann wieder aussichtslos erscheinenden Lage? Es sind jedenfalls keine theologischen Formeln, die Bonhoeffer jetzt helfen. Im Gegenteil, vor dem Hintergrund dieser neuen Erfahrung klopft Bonhoeffer das traditionelle christliche Reden noch einmal kritisch ab. In einer Taufpredigt für Bethges ersten Sohn, aus der Zelle heraus schriftlich überbracht, formuliert Bonhoeffer diese bis heute herausfordernden Sätze: „Wir sind wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen. Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Der Tag wird kommen, an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert.“

In der Zelle von Tegel ging es freilich auch um sehr handfesten Trost: Die liebevoll gefüllten Päckchen aus dem Elternhaus brachten noch viel mehr als eine willkommene Abwechslung im Speiseplan des Gefängnisses. Und Bonhoeffer teilte mit anderen Gefangenen, von denen einige zu Freunden wurden. Zigarren und Zigaretten sorgten für Augenblicke voller Genuss. „Nun liegt Karl‘s Zigarre vor mir, eine wirklich unwahrscheinliche Realität!“ schreibt Bonhoeffer an Bethge, nachdem der ihm diesen Geschenkgruß von Karl Barth aus der Schweiz ins Gefängnis mitgebracht hatte.

Es war aber auch die in Finkenwalde geübte Disziplin der Schriftlesung und des Gebets, die dem Leben in aller Anfechtung Halt gab. Immer wieder versichern sich die Freunde Eberhard und Dietrich gegenseitig des täglichen Gedenkens in der Fürbitte. Und dann gelingt es Bonhoeffer, aus der Situation im Gefängnis, den eigenen Tod vor Augen, Zeilen zu verfassen, die auch andere trösten. Ganz am Ende, aus dem elenden Kellergefängnis der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße, schickt Bonhoeffer zum Jahreswechsel 1945 seiner Braut und seinen Eltern jenes Silvestergedicht, das seither unzählige Menschen angesprochen und getröstet hat:

Von guten Mächten wunderbar geborgen
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen,
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.

Eine letzte Botschaft aber, die uns von Bonhoeffer überliefert ist, hat er einem englischen Mitgefangenen zugeflüstert, als er zur Hinrichtung abgeführt wurde. Es war eine Botschaft nach England, an den väterlichen Freund und großen Ökumeniker Bischof George Bell, eine Botschaft unbeugsamer Hoffnung:

Sagen Sie ihm, dass dies für mich das Ende ist, aber auch der Anfang. Mit ihm glaube ich an unsere weltumspannende christliche Bruderschaft, die sich über allen nationalen Hass erhebt, und: dass unser Sieg gewiss ist.“


Martin Heimbucher