Es gibt Hoffnung für uns alle

Predigt am 5. Dezember 2021 (2. Advent) in der EFG Neustadt am Rübenberge zu 1. Thessalonicher 4, 13–18.


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Von Marco Hofheinz

Liebe Gemeinde,

Was darf ich hoffen?“1 Das ist nach dem Philosophen Immanuel Kant eine der „großen Fragen“, die wir Menschen uns stellen. Doch so abstrakt wie Kant fragen wir Menschen meistens nicht. Die Frage nach unserer Hoffnung begegnet uns im Alltag meistens direkter. Sie rückt uns unmittelbar auf den Leib. Sie begegnet etwa der Pastorin, die zu einem Beerdigungsgespräch geht. Dort wird sie von der Mutter, deren 21-jähriger Sohn Erwin auf tragische Weise um Leben gekommen ist, unvermittelt gefragt: „Sagen Sie mal, Frau Pastorin, was wird denn eigentlich aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?“2 Diese Frage ist für uns heute, am 2. Advent 2021 mitten in der 4. Corona-Welle, alles andere als abstrakt und weit weg. Nein, diese Frage kommt uns ganz nahe, näher als wir er uns wünschen und noch im Sommer ausmalen konnten. Wie viele Erwins gibt es in diesen Tagen, wo der Tod so schreckliche Ernte unter uns hält, und wo nicht nur viele Mütter um ihre Erwins, sondern auch viele Erwins um ihre Mütter weinen und diese Frage stellen: Was wird aus den Toten?

Ganz ähnlich haben bereits die Thessalonicher den Apostel Paulus gefragt. Der 1. Thessalonicherbrief ist ja das älteste Schriftstück, das uns im Neuen Testament vorliegt. Die Frage nach ihrer ganz persönlichen Hoffnung haben also bereits die ersten Christinnen und Christen gestellt: Was wird aus unseren Lieben? Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist? Die Gemeinde in Thessalonich ist tief verunsichert. Einige Christinnen und Christen sind bereits verstorben, ohne dass Jesus wiedergekommen wäre, wie sie es noch zu ihren Lebzeiten erwartet hatten. Was nun? Gibt es Hoffnung für die Toten? Denn nur, wenn es Hoffnung für die Toten gibt, gibt es auch Hoffnung für die Lebendigen. Es sind ja die Lebendigen, die sich um das Schicksal der Toten sorgen.

In dem Predigttext für den heutigen Sonntag versucht Paulus, seine Hoffnung für die Toten auf den Punkt zu bringen und zwar so, dass sie die Gemeinde in Thessalonich tröstet. Im 4. Kapitel des Thessalonicherbriefes und zwar in den Versen 13 bis 18 verweist Paulus die Thessalonicher auf das Kommen des Herrn, auf das Kommen Jesu. Aber inwiefern gibt Jesu Kommen Hoffnung? Genau das versucht Paulus in unserem Predigttext auszumalen. Man hat diese Verse als eine „Miniaturapokalypse“ (Philipp Vielhauer) bezeichnet, weil hier in wenigen Worten gleichsam der Schleier dessen, was kommt, weggerissen wird. Enthüllt werden die Ereignisse, die mit dem Kommen Jesu verbunden sind. Ich lese diese Verse kurz vor nach der Lutherübersetzung. Sie sind dort überschrieben mit: „Von der Auferstehung der Toten“.

13 Wir wollen euch aber, Brüder und Schwestern, nicht im Ungewissen lassen über die, die da schlafen, damit ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben. 14Denn wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die da entschlafen sind, durch Jesus mit ihm führen.15Denn das sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die wir leben und übrig bleiben bis zum Kommen des Herrn, denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind.16Denn er selbst, der Herr, wird, wenn der Ruf ertönt, wenn die Stimme des Erzengels und die Posaune Gottes erschallen, herabkommen vom Himmel, und die Toten werden in Christus auferstehen zuerst. 17 Danach werden wir, die wir leben und übrig bleiben, zugleich mit ihnen entrückt werden auf den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft. Und so werden wir beim Herrn sein allezeit.18So tröstet euch mit diesen Worten untereinander.“

Liebe Schwestern und Brüder, es geht um das Kommen des Herrn. Paulus bringt es auf den Punkt: „Wir, die wir leben und übrig bleiben bis zum Kommen des Herrn, werden denen nicht zuvorkommen werden, die entschlafen sind.(V. 15) Beide sind von Jesu Advent umfasst: sowohl die, die bereits gestorben sind, als auch die, die noch sterben werden. Jesu Advent schließt keinen aus. Sie alle sind mit dabei. Es gibt Hoffnung für eine jede und einen jeden. Es gibt Hoffnung für alle, weil es um Jesu Advent geht: Gott kommt in dem Stall zu Bethlehem zu uns allen. Das ist Kern und Stern der Weihnacht und darum auch Kern und Stern des Advents: Gott kommt zu uns und der Mensch wird frei und darf leben.

Das mag selbstverständlich klingen, ist es aber nicht. Für unsere Hoffnung erweist es sich als entscheidend, worin sie begründet liegt. Es macht einen Unterschied, ob wir unsere Zukunft von der Weiterentwicklung der Welt erwarten, von der Besserung ihres Bestandes, von der positiven Veränderung dieser Welt aus ihren eigenen Kräften, vom medizinischen Fortschritt etwa, so sehr wir ihn gerade in diesen Tagen zu schätzen wissen, oder ob wir mit Paulus in der Tradition des Alten Testaments vom Kommen Gottes her leben: „Tochter Zion, freue dich, / jauchze laut, Jerusalem! / Sieh, dein König kommt zu dir, / ja er kommt, der Friedefürst“3, so stimmen wir den Vers aus Sacharja 9,9 an und singen nach der Melodie und dem Satz von Georg Friedrich Händel aus seinem Oratorium „Judas Maccabaeus“ von 1747. Der Text von Friedrich Heinrich Ranke aus dem beginnenden 19. Jahrhundert unterstreicht das Kommen doppelt, wenn er bekräftigt: „Dein König kommt zu dir, / ja, er kommt, der Friedefürst.“ Warum wird dieses Kommen so sehr betont? Nun, weil es um nichts Geringes als unsere Hoffnung geht. Weil Gott in Christus der Welt „von vorne“ entgegenkommt, darum gibt es Hoffnung. Es gilt nicht einfach: In der Zukunft der Welt gibt es die Wiederkunft Jesu Christi, sondern: Weil Jesus Christus kommt, hat die Welt Zukunft, besser noch: bekommt die Welt Zukunft. Die Zeitform, mit und in der wir als Christinnen und Christen die Zukunft erwarten, ist nicht das Futur, sondern ist der Advent: „[D]as futurum bezeichnet das, was wird, der adventus das, was kommt.“4

Denken wir an das schöne Adventslied „Macht hoch die Tür“.5 Auch hier wird das Kommen Jesu besungen: „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit, / es kommt der Herr der Herrlichkeit.“ Mit dem Kommen des „Herrn der Herrlichkeit“ ist nichts Geringeres als die Rettung des Menschen verbunden, ist er doch der, „der Heil und Leben mit sich bringt; / derhalben jauchzt, mit Freuden singt“. In Strophe 3 heißt es: „Wohl allen Herzen insgemein, / da dieser König ziehet ein. / Er ist die rechte Freudensonn, / bringt mit sich lauter Freud und Wonn.“ Oder dann in Strophe 4: „So kommt der König auch zu euch / ja, Heil und Leben mit zugleich.“ Und schließlich erfolgt dann in der fünften und letzten Strophe die direkte Aufforderung an Jesus: „Komm, o mein Heiland Jesus Christ, / meins Herzens Tür dir offen ist. /Ach zieh mit seiner Gnade ein; / dein Freundlichkeit auch uns erschein“. Immer ist es das Kommen Gottes, variiert in der Formulierung durch das Motiv des Einziehens, mit dem Heil und Leben für den Menschen einhergehen: Gott kommt und der Mensch darf leben – so betonen es diese Adventslieder, die uns vorbereiten und einstimmen auf Weihnachten.

Paulus weiß um die Bedeutung dieses Kommens und er malt es der Gemeinde aus, was dieses Kommen bedeutet: „Wenn wir glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die, die da entschlafen sind, durch Jesus mit ihm führen.“ (V. 14) Paulus betont: Jesu Kommen ist ein Kommen, das uns mitnimmt. Er nimmt uns mit, denn er möchte nicht ohne uns sein: „Ich lebe und ihr sollt auch leben“ (Joh 14,9), so hat er es selbst einmal gesagt. Der große Liederdichter Paul Gerhardt gebraucht dafür ein sehr anschauliches Bild, nämlich das vom Geburtsvorgang, genauer noch: das vom Geburtskanal: „[W]o mein Haupt durch ist gangen, / da nimmt er mich auch mit.“6 Gerhardt will damit sagen: „So gewiss, wie bei der Geburt dem ans Licht gedrungenen Kopf eines Neugeborenen dessen übrigen Körper folgen wird, so sicher werden wir durch das Dunkel des Todes hindurch Jesus in sein Leben folgen.“7 Wenn es der Kopf erst einmal geschafft hat, dann folgt der Rest gleichsam von alleine. Das wusste Gerhardt bereits im 17. Jahrhundert, der unserem Mitgeführtwerden mit Jesus durch den Tod hindurch, wie Paulus es betont, damit ein einprägsames Bild verliehen hat.

Paulus ist davon überzeugt, dass von dem Kommen Jesu der entscheidende Trost für die Thessalonicher ausgeht. Und auch wenn wir heute gewiss nicht mehr in der Naherwartung der ersten Christinnen und Christen aus Thessalonich leben, so dürfen auch wir dennoch davon ausgehen, dass das Kommen Jesu für uns Trost bedeutet. Der Heidelberger Katechismus fragt mit Recht in Frage 52: „Was tröstet dich die Wiederkunft Christi?“ Paulus versucht in unserem Predigttext mit weiteren Bildern den Trost auszumalen, der in dem Kommen Jesu steckt. Denn Paulus möchte die Thessalonicher „nicht im Ungewissen lassen“ (V. 13). Er möchte nicht, dass sie traurig sind „wie die anderen, die keine Hoffnung haben“ (V. 13). So gebraucht er noch weitere Bilder, um der Hoffnung Anschauung zu verleihen. Peter Bukowski hat sie wie folgt ausgemalt:

„Einmal, am Ende der Zeit, wird Gottes Stimme erschallen, wie Gott am Anfang der Zeit sprach: ‚Es werde … und es ward‘; wie beim Wunder der Schöpfung wird Gott dereinst die Verstorbenen in das neue Leben rufen. Die Begrabenen werden aufstehen, wie das in die Erde gelegte Senfkorn zu blühendem Leben erwächst. Sicher reicher und schöner als das, was wir in die Erde legen; aber doch ist es die Zukunft der vormals Begrabenen, die dann aufgeht und in himmlischem Licht erstrahlen wird.

Und sie werden umgeben sein – von guten Klängen. Paulus redete von den Stimmen der Engel und den Posaunen Gottes. Alles reine und wohltuende Stimmen: Kein Gebrüll mehr, auch kein Stöhnen. Die bösen Stimmen, die uns jetzt noch und noch peinigen: die Lügen und die bösen Einflüsterungen, die Anklagen und die Beleidigungen, sie alle sind dann endlich zum Schweigen gebracht. Schluss wird sein mit dem Geheule der Sirenen und dem Donnern der Detonationen und den Alarmpiepsern auf den Intensivstationen.“8

Wir werden auch keine Krankenwagen mehr hören, die Stunden um Stunden von Krankenhaus zu Krankenhaus fahren, um ein Intensivbett für einen Coronakranken zu finden. Die neue Welt Gottes – sie ist erfüllt von gutem, reinen Klang. Wie auf Wolken – so leicht, so schwerelos werden wir uns fühlen, in einer Luft, wo niemandem mehr das Atmen schwerfällt und wo niemand mehr intubiert an sein Krankenbett gefesselt ist. So wird es sein, wenn wir heimwärts gehen – hin zu dem, von dem wir herkommen und der dort auf uns wartet.

Und noch eins entnehme ich dem Hoffnungsbild des Paulus: Das, was uns jetzt noch quält in unserer Traurigkeit, wird dann aufgehoben und verwandelt sein: jenes rätselhafte Ungleichgewicht, dass unter uns herrscht, dass einige allzu vorzeitig sterben müssen, dass manches Leben so unerfüllt blieb, voller Schmerz und Mangel. All das, was uns hier so traurig, zornig und bitter macht – dort wird es zurechtgebracht. Die zu früh Verstorbenen wird Gott als erste ins neue Leben rufen.“9 Das gilt gewiss auch für Erwin und das darf auch seine Mutter wissen: Erwin ist jetzt im neuen Leben bei Jesus: „Wir werden bei dem Herrn sein allezeit“ (V. 17), sagt Paulus.

Es könnte nun freilich jemanden unter uns geben, der sagt: „Das hört sich alles sehr schön an, was Du da sagst: Jesu Kommen gibt Hoffnung. Ich glaube das auch – zumindest mit dem Kopf. Ich bin davon aber im Herzen noch nicht getröstet. Mir geht das alles zu schnell. Ich bin vielleicht mit dem Kopf ein Christ, aber im Herzen, tief drinnen in meinem Innersten, da bin ich immer noch und noch immer ein ungetrösteter Heide.“

Ja, liebe Gemeinde, gewiss wird es nicht wenige unter uns geben, die jetzt genau so denken und empfinden. Und in der Tat, die Traurigen unter uns „dürfen nicht von sich erwarten, davon jetzt gleich getröstet zu sein. Paulus hat das damals auch nicht erwartet. So gewiss ihm seine Worte sind, so weiß er doch, dass Trauer ihre Zeit braucht und in dieser Zeit Menschen, die den Traurigen beistehen. Darum sagt Paulus am Ende nicht: ‚Jetzt kapiert‘s schon endlich!‘ Sondern er sagt: ‚So tröstet euch mit diesen Worten untereinander‘ (V. 18). Lasst uns diesen Rat beherzigen. Traurige brauchen eine tröstende Gemeinde. Und die hoffnungsvollsten Worte des Glaubens werden sich verlieren, wenn wir sie uns nicht untereinander und gegenseitig immer wieder zusagen. Auch der Apostel selbst, der hier so kräftig vom Glauben reden kann, war angewiesen auf die tröstende Gemeinschaft mit anderen. Lasst uns deshalb aufeinander achthaben; dass wir andere trösten, wo wir trösten können, und dass wir uns Menschen suchen, die uns in unserer Traurigkeit beistehen.“10

Und zum Schluss noch eins: Wenn Paulus von „diesen Worten“ (V. 18) spricht, mit denen sich die Thessalonicher trösten sollen, so weiß auch er darum, dass „diese Worte“ vorerst nur vorauseilen werden, dass sie aber schließlich nach und nach auch Resonanz finden. Denn es schwingt in der Gewissheit des Paulus etwas von genau jener Erfahrung mit, die wir selbst an so vielen Gräber machen durften, als wir dort gesungen haben: „Wenn ich auch gleich nichts fühle von deiner Macht, du führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht. So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich.“ Dass Gott unsere Hände nehmen und uns führen wird, wenn unsere Hände erkalten – im Schmerz, in der Trauer, in größter Not und Angst, ja, und schließlich im Tod – das gibt Hoffnung, Hoffnung für Erwin, Hoffnung für seine Mutter und Hoffnung für uns alle.

Amen

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1 Immanuel Kant, Logik, hg. von Gottlob Benjamin Jäsche, Einleitung III, Akad.-Ausg. IX, 25.

2 Vgl. Peter Bukowski, „Was wird aus Erwin, jetzt, wo er tot ist?“ Rückfragen an die erste theologische Ausbildungsphase, in: ders., Theologie im Kontakt. Reden von Gott in der Welt, Göttingen 2017, 49–58.

3 EG 13,1.

4 Jürgen Moltmann, Das Kommen Gottes. Christliche Eschatologie, Gütersloh 1995, 42.

5 EG 1 („Macht hoch die Tür“).

6 EG 112,6 („Auf, auf, mein Herz, mit Freuden“).

7 Peter Bukowski, Trost den Traurigen. Predigt über 1. Thessalonicher 4,13–18, in: Sylvia und Peter Bukowski Ein Buch voller Leben. Entdeckungen in der Bibel. Predigten zu ungepredigten Texten, Neukirchen-Vluyn 1992, (150–155) 152. Von dieser Predigt meines homiletischen Lehrers Peter Bukowski ist die folgende Predigt nicht nur inspiriert, sondern ich habe mir die Freiheit genommen, lange Passagen aus ihr zu übernehmen.

8 A.a.O., 153f.

9 A.a.O., 154.

10 Ebd.


Prof. Dr. Marco Hofheinz, Leibniz Universität Hannover