Ist Ratzinger ein geheimer Calvinist?

Peinliche Fehlurteile: Die katholische Kirche sei heute so eingekreist wie seinerzeit Genf

meint Patrick Bahners in der F.A.Z.: Genf als die Quelle des religiösen Fundamentalismus - die Einkreisungsphobie der fanatischen Genfer - Die calvinistische Militanz - Und das alles finde sich nun im modernen Katholizismus wieder. Kategorie: absurd.

"Überall in Europa befand sich der Glaube auf dem Rückzug, waren die Frommen den Schikanen einer mißgünstigen Umwelt ausgesetzt.

Über die Zentrale der Weltkirche wurde der Belagerungszustand verhängt, und aus dem „Gefühl des Ausgesetztseins“ entstand, wie der Historiker Heinz Schilling als Stipendiat des Historischen Kollegs vorgestern in München darlegte, der Fundamentalismus - um die Wende vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert, im Calvinismus.

Die Stadt Genf war von katholischen Mächten eingekreist, und um ein Haar wäre dem Herzog von Savoyen 1602 die Einnahme des Protestantischen Rom geglückt. Die wundersame Rettung erhielt ihren Platz in jener „Spirale von Aufbrüchen und Rückschlägen“, als die den Calvinisten die Geschichte ihrer Gemeinschaft von Bekennern erschien. In der Bedrängnis kam es zu einer Verschärfung der Gnadenidee durch Politisierung: Das auserwählte Kirchenvolk sah sich in den Kampf gegen eine Welt von Feinden versetzt.
 
Einkreisungsphobie?

In unseren Tagen ist es die römische Kirche, der die Diagnose einer Einkreisungsphobie gestellt wird. Johannes Paul II. und sein Mann für System und Ordnung, Kardinal Ratzinger, haben sich in der welthistorischen Defensive verleiten lassen, Kirche und Moderne nach einer Logik des Konflikts zu betrachten, die Sicherheit in der Eskalation sucht: So deuten die Reformatoren von morgen die gegenwärtige Entscheidungssituation.

„Formierung“ und „Disziplinierung“ - die Begriffe, auf die Schilling mit der Nüchternheit des Strukturhistorikers die Leistungen der militanten Kirchentümer bringt, wird man auch in den Bilanzen des Wojtyla-Pontifikats aus den Reihen der deutschen Laienfunktionäre finden. Und hat Ratzinger als Prediger nicht erst vorgestern für die Kirche das „Bild vom bedrohten Schifflein“ verwendet und damit zu verstehen gegeben, die Kirche brauche „einen Kapitän mit klarem Kurs und fester Hand“? So jedenfalls stand es gestern in der „Süddeutschen Zeitung“.

Calvinistische Militanz

Das Nußschalenbild war, wie man von Schilling lernte, das Emblem der calvinistischen Militanz: Die Bildpropaganda, die im Zeitalter der Reformationen mit einem Schlag zur historischen Potenz avancierte, fixierte die schwankende Stimmungslage, indem sie Ängste und Hoffnungen auf den Punkt der in höchster Not erfahrenen Heilsgewißheit brachte.

In Ratzingers Predigt war es freilich gar nicht die Kirche, über deren Bug die Wellen des Zeitgeistes zu schlagen drohten, sondern „das kleine Boot des Denkens vieler Christen“ - das Schiff, das sich Gemeinde nennt, aber dann nicht Gemeinde ist, wenn man an Bord beispielsweise dem künftigen Papst in der Gottesdienstordnung vorgreift und so tut, als gäbe es schon weibliche Offiziere.

Nicht in Seenot

Es mag nicht höflich sein, die großen Theologen, deren Lebensthema die Vermittlung zwischen Wahrheit und Relativismus ist, in ein kleines Boot zu stecken; aber die Seenot, von der die Predigt spricht, ist eine Anfechtung des Verstandes, nicht etwa die Lage der Kirche, für die sich eben nicht wie für ein Kaperschiff die Alternative von Sieg oder Untergang stellt.

Schilling sieht auch in der katholischen Konfession um 1600 einen Fundamentalismus, der die Welt in Fromme und Feinde teilte. Ein fanatisches Moment des Calvinismus, für das er auf römischer Seite keine Entsprechung findet, ist das apokalyptische Geschichtsbild, das jede politische Entscheidung mit endzeitlicher Erwartung belastete. Heute sind es die Kirchenkritiker, die vom nächsten Papat verlangen, er müsse der letzte Papst sein und mit allem Unheil aufräumen."


Patrick Bahners, F.A.Z., 20.04.2005, Nr. 91 / Seite 46
 

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