Wächter, wie weit ist es in der Nacht?

Predigt zu Jesaja 21, 11-12


Ohne Titel © Andreas Olbrich

Das kleine Lied des Propheten Jesaja bewahrt Leidenserfahrungen. Das Bild der "Nacht" ist "wirklichkeitswund". Die Worte sind überliefert, der Welt ein Leidensgedächtnis zu geben. Eine Predigt am Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus. Von Jürgen van Wieren

„Ausspruch über Duma.
Zu mir ruft man aus Seir:
„Wächter, wie weit ist es in der Nacht?
Wächter, wie weit in der Nacht?“
Der Wächter sagt:
„Der Morgen ist gekommen,
und noch ist es Nacht.
Wollt ihr fragen, so fragt!
Kommt noch einmal zurück!“ (Jesaja 21, 11-12)

(Übersetzung aus dem Jesaja-Kommentar von Willem A. M. Beuken)

Liebe Gemeinde,

dieses kleine Lied ist eingängig – und doch haben wir Mühe zu verstehen. Dabei ist die Bilderwelt unseres Textes rasch aneinandergereiht: Von einer Nacht ist die Rede. Mit dieser Nacht hat es eine besondere Bewandtnis. Sie kann auch vom gekommenen Morgen nicht verscheucht und vertrieben werden.

Von Rufen wird erzählt. Von Rufen, die herüber klingen. Menschen sinds, die fragend rufen, sie fragen noch einmal, und werden aufgefordert, wieder und wieder zu fragen. Sie fragen nach der Nacht und ob sie bald hin sei, ob denn nicht bald der Morgen kommt. Antwort erhalten die Fragenden von Wächtern, also wohl von denen, die etwas sehen, etwas erspäht haben, die eine Entdeckung gemacht haben. Ihre Entdeckung teilen sie den Rufenden als Antwort mit: „Der Morgen ist gekommen und noch ist es Nacht.“ Und wohl wegen dieser paradoxen Antwort, ergeht die Aufforderung: „Kommt noch einmal zurück!“

Das kleine Lied, liebe Gemeinde, ist schlicht und einfach aufgebaut. Aber es enthält einen verstörenden Sinn, einen Wider-Sinn. Bricht es doch mit einer Folge, der fundamentalen Aufeinanderfolge von Tag und Nacht. Gleichzeitig sind sie da: der Tag und die Nacht. Ja, gerade wegen dieser „Verstörung“ hat das Lied auch wohl „etwas“, wie man so sagt, und ist vielleicht sogar „schön“ zu nennen. Es erscheint allerdings auch wie eine Rätselrede oder wie ein „Metapherngestöber“. Was sollen diese Bilder? – Werd mal konkret, möchte man einfordern! Und noch dazu: Auch wenn dieses Lied mehr als 2.500 Jahre alt ist, so soll es doch den „historischen Graben“ überwinden und zu uns heute sprechen, an diesem Tag, an dem wir an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern.

Und da holt uns womöglich eine Debatte ein, die in den 50er und auch 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts heftig geführt wurde. Damals huschte ein geflügeltes Wort vor allem in der Bundesrepublik, aber auch anderswo, über viele Schreibtische, über Katheder, Kanzeln und durch viele Medien: Das Wort des Philosophen Adorno, dass es „nach Auschwitz“ keine Gedichte mehr geben könne. Dieses Wort war eine Art Fundamentalkritik gegen das, was man als die „Lehre vom Schönen“ bezeichnen könnte. Also jener Lehre, dass die Welt nur sozusagen ästhetisch zu rechtfertigen sei, eben durch die „schöne Pracht“ der Worte, der Musik, der Kunst und Kunstwerke, der Architektur. Und die Größe und Bedeutung des Menschen sei doch, dass er in der Lage ist, das Schöne zu schaffen und in sich aufzunehmen. Eine Sicht, die wir in Deutschland vor allem auch mit dem Namen Weimar verbinden.

Klingt darum dieses Wort „man könne keine Gedichte mehr schreiben“ nicht so, als wollte da einer „nach Auschwitz“ nicht nur den Vögeln das Singen, den Bäumen das Blühen und der Sonne das Leuchten, sondern auch den Menschen das Menschsein verbieten? Doch - und nur darauf soll es heute hinausgehen -, was unterscheidet den Menschen von den Vögeln, den Blumen und der Sonne? Ist es nicht auch, ist es nicht auch ein Erschrecken? Ist es nicht dieses Entsetzen über die Offenbarung der Unmenschlichkeit des Menschen, die sich in Auschwitz ereignete? Dieses Entsetzen über den entsetzlichen Menschen, der sich und andere entsetzlich entstellen kann? Dieses Erschrecken, das ihm die Sprache verschlägt, seinen Gesang unterbricht und ihm die Sonne verfinstert. Sind wir Menschen wirklich menschenfreundlicher, wenn wir solches Erschrecken des Menschen über den Menschen erfolgreich vergessen können? Klingen nicht für immer Schreie herüber, von Buchenwald nach Weimar, ein Weniges nur voneinander entfernt?

Auch vom Gebirge Seir, liebe Gemeinde, klingt es herüber, rufend herüber, fragend. Nein, nicht neugierig wird hier gefragt. So also, als ob man mit einer gehörigen Portion Distanz über dieses und jenes informiert werden möchte. Das hebräische Verb „fragen“ meint auch ein „Suchen“, ein „Erbitten“, ein „Erflehen“. Menschen flehen - und flehen. Die Wiederholung im Text unterstreicht die Dringlichkeit. – Menschen in der Nacht „erflehen“ - das Ende der Nacht. „Es ist Zeit, dass es Zeit wird. Es ist Zeit.“ Und es tut sich uns auf „eine Landschaft aus Schreien.“ Menschen in Nacht eingehüllt und aus der Nacht heraus schreien, seufzen, wimmern, sind selber eine einzige Frage: Wann ist die Nacht vorüber!

Nacht. Sie steht für die Bedrohung des Lebens, für Ausgrenzung, Verschleppung, Entwurzelt werden, Demütigung, Leiden, Schmerz und Tod.
Nacht. Sie steht für Ängste, Tränen, Gewalt, für Auseinander gerissen werden. Nacht. Sie steht für keine Aussicht mehr, für Nichts, Niemand, nur eine Nummer noch ... verschwinden. ... Nacht. Sie steht dafür, dass der Mensch über den Menschen kommt. „Da ergrimmte Kain sehr und senkte finster seinen Blick. ... Und als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“

Es genügt ein Weniges nur an Berührung und die Worte unseres Textes beginnen zu sprechen, zu schreien, sind Ausdruck des Leidens.
So, liebe Gemeinde, sind unserem kleinen Lied Erfahrungen eingeprägt, in ihm sind Erfahrungen aufbewahrt: Leidenserfahrungen. Den Bildern sind geschichtliche Daten eingeritzt, eingeschrieben. Sie sind „wirklichkeitswund“! Und darum ist dieser Text überliefert, weitergegeben an die Generationen – bis hin zu uns. Selbst da, wo die Erinnerungen verblassen oder nur noch erzählte Erinnerungen sind, sollte der „Welt ein Gedächtnis“ bleiben: ein Leidensgedächtnis. Ein Gedächtnis davon, dass selbst da, wo es „Morgen geworden ist“, die „Nacht doch auch da ist.“
Gleichsam die „Nachtseite“ des Lebens und der Geschichte sollte aufbewahrt bleiben. Dass wir sie nicht vergessen im Fortgang, im Fluss der Zeit, im „schönen Schein“ und im angeblichen „Fortschritt“ der Geschichte. Längst spricht dieses kleine schlichte Lied auch schon zu uns heute, hier. Denn wir haben alle eben eine neue Erfahrung mit unserem Text, mit der „Nachtseite“ des Lebens gemacht. Wir haben uns an das Schicksal von Abraham Ries erinnern lassen.

Und die Erinnerung weist uns auch ins Heute, ins Morgen. Denn selbst da, wo mir der Morgen kommt und es taghell in meinem Leben ist; wo ich im Glück bin; wo mir die Sonne scheint, mir vieles gelingt und ich mit meinem Leben zufrieden bin; wo ich von Leiden, von Gewalt und Bedrohung und Hass verschont bleibe; selbst da gilt es zu bedenken, ja zu fühlen, sensibel dafür zu werden, was die gleiche Zeit mit anderen Menschen macht: Zeitgenossen – Zeitgenossinnen: sie doch alle. Sie doch vor allem – die auf der „Nachtseite“ zu stehen kommen.

„Doch ein Schatten fällt von jenen Leben
In die andern Leben hinüber,
Und die Leichten sind an die Schweren
Wie an Luft und Erde gebunden.“

Liebe Gemeinde,

„Wächter, wie weit ist es in der Nacht? Wächter, wie weit in der Nacht?“ Wie ein Kommentar zu diesem Text aus dem Propheten Jesaja erscheint jene kleine berühmte Geschichte von dem Rabbi, der seine Schüler fragte: „Wie erkennt man, dass die Nacht zu Ende geht und der Tag beginnt?“ Die Schüler fragten: „Ist es vielleicht dann, wenn man einen Hund von einem Kalb unterscheiden kann?“ „ Nein“, sagte der Rabbi. „Ist es dann, wenn man einen Feigenbaum von einem Mandelbaum unterscheiden kann?“ „Nein", sagte der Rabbi. „Wann ist es dann?“ fragten die Schüler. „Es ist dann“, sagte der Rabbi, „wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und deine Schwester und deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“ Ja, bis dahin ist die Nacht noch bei uns, ist sie bei uns, immer noch bei uns.

Und Gott? Von ihm ist in diesen zwei Versen aus dem Propheten Jesaja mit keinem Wort die Rede. Gott will in diesem Lied erst entdeckt werden. Gott will immer erst entdeckt werden. Nein, nicht als ob Gott nicht da wäre. Von Anfang an spricht unser kleines Lied auch von IHM. Viemehr noch: Es spricht zu IHM. Und wie es zu IHM spricht! Denn Menschen "in der Nacht" sitzen ja an keinem Schreibtisch und stehen auf keiner Kanzel. Sie schreien sich selbst - in Gottes Ohr. Und da wird in unserem Lied Gott als der entdeckt, der in seiner Abwesenheit anwesend ist.

ER ist da, als der da, der abwesend ist. Gott wird vermisst. Ob wir das wohl von Ferne, „aus fernen Nächten“, ein wenig kennen: Gott zu vermissen? "Ich vermisse dich. Wir vermissen dich." In diesem Satz steckt die Mutter aller Theologie. Manchmal vermisst man die Mutter doch sehr, in unseren Reden von Gott angesichts des Bösen, des Leids, des Schreis - angesichts einer Gottesrede "nach Auschwitz".
Längst war uns das kleine Lied auch zum Gebet geworden. Nach Gott wird gefragt und gefragt, zu ihm wird geschrieen. Dass das Ende der Nacht kommt. Dass nicht immer gleichzeitig kommt Tag und Nacht. Ja, wer, wer sollte das in seinem Kommen mit sich bringen, als Gott allein! Im Schrei aus der Nacht wird Gott um nichts anderes als um sich selber gebeten! Komm du – und nicht mehr komme die Nacht!

Amen


Jürgen van Wieren, Ditzumerverlaat und Landschaftspolder, Bund