Johannes Calvin und die Feiertagsfrage oder: die Machtverhältnisse in Genf

»Du wirst Dich wundern, dass unsere Obrigkeit, ohne die Pfarrer zurate zu ziehen, so plötzlich die angenommene Kirchenordnung geändert hat.«

Von Calvin wird immer wieder behauptet, er habe in Genf einen ›Gottesstaat‹ errichtet, in dem sich die Pfarrer über die weltlichen Behörden gesetzt und ihre religiösen Vorstellungen rücksichtslos durchgesetzt hätten. Dieser Vorwurf ist absurd. Die wahren Machtverhältnisse in Genf waren andere.

Calvin hatte zeitlebens kein politisches Amt in Genf inne, er war Ausländer und erhielt erst vier Jahre vor seinem Tod das Genfer Bürgerrecht verliehen. 1538 wurde er vom Genfer Stadtrat ausgewiesen, weil er sich gegen die Einmischung des Stadtrates in kirchliche Angelegenheiten verwahrte. Damals ging es um die Angleichung der Genfer Kirchenordnung an die Berner Vorlage, die der Stadtrat ohne Rücksprache mit den Pfarrern vorgenommen hatte. Auch nach seiner Rückkehr 1541 war Calvins Stellung gegenüber dem Genfer Stadtrat lange Zeit ungefestigt. Die eigentliche ›Macht‹ Calvins bestand in seinem jahrzehntelangen Fleiß, seinen intellektuellen und organisatorischen Fähigkeiten sowie in der Tatsache, dass der Stadtrat jährlich neu gewählt wurde, während sich Calvins Amtszeit als Pfarrer über einen Zeitraum von mehr als 25 Jahre erstreckte. Zudem konnte sich Calvin europaweit einen Namen machen, was die Genfer Kritiker Calvins nicht unbeeindruckt ließ.
Sehr deutlich werden die Auseinandersetzungen und Machtfragen in Genf in einem Brief Calvins an Heinrich Bullinger, den Nachfolger Zwinglis in Zürich. Dort war nämlich 1551 das absurde Gerücht aufgetaucht, in Genf sei der Sonntag abgeschafft worden. Calvin antwortete Bullinger und erläuterte in seinem Brief, die tatsächlichen Hintergründe:

Calvins Brief an Bullinger vom 23. April 1551
»Dass Du dem leichtfertigen Geschwätz, wir hätten in Genf den Sonntag abge­schafft, keinen Glauben schenktest, war klug von Dir. So ungeheuerliche Schwindeleien berauben sich ja schon durch ihre Absurdität der Glaubwürdig­keit. Dass Du aber auch im Vertrauen auf unsre Mäßigung die Verleumdung, die uns aufgebrannt wurde, ernstlich zurückwiesest, damit hast Du uns einen Freundes- und Bruderdienst geleistet. Denn ich müsste ja mehr als verrückt sein, wenn ich durch eine so alberne und leichtfertige Neuerung die Guten in Verwirrung brächte, den Bösen Waffen böte, mich selbst dem allgemeinen Spott aussetzte. Doch, was rede ich von mir? Ich glaube, es ist kein Mensch aus der ganzen Menge hier so unvernünftig, dass er je von so etwas geträumt hätte. Ich habe aber schon längst durch Erfahrung gelernt, derartiges Geschwätz zu verachten oder doch gleichgültig hinzunehmen. Es war ja bisher sozusagen mein eigentliches Schicksal, Tag für Tag mit so stinkender Verleumdung belastet zu werden. Vielleicht gab der eine Umstand Anlass zu dem Geschwätz, dass der Weihnachtsfesttag auf den darauffolgenden Sonntag verlegt wurde. (1) Ob mit Recht oder Unrecht, darüber habe ich jetzt nicht zu entscheiden, und meinet­wegen darfst Du es freimütig verurteilen. Denn da es ohne meine Anregung, ja ohne mein Wissen beschlossen wurde, so darf es mir auch nicht angerechnet werden.
Du wirst Dich wundern, dass unsere Obrigkeit, ohne die Pfarrer zurate zu ziehen, so plötzlich die angenommene Kirchenordnung geändert hat. Doch ist auch das mehr aus Unachtsamkeit als aus Eigensinn geschehen. Schon bevor ich das erste Mal nach Genf kam, waren alle Feiertage, mit Ausnahme des Sonntags, abgeschafft worden. Es hatte Farel und Viret (2) nützlich geschienen, und ich fügte mich gern dem angenommenen Brauch. Ebenso wurde es damals auch im Waadtland, der neuen bernischen Vogtei, gehalten. Dagegen erhob sich Kuntz (3) und kämpfte für die Feiertage nicht weniger heftig als einst der Bischof Viktor (4) von Rom für sein Osterdatum. Als wir dann verbannt wurden (5), führte man die vier Feiertage (6) neben andern rituellen Änderungen ein. Bei meiner Rückkehr hätte ich in einem Augenblick unter dem Beifall der Mehrheit um­stürzen können, was in meiner Abwesenheit beschlossen worden war, aber ich fügte mich ganz gelassen darein (7); nur darüber konnte ich nicht schweigen, dass es verkehrt sei, den Tag der Beschneidung Christi zu feiern und den Todestag nicht; das sei von ungelehrten Leuten ohne rechtes Verständnis und Sinn so gemacht worden. Weil das Volk auch den Tag der Empfängnis Christi unter dem Namen eines Marienfestes feierte, zog ich jedes Jahr gegen diesen Aberglauben scharf los. Denn die Franzosen nennen in ihrer Sprache diesen Tag das Fest unsrer lieben Frau im März, und der Tag wird allgemein für besonders heilig gehalten. Doch mäßigte ich mich so weit, dass ich sogar die im Zaum hielt, die schrien, diese Feiertage seien überhaupt abzuschaffen. Denn die Gen­fer, die von Anfang an dem Evangelium die Ehre gegeben hatten, trugen die nachträglich eingeführte Neuerung [der vier Feiertage] so ungern, dass sie zu­weilen selbst mir den Vorwurf der Lauheit nicht ersparten. Einmal kam's auch bis zu Gewalttätigkeiten, da auf beiden Seiten eine unbändige Kampflust herrschte. Ein vermittelnder Weg schien uns richtig: Morgens sollte bei geschlossenen Werkstätten gefeiert werden, nach dem Mittagessen aber jedermann an seine gewöhnliche Arbeit gehen. So wurde vor neun Jahren beschlossen. Aber auch so wurde der Streit nicht gestillt. Denn das verschiedene Verhalten, dass die einen die Geschäfte geschlossen hielten, die andern sie öffne­ten, verriet immer noch die hässliche Uneinigkeit. Da so kein Ende noch Ab­hilfe zu finden war, ging ich im verflossenen Jahr aufs Ratshaus und ersuchte den Rat, er möge nach seinem klugen Ermessen eine Weise erdenken, das Volk in besserer Eintracht zu erhalten. Von der Abschaffung der Feiertage sprach ich eigentlich gar nicht; vielmehr billigte ich's sogar, dass man sich bisher aus Friedensliebe der Berner Sitte angepasst habe. Als ich dann hörte, die Festtage seien durch Volksbeschluss (8) abgeschafft, überraschte mich dieser unerwartete Entscheid so, dass ich ganz starr war vor Staunen. Hätte man mich um meine Meinung gefragt, so kann ich gewiss nicht anders sagen, als dass ich kaum ge­wagt hätte, das zu beschließen.
Du siehst aus dem ganzen Zusammenhang der Geschichte, dass nichts Neues ein­geführt, sondern ein früherer Brauch der Genfer Kirche wiederhergestellt wor­den ist, der einst nach bösem Beispiel tumultuös abgeschafft worden war; ja dass das sogar wider meine Meinung geschehen ist. Genf war auch nicht die einzige Kirche, die keinen Feiertag außer dem wöchentlichen festgehalten hat; denn auch zu Straßburg war es einst so geordnet worden. Ich durfte bei meiner An­kunft hier die wohleingerichtete Ordnung nicht in Unordnung bringen. Auch jetzt scheint mir die nachträglich wiederhergestellte Ordnung kein Grund zu sein zu solchem Ärgernis. Läge aber eine Schuld vor, so wäre es unbillig, mich zu beschuldigen für das, was andere getan haben.
Der Bote aus England ist noch nicht zurück. Doch erfuhr ich unterdessen zu meinem großen Schmerz den Tod Bucers (9). Wie wünschte ich, dass wir nicht bald spüren müssten, welcher Verlust das für die Kirche Gottes ist! Ich schätzte schon zu seinen Lebzeiten seine hervorragende und herrliche Begabung hoch genug; wie nützlich er uns auch jetzt noch sein könnte, erkenne ich nun noch deut­licher aus dem Gefühl des Verwaistseins. Um so mehr treibt's mich, den Herrn zu bitten, er möge Euch alle sich noch lang erhalten und Euer Wirken brauchen. Leb wohl, hochberühmter Mann und verehrter Bruder! Grüße alle Amts­brüder angelegentlich! Meine Kollegen lassen Euch vielmals grüßen.
23. April 1551. Dein Johannes Calvin.«
(aus: Calvins Lebenswerk in seinen Briefen, hrsg. v. R.Schwarz, Bd 2, Neukirchen 1962, 559f)

Anmerkungen:
(1) Der Genfer Rat hatte am 16. November 1550 beschlossen, die Feiertage, die nicht auf einen Sonntag fielen abzuschaffen. Der Weihnachtsfeiertag wurde auf den jeweils folgenden Sonntag verlegt.
(2) Die Genfer Reformatoren Guillaume Farel und Pierre Viret hatten 1535 die Reformation in Genf durchgesetzt. Im Zuge dieser Reformation waren alle Feiertage, die nicht auf einen Sonntag fielen, abgeschafft worden.
(3) Peter Kuntz, Pfarrer in Bern.
(4) Viktor I. war Bischof von Rom von 189 bis 199. Er kämpfte für die Loslösung des Ostertermins vom jüdischen Passafest.
(5) Calvin und Farel wurden nach Meinungsverschiedenheiten mit dem Genfer Stadtrat 1538 aus Genf ausgewiesen.
(6) Die vier Feiertage waren: Empfängnis Mariä, Weihnachten, Beschneidung Christi, Himmelfahrt.
(7) Nach der Vertreibung Calvins und Farels 1538 hatten sich die Genfer in der Feiertagsfrage der Berner Praxis angeschlossen.1541 war Calvin vom Genfer Stadtrat zurückberufen worden. Calvin verzichtete jedoch darauf, eine Änderung der Berner Praxis zur Vorbedingung seiner Rückkehr zu machen.
(8) Am 16. November 1550 hatte der Genfer Stadtrat die Abschaffung der Feiertage beschlossen.
(9) Martin Bucer (1491-1551) war der bedeutendste Reformator Oberdeutschlands. Calvin hat in seiner Straßburger Zeit (1538-41) intensiv mit Bucer zusammengearbeitet und viel von ihm gelernt. Bucer musste 1549 nach dem Interim Straßburg verlassen und folgte der Einladung von Erzbischof Thomas Cranmer; er ging als Professor nach Cambridge.


Achim Detmers
»Ich sehe, es sind heute mehr als gewöhnlich zur Predigt gekommen. Warum? Heute ist Weihnachten.«

 

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