Kollegial Gemeinde bauen: Impulse von Johannes Calvin zum Miteinander der verschiedenen Dienste in der Gemeinde

von Georg Plasger

Vortrag am 21. Mai 2009 im Reformierten Zentrum auf dem 32. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Bremen

These 1

Die Gemeinde ist nicht für sich selbst da, sondern sie ist von Gott erwählt, um Menschen zur Gemeinschaft mit Christus einzuladen und zu erhalten.

Man kann sehr verschieden anfangen, über das nachzudenken, was oder wer Kirche ist. Man kann bei den Gebäuden beginnen, bei den Gottesdiensten, bei den leitenden Geistlichen, bei den Pfarrern, den Mitarbeitern oder den Events – und alle Einstiege führen zu ganz bestimmten Resultaten. Für Calvin ist der Einstieg in die Überlegungen, was Kirche von einem anderen ist: Die Kirche ist von Gott erwählt. Das Wort „Erwählung“ hat, zumal in Zusammenhang mit Calvin, im Blick auf die Prädestinationslehre, einen belasteten Klang. Im Blick auf die Erwählung der Kirche ist für Calvin klar, dass es um eine Erwählung zu einer Funktion geht. Die Kirche hat nämlich einen Auftrag – sie soll Menschen zur Gemeinschaft mit Christus einladen und in ihr erhalten. Nur dazu ist die Kirche da. Die Kirche ist also kein Selbstzweck, sondern existiert nur, weil sie eine Bestimmung hat. Sie hat einmal die Bestimmung, Menschen für die Gemeinschaft mit Christus zu gewinnen – das könnte man den evangelistischen Aspekt nennen, ohne dass Calvin diese Begrifflichkeit gebraucht hätte. Und sie hat zum anderen die Bestimmung, die Christen und Christinnen in der Gemeinschaft mit Christus zu erhalten, indem sie ihnen ermöglicht, dass bei den Christen und Christinnen die Gemeinschaft mit Christus wächst.

Dass die Kirche diesen Auftrag hat, ist ihr nicht von außen anzusehen, ist nicht empirisch an der Kirche abzulesen. Deshalb ist es nötig, so Calvin, die Kirche zu glauben. Nicht an die Kirche zu glauben, weil man nur an Gott glauben kann. Wohl aber die Kirche zu glauben – und das heißt, zu glauben, zu vertrauen und zu erkennen, dass wir Glieder des Leibes Jesu Christi sind.

These 2

Deshalb ist die Frage, wie Gemeinde zu gestalten ist, für Calvin entscheidend, weil es darum geht, ihrer Existenz möglichst gut zu entsprechen.

Weil die Kirche ihren Zweck nicht in sich selber hat, hat sie sich immer zu fragen, wie sie ihrem Auftrag recht entspricht. Und da für Calvin jede Gemeinde vor Ort, jede versammelte Gemeinde Kirche, Leib Jesu Christi ist, darum ist es immer wieder nötig, sich diese Frage zu stellen. Kirche-sein bedeutet eine Gestaltungsaufgabe. Das heißt nicht, dass Reformen um der Reformen zu machen sind. Wohl aber, dass wir in unseren Gemeinden immer wieder darüber nachzudenken haben, wo wir den beiden Bestimmungen unseres Seins als Kirche recht entsprechen. Im Blick auf die Menschen, die nicht zur Kirche gehören, die keine Christen sind: Wie können wir auf sie zugehen, wie können wir es ihnen ermöglichen, Glieder des Leibes Christi zu werden? Klassische evangelistische Methoden zeitigen gegenwärtig hier wenig „Erfolg“. Nötig sind wohl persönliche Kontakte, in denen in die Gemeinde eingeladen wird. Vielfach aber ist es Menschen, die sich zu unseren Gemeinden zählen, sogar unangenehm oder peinlich, in die Gottesdienste einzuladen. Daran ist erkennbar, dass beide Dimensionen der Bestimmung einander zugeordnet sind. Denn nur, wenn unsere Gottesdienste auch für uns belebend sind, wenn wir dort Erwartungen erfüllt bekommen, wenn das Evangelium dort zu uns spricht, sind wir bereit, andere einzuladen. Wir vertrauen darauf, dass Gott selber redet. Aber wir haben auch dafür zu sorgen, dass wir hier dem Geist Gottes nicht im Wege stehen. Und das tun wir, wenn wir meinen, dass der Geist Gottes an die mir lieben Choräle etwa von Paul Gerhardt oder die Psalmen in der Jorissen-Bereimung gebunden ist.

These 3

Vier Aufgaben sieht Calvin als zentral für die Gemeinde an: Verkündigung des Wortes Gottes und die damit verbundene Feier der Sakramente, die christliche Bildung (Lehre), die Leitung einschließlich der Seelsorge und die Diakonie.

Calvin nennt vier Ämter – oder wie man besser übersetzen kann: Vier Dienste. Das ist den meisten bekannt. Wichtiger aber als die Personen, die diese Dienste ausüben, ist zunächst, dass es hier um nötige Aufgaben in der Gemeinde geht. Calvin nennt vier und hebt den Dienst der Verkündigung hervor – und weil auch die Sakramente der Verkündigung dienen, gehören sie hierzu. Calvin hebt diese Aufgabe besonders hervor, weil Gott sich nach Calvin selber an diese Aufgabe gebunden hat: Gott will in seinem Heiligen Geist durch sein Wort zu den Menschen kommen und so den Glauben wecken – das ist übrigens nach Calvin die Hauptaufgabe des Heiligen Geistes und zugleich das schwerste Stück Arbeit für ihn. Das ist die Mitte der Gemeinde – und darum ist für Calvin der Gottesdienst, in dem die Verkündigung den Mittelpunkt bildet, das Kernstück, das Hauptwerk auch derer, die diese Aufgabe ausüben. Wichtig ist – zweite Aufgabe – die Bildung, oder anders gesagt: Die Lehre. Sie dient dazu, Menschen im christlichen Glauben auszubilden, so dass sie auskunftsfähig werden. Für Calvin ist das nicht als möglicher Zusatz, sondern als essentieller Bestandteil von Gemeinde zu verstehen. Hier sehe ich – einmal nur angedeutet – Lernbedarf in unseren Gemeinden. Die dritte Aufgabe ist die der Leitung – und dazu gehört es nach Calvin, dass man die Menschen, die zur Gemeinde gehören, auch im Alltag begleitet. Die Presbyter hatten in Genf früher Seelsorgeaufgaben, weil sie sich um die Alltagsnöte der Menschen zu kümmern hatten – und damit auch um Streit und vieles mehr; die Kirchenzucht war hier auch angesiedelt, weil sie ein Seelsorgeinstrument der Gemeinde war. Und schließlich gehört die Diakonie hierher: Die Fürsorge für die Armen. Schon in Genf zählte hier die Anstaltsdiakonie (für die Herbergen und Krankenhäuser) und die Zuwendung für die Bedürftigen dazu. Diese vier Aufgaben hält Calvin für unverzichtbar – und je nach Situation kann es weitere Aufgaben geben. Calvin rechnete damit, dass die Gemeinde selber darauf achtet, was ihre je spezifischen Aufgaben sind.

These 4

Diese Aufgaben können nach Calvin nicht von einer Person ausgeübt werden, weshalb Calvin seine Lehre vom vierfachen bzw. dreifachen Dienst (der Begriff passt besser als „Amt“) entwickelt und zum wesentlichen Bestandteil seines Verständnis der Gestalt der Gemeinde macht: Pastor (für die Verkündigung und die Sakramente zuständig), Lehrer (für die christliche Bildung zuständig), Presbyter (für die Seelsorge in den Bezirken zuständig und zusammen mit Pastoren und Lehrern die Kirchenleitung) und Diakone (in verschiedener Hinsicht für die Fürsorge für die Armen zuständig).

Bekanntlich hat Calvin nicht allein von den Aufgaben gesprochen, die in einer Gemeinde vorhanden sind, sondern auch von den Diensten, die sie ausüben. Der Begriff des „Amtes“ ist problematisch, weil wir ihn häufig – ausgehend von Vorstellungen des 19. Jahrhunderts – als der Gemeinde gegenüberstehend wahrnehmen. Das aber ist für Calvin undenkbar, weil es die Aufgaben der Gemeinde sind, die von einzelnen wahrgenommen werden. Die Mehrzahl der Dienste verweist darauf, dass es für Calvin nicht vorstellbar ist, dass einer alleine alle Aufgaben übernimmt – damit übernimmt er oder sie sich. Die Zahl der Dienste muss dabei nicht in jedem Fall identisch mit der Zahl der Personen sein – es ist denkbar, das wird auch in der Institutio deutlich, dass der Dienst des Pastoren und des Lehrers zusammenfallen. Möglich ist das. Aber ob das gut ist, hängt von den jeweils vorhandenen Begabungen ab. Denn nicht jeder kann alles. So formuliert Calvin einmal: „Denn wenn es auch die Sache aller Hirten ist, zu lehren, so gibt es doch, damit die Gesundheit der Lehre aufrechterhalten werde, eine besondere Gabe der Schriftauslegung, und wirklich wird einer ein Lehrer sein können, ohne doch für das Predigen tauglich zu sein.“[1] Es ist also nötig, dass die Gaben vorhanden sind. Und das führt uns schon zur nächsten These:

These 5

Theologischer Ausgangspunkt für Calvin sind die Gnadengaben, mit denen Gott im Heiligen Geist seine Gemeinde beschenkt: Sie sind vielfach und verschieden vorhanden: Der Reichtum des Heiligen Geistes lässt Calvin auch so viel von der Gemeinde erwarten.

Zu Recht kann man Calvins Verständnis eine charismenorientierte Lehre von der Gemeinde nennen – und er folgt darin vor allem dem paulinischen Gedanken im 1. Korintherbrief. Dort hatte Paulus davon gesprochen, dass die Gaben, die in der Gemeinde vorhanden sind, Gnadengaben sind, die der Heilige Geist schenkt. Keine Gaben, die von Natur aus da sind, die als Besitz anzusehen sind, sondern Gnadengaben, die der Heilige Geist schenkt und die der Gemeinde nutzen. Die Gaben, so Paulus, sollen der Erbauung der Gemeinde dienen (1 Kor 14, 4,12). Das nimmt Calvin auf, ebenso einen weiteren Gedanken aus dem 14. Kapitel des 1. Korintherbriefs: „Alles aber geschehe würdig und geordnet.“ (1 Kor 14,40) Die beiden letzten Begriffe, „würdig“ und „geordnet“, in der Weber-Übersetzung „ehrbar“ und „ordentlich“ sind für Calvin die entscheidenden Hinweise für die Frage, wie die Ordnungen in der Gemeinde gestaltet werden – das heißt: größtmögliche Flexibilität.

Calvin setzt darauf, dass der Heilige Geist seine Gemeinde begabt. Mit diesem Blick in die Gemeinde, die auf der in These 1 benannten göttlichen Erwählung fundiert, wird sie in bestimmter Hinsicht wahrgenommen: Nicht defizitär, sondern von göttlichem Reichtum geprägt. Dieser Blick in die Gemeinde ist von der Erwartung geprägt, dass Gott sie mit vielen Gaben beschenkt hat. Man kann auch defizitär in die Gemeinde schauen – und wir hätten manchen Grund dazu. Was läuft bei uns alles nicht gut. Und jeder und jede unter uns könnte hier aufzählen und von eigenen Erfahrungen berichten. Auch Calvin weiß, dass erst in der Ewigkeit die Gemeinde ohne Runzeln sein wird – und hier auf Erden befleckt. Aber weil der Heilige Geist die Gemeinden hier beschenkt, darum kann der Glaube die vielen Begabungen sehen – und sich darüber freuen und versuchen, sie zum Leuchten zu bringen. Nach Calvin hat „die ganze Gemeinschaft der Gläubigen, die doch mit einer vielfachen Mannigfaltigkeit von Gaben ausgerüstet ist, einen viel reicheren und völligeren Schatz himmlischer Weisheit zum Geschenk erhalten … als jeder einzelne für sich allein“[2].

These 6

Die Gaben sind aber erst dann recht verstanden, wenn sie eingesetzt werden – in der Gemeinde, für die Menschen, für Gott.

Für Calvin ist es wichtig, die Gaben nicht allein als Potentiale anzusehen. Vielmehr sind sie dann erst recht verstanden, wenn sie auch eingesetzt werden. „Diese Gaben Gottes sind aber erst dann für uns geheiligt, wenn wir sie mit eigener Hand ihrem Geber selbst wieder dargebracht haben; es ist also alles das ein unreiner Missbrauch der Gaben, was jene Darbringung nicht erkennen lässt.“[3] Hier wird ein theologischer Zusammenhang erkennbar: Weil es nicht unsere eigenen Fähigkeiten sind, sondern gleichsam geliehene Gaben, die nicht als Besitz, sondern als Aufgabe anzusehen sind, darum sollen wir sie für den einsetzen, dem widmen, der Geber der Gaben ist. Ihm darbringen, formuliert Calvin. Wer diesen Blick hat, wird in der Gemeinde immer auch danach suchen und fragen, wo es denn solche Potentiale gibt, die geheiligt werden können – und sich selber auch. Das bedeutet automatisch auch eine Wertschätzung der verschiedenen Gemeindeglieder, weil sie als Begabte anzusehen sind.

These 7

Alle Dienste haben kollegial zusammen zu arbeiten, weil sie einen gemeinsamen Herrn und eine gemeinsame Aufgabe haben. Die Vielfalt ist auch deshalb wichtig, weil nicht einer alles kann.

Das von Calvin immer wieder verwendete Wort, wenn er die verschiedenen Dienste betrachtet, ist das des Kollegiums. Die Dienste zusammen bilden ein Kollegium, dessen Mitglieder einander zugeordnet sind. Und ein Kollegium ist dann gut, wenn es kollegial miteinander arbeitet. Aus den vorgehenden Bemerkungen ist schon erkennbar, dass das Kollegium kein Selbstzweck ist, in dem es Harmonie um der Harmonie willen gibt. Aber weil Calvin von den Gaben her denkt, mit denen Gott seine Gemeinde beschenkt, kann es gar nicht um etwas anders gehen als um ein Miteinander auf Augenhöhe. Die Gaben – und Calvin spricht an vielen Stellen auch von Wohltaten – sind verschieden. Die „Heiligen werden nach der Ordnung zur Gemeinschaft mit Christus versammelt, dass sie all die Wohltaten, die ihnen Gott gewährt, gegenseitig einander mitteilen. Dadurch wird die Verschiedenheit der Gnadengaben nicht aufgehoben; denn wir wissen ja, dass die Gaben des Heiligen Geistes vielartig ausgeteilt werden.“[4] Die Verschiedenheit der Gaben ist da, weil der Heilige Geist sehr verschieden austeilt – man könnte mit dem 1. Petrusbrief auch von der bunten Gnade Gottes sprechen. Und weil eine Farbe allein nicht bunt macht, darum bedarf es des Miteinanders, und auch des Einander Mitteilens, damit ein Miteinander gelingt. Entscheidend dazu ist – und das ist bei Calvin herauszuhören – eine gelingende Kommunikation. Ohne dass Menschen miteinander ins Gespräch kommen, sich kennen lernen, sich gegenseitig auch schätzen lernen, kann es Kollegialität nicht geben. Kollegialität bedeutet nicht, dass man einander zu lieben lernt, dass man zu engen Freunden wird. Das kann passieren, ist aber nicht die Voraussetzung. Aber um das Miteinander zu leben, braucht es das Verstehen und Ernstnehmen der anderen Gaben – nur dann wird ein Chor daraus.

Denn die Einheit in der Gemeinde und Kirche – und das ist ein prinzipieller Unterschied zu Einheitsvorstellungen in der römisch-katholischen Tradition – kommt nicht durch Uniformität, sondern durch ein harmonisches Miteinander zum Ausdruck. Mit den unterschiedlichen Gaben kommt nach Calvin „die Einheit in der Kirche zustande, so wie in der Musik mannigfaltige Töne eine süße Melodie zustande bringen.“[5]

These 8

Der Dienst am Wort ist herausgehoben, weil Gott sich selber dazu bestimmt hat, durch das Wort der Menschen zu den Menschen zu kommen. Aber er ist den anderen Diensten nicht übergeordnet.

Die evangelische Kirche ist eine Kirche des Wortes. Denn Gott will durch das Wort zu den Menschen kommen, sie erbauen, zu ihnen reden, ihr Herz erreichen. Und die Gabe, dass Menschen die Verkündigung ausüben können, wird von Calvin deutlich hervorgehoben. Er spricht davon, dass zu den „Gaben, mit denen Gott das Menschengeschlecht geziert hat, … doch dieses Vorrecht ganz einzigartig [ist], dass er sich herbeilässt, den Mund und die Zunge von Menschen für sich zu weihen, damit in ihnen seine Stimme erschalle! Deshalb wollen wir es uns nicht verdrießen lassen, auch unsererseits die Lehre des Heils, wie sie uns auf sein Geheiß und durch seinen Mund vorgetragen wird, gehorsam anzunehmen; denn obwohl Gottes Kraft nicht an solche äußeren Mittel gefesselt ist, so hat er doch uns an diese geordnete Art der Unterweisung gebunden.“[6]

Man spürt in diesem Zitat das Staunen Calvins darüber, dass Gott nicht nur durch mehrdeutige Zeichen spricht, die vielleicht von irgendwelchen religiös Kundigen zu deuten seien, sondern dass Gott in der Predigt des Evangeliums selber zu uns spricht. Calvin geht wie alle Reformatoren von der lebendigen Stimme Gottes aus, die in der Verkündigung, in der Predigt zu uns kommt. Und diejenigen, die im Dienst der Verkündigung stehen, also die, die predigen, die dürfen davon ausgehen und darauf hoffen, dass Gott direkt durch ihre Worte spricht. Nicht so, dass sie das Reden Gottes methodisch herbeizwingen können. Nicht so, dass Gott durch die Predigt zu jedem spricht, aber doch so, dass Gott sich den Mund und die Zunge der Predigenden zu eigen macht. Also: Der Predigtdienst ist etwas Besonderes – und für die Gemeinde essentiell. Und hervorzuheben.

Von Anfang an hat die evangelische Kirche deshalb das akademische Studium der Theologie für die, die in ihr zu predigen haben, vorangestellt und herausgebildet. Das liegt an der Hochschätzung der Predigt, die so verantwortlich wie möglich zu geschehen hat. Eine teure Ausbildung. Und deshalb haben wir Pastoren und Pastorinnen, die in der Schweiz zuweilen noch „verbi divini ministeri“, Diener am göttlichen Wort, genannt werden.

Diese Hochschätzung darf aus zweierlei Gründen nicht dazu führen, daraus eine Überordnung dieses Dienstes zu machen. Einmal würde dann nicht mehr die Predigt, sondern die Macht im Vordergrund stehen – das aber ist gar nicht mehr die eigentliche Aufgabe des Dienstes. Und eine vielfältige Übernahme anderer Dienste würde zur Vernachlässigung der Predigt führen. Und zum anderen wären die anderen Dienste nicht mehr im Blick, die aber auch vom selben Urheber stammen.

These 9

Die Kollegialität der Dienste haben wir heute neu zu lernen – strukturell sind die deutschen evangelischen Gemeinden pastorenlastige Kirchen. Die Pastoren und Pastorinnen haben zu lernen, dass sie (nur) Teil eines Teams sind, das von Gott mit vielen unterschiedlichen Gaben beschenkt wurde – und die jeweiligen Gaben einzubringen ist gut. Aber es gibt in jeder Gemeinde viele andere Gaben. Und die „Nicht-Pastoren“ haben zu lernen, dass sie Verantwortung zu übernehmen haben, weil die Bequemlichkeit, dass es der Pastor macht, nicht als Bescheidenheit, sondern als Missachtung göttlicher Gaben anzusehen ist.

Ich gehe jetzt von Calvin über zu einer Wahrnehmung unserer heutigen Gemeinden. Es gibt Gemeinden, in denen zumindest einige Ämter sich erhalten haben: Presbyter gibt es fast überall, hier und dort auch noch Diakone. Aber das ändert nichts daran, dass wir in den meisten deutschen Gemeinden, gleich ob lutherischer, unierter oder reformierter Spielart, zu einer Pastorenkirche verkommen sind. Dabei geht es mir nicht darum, mit einem Zeigefinger auf die Pastoren zu zeigen; die sind oft in bestimmte Strukturen hineingekommen. Die Pastoren und Pastorinnen übernehmen in unseren Gemeinden viele Aufgaben. Dazu gehören vielfach Leitungs- und Managementaufgaben, vielfach auch Verwaltungsaufgaben. Sie sind aufgrund ihres Beamtenstatus immer allen anderen Aufgaben in der Gemeinde überlegen, weil sie – einmal gewählt – kaum wieder aus der Gemeinde wegkönnen, es sei denn, sei wollen es selbst. Sie müssen nicht wieder gewählt werden. Sie sind lebenslang Pastoren und Pastorinnen.

In den Gemeinden gibt es aber vielfach eine Mentalität, die das recht bequem empfindet: der Pfarrer, der macht das schon, Der wird ja bezahlt – und die Ehrenamtlichen nicht. In den meisten Kirchenordnungen müssen die Pfarrer oder Pfarrerinnen zumindest den stellvertretenden Presbyteriumsvorsitz übernehmen.

Eine Gemeinde, die weiß, dass die Predigt die Hauptaufgabe der Pastoren und Pastorinnen ist, wird ihren hauptamtlich Tätigen daraufhin entlasten wollen. Ein Pfarrer, eine Pfarrerin, der bzw. die weiß, dass die Predigt das Hauptgeschäft ist, wird sich darum mühen, andere Bereiche erst gar nicht in dieser Weise zur eigenen Sache zu machen.

Wir leben in Deutschland nicht in Strukturen, die die Dienste gleichberechtigt sein lässen; Sie merken schon, dass ich mir so etwas wünsche. Aber das wäre Illusion. Dennoch setze ich auf vorhandene Möglichkeiten:

These 10

Wir leben in den deutschen evangelischen Gemeinden nicht in idealen Strukturen, weil aufgrund vorhandener Rechtslage ein Ungleichgewicht der Dienste vorgegeben ist. Aber Kollegialität kann trotzdem gelebt werden – auch wenn es zuweilen schwer ist. Calvin setzt darauf, dass das Miteinander der Dienste nötig ist, um als Gemeinde seiner Erwählung entsprechen zu können.

Für mich ist der wichtigste Impuls von Calvin in dieser Frage, dass entscheidend ein bestimmtes Bewusstsein ist: Wir sind eine gabenorientierte Gemeinde. Wir sind es. Ich bin begabt und soll und darf meine Gaben einsetzen zum Bau des Reiches Gottes – im Wissen, dass Gott alleine sein Reich durchsetzen wird, aber mich und Sie als Mitarbeiter gebrauchen will. Darin besteht, um mit Karl Barth zu reden, die menschliche Würde, dass Gott nicht ohne uns seine Gemeinde bauen will.

Weil wir aber mit sehr verschiedenen Gaben beschenkt sind, gebietet es der Respekt vor dem heiligen Geist und vor unseren Geschwistern, geschwisterlich und – vielleicht ist das noch wichtiger – kollegial miteinander umgehen. Es gehört dazu das Bewusstsein, dass die Gemeinde Aufgaben hat, die nicht ohne uns bewältigt werden können. Es gibt neben der Sünde des Hochmuts auch die Sünde der Trägheit – und was bei Ihnen stärker ausgeprägt ist, wissen Sie selber vermutlich am Besten.

Konkret heißt das:
Wir brauchen Pastoren und Pastorinnen, die ihre Tätigkeit in der Gemeinde als Teil eines Teams verstehen, die deshalb auch nicht alles allein entscheiden müssen oder immer das letzte Wort haben müssen, denen vielleicht sogar Teile der Gemeindearbeit unbekannt bleiben.

Wir brauchen Menschen, die mit ihren gottgegebenen Fähigkeiten die Gemeinde bereichern und sich als Teil eines Teams verstehen, die vom Pastor oder der Pastorin erwarten, dass sie ihre Sachen, für die sie da sind, gut machen, dass sie aber nicht alles machen – und sich dementsprechend verhalten.
Dazu bedarf eines intensiven Miteinanders – und dazu gehören Gespräche auf Augenhöhe.

Die IV. These der Barmer Theologischen Erklärung formuliert – ganz in der Tradition Calvins: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“

Gott will und er wird seine Gemeinde bauen – mit uns. Calvin sagt in Aufnahme paulinischer Gedanken, dass der „Dienst von Menschen, den Gott zur Regierung seiner Kirche benutzt, das wichtigste Band ist, durch das die Gläubigen in einem Leibe zusammengehalten werden. Dann legt er [sc. Paulus] ferner auch dar, daß die Kirche nicht anders unversehrt bewahrt bleiben kann, als wenn sie durch diese Mittel gestützt wird, welche der Herr nach seinem Wohlgefallen zu ihrer Erhaltung eingerichtet hat.“[7]


[1] Calvin, Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, 165.

[2] Institutio IV,8,11.

[3] Institutio III,7,5.

[4] Institutio IV,1,3.

[5] Calvin, Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, 163.

[6] Institutio IV,1,5.

[7] Institutio IV,3,2.


©Prof. Dr. Georg Plasger, Siegen