Manchmal ist die Wirklichkeit nicht wirklich und das Unfassbare real

Martina Wasserloos-Strunk

Blick durch Gitter: Transitzentrum Tompa an der Grenze zu Serbien © Martina Wasserloos-Strunk

Ein tiefer Riss geht durch die Reformierte Kirche von Ungarn. Die Kirchenleitung sieht das Thema 'Flucht und Migration' durchaus kritisch. Die Menschen in den kirchennahen Hilfswerken dagegen und auch der gesamte Arbeitsbereich „Ökumene“ der Reformierten Kirche engagieren sich mit Liebe und Herzblut für die Menschen, die hier als Flüchtlinge ankommen.

Darüber, wie „die Ungarn“ mit dem Thema Flucht und Migration umgehen, kann man in unseren Medien allerhand erfahren. Nichts Gutes. Dass sie gegen Flüchtlinge sind, kann man lesen, dass sie die Grenzen „dicht“ machen, dass sie die deutsche Kanzlerin und die EU dafür hassen, dass sie ihnen Migranten - gar noch Muslime - zuteilen wollen.

Und in der Tat – im Gespräch mit manchen ungarischen Menschen erlebt man sein blaues Wunder! Da wird man allen Ernstes mit großer Anteilnahme gefragt, wie wir Deutschen denn mit den Abermillionen Flüchtlingen umgehen, die unsere Kanzlerin ins Land geholt habe!? Wie wir damit leben können, dass Deutsche Tag für Tag von Flüchtlingen auf der Straße attackiert werden!? „Was soll ich nur tun um sie zu schützen?!“ fragt uns ein sorgenvoller Vater, mit Tränen in den Augen, weil seine Tochter beabsichtigt, in Deutschland zu studieren. Ja und dass die Deutschen jetzt so gerne in Ungarn Urlaub machen, weil das ein sicheres Land sei – im Gegensatz zu ihrer Heimat.

Mit der Gruppe des EU-finanzierten Erasmusprojektes „TUT – train the unknown trainer“, das auf Initiative des Europäischen Gebiets der Reformierten Weltgemeinschaft zustande gekommen ist, haben wir Ungarn besucht. Die Philippus-Akademie ist einer von 5 internationalen Projektpartnern. Es geht darum Standards für Ehrenamtliche in der Flüchtlingsarbeit zu entwickeln.

Ein heikles Thema hier. Ein tiefer Riss geht durch die Reformierte Kirche von Ungarn. Die Kirchenleitung sieht das Thema „Flucht und Migration“ durchaus kritisch. Die Menschen in den kirchennahen Hilfswerken dagegen und auch der gesamte Arbeitsbereich „Ökumene“ der Reformierten Kirche engagieren sich mit Liebe und Herzblut für die Menschen, die hier als Flüchtlinge ankommen. Ihr Engagement ist tief verwurzelt in der Glaubensüberzeugung, dass Flüchtlinge unter den besonderen Schutz der christlichen Gemeinde gestellt sind – weil Gott sie uns ans Herz gelegt hat. Wir erleben das bizarre Bild einer gespaltenen Gemeinschaft in Ungarn.

Bei unserem Besuch in Tompa, einer sogenannten Transitzone an der ungarischen Grenze zu Serbien treffen wir Ehrenamtliche, die sich für die dortigen Flüchtlinge stark machen. Was auf den ersten Blick ganz einfach aussieht, hat einen langen Vorlauf gehabt. Der Besuch musste beantragt werden, die Zeit ist begrenzt, die Gespräche vorher festgelegt, Fotografieren ist streng verboten. In Tompa leben 280 Flüchtlinge, Männer, Frauen und Kinder. Es ist ihnen nicht erlaubt das Lager zu verlassen. Um das sicher zu stellen ist die ganze Einrichtung mit Natostacheldraht nach innen und außen mehrfach gesichert. Die Menschen wohnen in Containern – zu dritt oder zu viert. Stockbetten und ein Stuhl – keine Privatsphäre. Es ist alles peinlich sauber – vor den Containern sind kleine Schotterplätze. Kein Grashalm. Keine Blume. Wenn die Sonne scheint ist die Hitze unerträglich. Das Wachpersonal ist bewaffnet. Ungefähr dreimal so viele Wachleute wie Flüchtlinge arbeiten hier. Im Aufenthaltsraum spielen einige Bewohner Tischtennis. Es gibt auch einen kleinen Laden, der gelegentlich geöffnet hat. Da können die Flüchtlinge einkaufen – wenn sie Geld haben. Da das Taschengeld vom Staat gestrichen wurde, verfügen die meisten nicht über Geld – und Taschengeld müssen sie ja auch nicht haben, sagt uns die junge Frau, die uns durch die Anlage führt. Schließlich hat sie keiner gebeten zu kommen. Übrigens – so erfahren wir, können sie auch jederzeit wieder gehen, denn nach Serbien hin ist die Grenze offen. Die Flüchtlinge bleiben so lange, wie ihr Asylverfahren dauert – das kann zwischen 14 Tagen und einem Jahr dauern.


Kollektenempfehlung: Flüchtlingsarbeit in Ungarn

Die Menschen, die sich in Ungarn für Flüchtlinge einsetzen, brauchen unsere Solidarität. Als Kollekte empfehlen wir Ihnen die Projekte der Kalunba Non-Profit GmbH in Budapest, der diakonischen Hilfsorganisation der Flüchtlingsarbeit der Reformierten Kirche in Ungarn. Der Reformierte Bund hat dazu ein Spendenkonto eingerichtet. Mehr dazu erfahren Sie hier.
 

Die Kinder, die hinter doppeltem Stacheldraht einen zerbeulten Ball durch den heißen Sand kicken scheinen davon unberührt, aber ich frage mich, wieso eigentlich in unserem schönen, freien und vor allem reichen Europa überhaupt Kinder etwas hinter Stacheldraht tun sollten!? Und wieso sie nicht zur Schule gehen!? Es ist die Hoffnungslosigkeit und das ganze trostlose Szenario, dass das Herz schwer macht und die Frage aufwirft, was hier eigentlich wirklich passiert.

Das Transitlager in Tompa ist eine Vorzeigeeinrichtung der Regierung mit einer doppelten Botschaft. An die Menschen in Ungarn: seht her – wir schaffen Ordnung, wir sichern die Grenzen, wir lassen das nicht mit uns machen, was die deutsche Kanzlerin mit ihren Bürgern macht, wir sorgen für Euch! Und an die Besucher aus anderen Ländern: Seht her, so läuft das hier. Wir gehen nicht schlecht um mit den Flüchtlingen, die kriegen Container. Sie dürfen einkaufen. Die Kinder dürfen sogar Fußball spielen. Wir sorgen für ein geordnetes Verfahren und schaffen Recht.

Die Ehrenamtlichen, die sich im Lager für die Flüchtlinge engagieren, stehen der Kirche nahe oder sind Mitglieder der Reformierten Kirche. Auch wenn das was sie da tun für uns an manchen Stellen befremdlich ist, so sind sie doch für die Menschen hier eine Stütze und vielleicht die einzigen, die mit Herzenswärme und durchaus auch mit Schokolade den Alltag erträglicher machen.

Es ist nicht so leicht das Puzzle der Eindrücke zusammen zu setzen. Das entstehende Bild ist immer irgendwie schief – egal wie man es zusammen baut. Die Regierungspropaganda in Ungarn wirkt. Man fragt sich, wie das in Zeiten von Internet und Facebook möglich ist und man wird etwas misstrauisch, wenn es um die Nachrichten bei uns Zuhause geht – kann es sein, dass auch hier manches absichtsvoll so und nicht anders berichtet wird? Zum Beispiel, dass „die Ungarn“ „die Flüchtlinge“ hassen. Für uns hat sich das so nicht bestätigt. Aber dass die Situation schwierig und voller Ressentiments ist, dass viele Ängste gezielt – das heißt tatsächlich mit Absicht und organisiert - durch die Regierung gefördert werden und dass wir die Menschen guten Willens in jeder Form unterstützen müssen, das haben wir sehr wohl bei dieser Reise gelernt.


Martina Wasserloos-Strunk, Präsidentin des europäischen Gebiets der Weltgemeinschaft reformierter Kirchen (WCRC-E)
Reformierte Kirche in Ungarn: Flüchtlingsprojekt 'Kalunba' kämpft um Fördermittel

Seit die ungarische Regierung im Sommer 2018 die Ausschreibung von EU-Fördermitteln zurückzog, ist die weitere Finanzierung des Integrationsprojekts "Kalunba" gefährdet. Im Interview spricht Mitbegründerin Dóra Kanizsai über den aktuellen Stand - und wo die Mittel am meisten fehlen.

Seit Jahren unterstützt die Reformierte Kirche in Ungarn mit der Organisation Kalunba Integrationsprojekte in der Flüchtlingsarbeit. Ein Großteil der Projekte wird finanziert über EU-Fördermittel aus dem sogenannten AMIF (Asyl-, Migrations- und Integrationsfond). Zum Juli 2018 ist ein Großteil der finanziellen Mittel weggebrochen. Es geht um Fördermittel in Millionenhöhe.
Interview mit Balázs Ódor und Dóra Kanizsai-Nagy zur Flüchtlingshilfe der Reformierten Kirche in Ungarn

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Reformierte Kirche in Ungarn bittet europäische Partner um Unterstützung

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Gebet von Sylvia Bukowski

Allein 2018 ertranken bereits über 1000 Menschen auf dem Mittelmeer bei ihrer Flucht nach Europa. Die Grenzen Europas sind an vielen Stellen mit Zaun umgeben. Ein Gebet für Flüchtlinge und die Schwachen auf ihrer Suche nach Beistand.