Neujahr - Lukas 4,16-21: Verheißung für Zerbrochene, Gefangene und Blinde

von Johannes Calvin

"... Während wir unter allen Arten von Übel völlig begraben sind, bestrahlt uns Gott mit seinem lebenschaffenden Licht, führt uns aus dem tiefen Schlund des Todes heraus und läßt uns wieder zu voller Glückseligkeit aufleben."

Lukas 4,16-22
16 Und er kam nach Nazareth, wo er erzogen war, und ging in die Synagoge nach seiner Gewohnheit am Sabbattage und stand auf und wollte lesen. 17 Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und da er das Buch auftat, fand er die Stelle, da geschrieben steht (Jes. 61,1.2): 18 „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden, daß sie sehend werden, und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen, 19 zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ 20 Und als er das Buch zutat, gab er`s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn. 21 Und er fing an, zu sagen zu ihnen: Heute ist dies Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren. 22 Und sie gaben alle Zeugnis von ihm und wunderten sich, daß solche Worte der Gnade aus seinem Munde gingen, und sprachen: Ist das nicht Josefs Sohn?

Luk. 4, 16. „Und er kam nach Nazareth.“ Die Evangelisten bestehen darauf, zu zeigen, an Hand welcher Zeichen Christus sich offenbarte. Lukas gibt hier ein besonders denkwürdiges Beispiel. Indem Christus die Stelle bei Jesaja auslegte und sie auf die gegenwärtige Lage deutete, zog er aller Augen auf sich. Wenn Lukas sagt, er sei nach seiner Gewohnheit in die Synagoge gegangen, so dürfen wir daraus schließen, daß er nicht nur an den Ecken und auf den öffentlichen Straßen zu dem Volk gesprochen hat, sondern die übliche Ordnung der Gemeinde einhielt, soweit es möglich war. Wir sehen zugleich auch, daß die Juden trotz ihres tiefen Falles bei der Unordnung und dem erbärmlich verderbten Zustand der Gemeinde dieses eine Gute bewahrt hatten, daß sie vor dem Volk die Schrift lasen und aus ihr den Stoff für Lehre und Ermahnung entnahmen. Auch wird daran deutlich, wie die wirkliche, rechte Art der Sabbatheiligung aussieht. Denn Gott hieß sein Volk nicht darum einen Feiertag einlegen, weil er einfach an ihrem Müßiggang Gefallen hatte, sondern er wollte sie üben, seine Werke zu betrachten und über sie nachzudenken. Da nun die Sinne der Menschen blind sind, wenn sie die Werke Gottes betrachten sollen, brauchen sie die Richtschnur der Schrift zu ihrer Führung. Obwohl Paulus den Sabbat zu den Schatten des Gesetzes zählt, haben wir die Art, den Sonntag zu feiern, doch in der Hinsicht mit den Juden gemeinsam, daß das Volk zusammenkommt, um das Wort zu hören und die öffentlichen Gebete und übrigen Pflichten der Frömmigkeit zu ver­richten. Zu diesem Zweck ist der Tag des Herrn der Nachfolger des jüdischen Sabbats geworden. Wenn man die Zeiten einmal vergleicht, so kann man leicht aus der vorliegenden Stelle entnehmen, daß die Verderbnisse der päpstlichen Hierarchie heute häßlicher und verunstalteter sind, als sie es bei den Juden unter Hannas und Kaiphas waren. Denn die Verlesung der Schrift, die damals geübt wurde, hat unter dem Papst nicht nur Geltung und Ansehen verloren, sondern sie wird mit Schwert und Feuer von den Gotteshäusern ferngehalten; es sei denn, man wollte als Verlesung der Schrift ansehen, was sie in fremder Sprache offenbar doch zum Spott dahersingen. Christus stand auf, um zu lesen, nicht nur, damit man seine Stimme besser hörte, sondern zum Zeichen der Ehrerbietung. Denn die Majestät der Schrift verdient es, daß ihre Ausleger zu erkennen geben, daß sie bescheiden und ehrerbietig darangehen, sie zu behandeln.

Luk. 4, 17. „Fand er die Stelle.“ Zweifellos hat Christus diese Stelle mit Bedacht ausgewählt. Einige glauben, sie wäre ihm von Gott vorgelegt worden; aber da er doch freie Wahl hatte, möchte ich mich lieber der Ansicht anschließen, daß er diese Stelle unter allen andern fand. Jesaja verheißt dort, es werde auch nach der Babylonischen Gefangenschaft noch einige Zeugen für die Gnade Gottes geben, um das Volk aus Untergang und Todesfinsternis zu sammeln und die von so viel Unglück bedrängte Gemeinde in geistlicher Kraft zu erneuern. Aber da man jene Erlösung nur im Namen Christi und in der Hoffnung auf ihn verkündigen konnte, redet er in der Einzahl und stellt sich gewissermaßen hinter die Person Christi, um die Herzen der Gläubigen um so kräftiger zu einem guten Vertrauen zu ermuntern. Es ist gewiß, daß aus zwei Gründen diese Worte eigentlich nur auf Christus allein passen: Erstens ist er allein mit der Fülle des Geistes begabt, um Zeuge und Gesandter unserer Versöhnung mit Gott zu sein. Aus diesem Grund schreibt Paulus das, was allen Dienern am Evangelium gemeinsam ist, im eigent­lichen nur ihm zu: „Er ist gekommen und hat verkündigt im Evangelium den Frieden euch, die ihr ferne wäret, und Frieden denen, die nahe waren“ (Eph. 2,17). Zweitens verschafft und gewährt er allein durch die Kraft seines Geistes, was hier an Gütern verheißen wird.

Luk. 4, 18. „Der Geist des Herrn ist bei mir.“ Das ist dazu gesagt, damit wir er­fahren, daß Christus selbst wie auch in seinen Dienern kein menschliches oder privates Geschäft betreibt, sondern daß er von Gott gesandt ist, um das Heil der Gemeinde wiederaufzurichten. Er bezeugt, er vollbringe nichts in menschlichem Antrieb oder Plan, sondern alles unter der Leitung des Geistes Gottes, damit sich der Glaube der Frommen in der Vollmacht Gottes gründe. Die folgende Aussage: „Darum weil er mich gesalbt hat“, ist erklärend beigefügt. Denn viele brüsten sich fälschlich, den Geist Gottes zu besitzen, während sie doch nichts von seinen Gaben haben. Christus beweist von der Salbung als gewissermaßen von der Wirkung her, daß er mit dem Geist Gottes ausgerüstet sei. Er fügt dann an, zu welchem Zweck er mit den Gaben des Geistes ausgezeichnet wurde: er soll den Armen das Evangelium verkündigen. Daraus ersehen wir, daß alle, die von Gott an die Predigt des Evangeliums geschickt werden, vorher mit den nötigen Gaben ausgerüstet werden, um für ihr Amt fähig zu sein. Darum machen sich all die einfach lächerlich, die sich unter dem Vorwand einer göttlichen Berufung das Amt eines Pastoren anmaßen, während sie doch zur Verrichtung dieses Amtes mehr als unbrauchbar sind. So sind im Papsttum die Bischöfe in ihrem Ornat ungebildeter als jeder Esel, und doch schreien sie dünkelhaft und laut, sie seien die Stellvertreter Christi und die alleinige, rechtmäßige hohe Geistlichkeit der Kirche. Es heißt auch ausdrücklich, der Herr salbe seine Knechte, weil die wahre, wirkungsvolle Predigt des Evangeliums nicht in windiger Beredsamkeit besteht, sondern in der himmlischen Kraft des Geistes, wie Paulus sagt (vgl. 1. Kor. 2,1.2.3.4).
„Den Armen.“ Der Prophet deutet an, wie der zukünftige Zustand der Gemeinde vor dem Kommen des Evangeliums sein würde und wie unser aller Lage ist außerhalb von Christus. Darum nennt er Zerbrochene, Gefangene, Blinde und Zerschlagene, denen Gott die Erneuerung verheißt. Wenn auch der Leib des Volkes von so viel Elend zerschunden war, daß man diese Namen auf jedes ein­zelne Glied anwenden konnte, fanden doch viele an ihrer Not, ihrer Blindheit und Knechtschaft, sogar an ihrem Tod noch Gefallen oder waren gleichgültig, so daß nur wenige geeignet waren, um solche Gnade zu empfangen. Zwar werden wir hier zuerst einmal gelehrt, was die Predigt des Evangeliums will und was sie uns bringt: Während wir unter allen Arten von Übel völlig begraben sind, bestrahlt uns Gott mit seinem lebenschaffenden Licht, führt uns aus dem tiefen Schlund des Todes heraus und läßt uns wieder zu voller Glückseligkeit aufleben. Es ist sicherlich kein ungewöhnlicher Lobpreis des Evangeliums, wenn wir daraus eine so unvergleichliche Frucht empfangen. An zweiter Stelle sehen wir, daß Christus alle, die er zu sich einlädt, auch der ihm anvertrauten Gnade teilhaftig macht. Gemeint sind solche, die in jeder Hinsicht elend und von aller Hoffnung auf das Heil verlassen sind. Aber auf der anderen Seite werden wir ermahnt, daß wir Christi Wohltaten nur genießen können, wenn wir uns ernsthaft demü­tigen und ihn im Gefühl unseres Elends wie Hungrige als unseren Befreier be­gehren. Denn alle, die sich in Stolz aufblähen und nicht unter ihrer Gefangen­schaft seufzen und an ihrer Blindheit Mißfallen haben, verachten diese Weissa­gung mit tauben Ohren.

Luk. 4,19. „Zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Vielen scheint das eine Anspielung auf das Jubeljahr zu sein. Ich will ihre Ansicht nicht verwerfen. Doch ist es der Mühe wert, zu beachten, daß der Prophet absichtlich dem Zweifel entgegenkommen will, der schwache Gemüter verwirren und erschüttern konnte, wenn der Herr das verheißene Heil so lange aufschob und sie warten ließ. Darum liegt der Zeitpunkt der Erlösung in Gottes Plan und Wohlgefallen, wie es Jes. 49,8 heißt: „Ich habe dich erhört zur gnädigen Zeit und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ Paulus spricht Gal. 4,4 von der Fülle der Zeit, damit die Gläubigen lernen, nicht neugierig über das Notwendige hinaus zu fragen, son­dern sich an dem Wohlgefallen Gottes genügen zu lassen. Dies eine muß ihnen genug sein, daß das Heil in Christus erschien, als es Gott so gefiel.

Luk. 4,20. „Aller Augen in der Synagoge.“ Zweifellos hatte Gott ihre Herzen angerührt, damit die Bewunderung sie aufmerksamer mache und sie auf diese Weise Christus bei seinen Worten Gehör schenkten. Denn sie mußten zurückge­halten werden, damit sie ihn nicht sofort niederschrien oder ihn wenigstens mit­ten in seiner Rede unterbrachen; denn sonst neigten sie ja mehr zur Verachtung Christi, wie wir noch sehen werden.

Luk. 4,21. „Heute ist dies Wort der Schrift erfüllt.“ Christus hat sich nicht nur dieser paar Worte bedient, sondern er erwies durch die Sache selbst, daß die Zeit schon da sei, in der Gott seine verlorene Gemeinde wiederherstellen wollte. Auf diese Weise sollte den Hörern der reiche Inhalt der Weissagung klarwerden. Ausleger behandeln die Schrift also nur richtig und ordentlich, wenn sie sie auf die jeweils gegenwärtige Lage deuten. Er sagt, die Weissagung sei erfüllt vor ihren Ohren und nicht vor ihren Augen, weil das bloße Sehen wenig vermocht hätte, wenn die Verkündigung nicht die Hauptsache gewesen wäre.

Luk. 4,22. „Und sie gaben alle Zeugnis von ihm.“ Hier rühmt uns Lukas an erster Stelle die göttliche Anmut, die dem Munde Christi entströmte. Im folgen­den malt er uns dann die Undankbarkeit der Menschen lebendig vor Augen. Mit „Worten der Gnade“ meint die hebräische Ausdrucksweise Worte, in denen die Kraft und Gnade des Heiligen Geistes sichtbar wurde. Darum werden die Nazarener gezwungen, Gott, der in Christus sprach, mit Bewunderung anzuerken­nen. Doch verbauen sie sich selbst so sehr den Weg, daß sie Christi himmlischer Verkündigung nicht mehr die Ehrerbietung zollen können, die ihr zukommt. Denn wenn sie einwerfen, er sei der Sohn des Joseph, vermehren sie an Hand dieses Umstandes nicht Gottes Ruhm, wie es sich gehört hätte, sondern sie berei­ten sich selbst böswillig einen Anstoß, um mit einem glänzenden Vorwand all das ablehnen zu können, was der Sohn des Joseph sagt. So beobachten wir heute sehr viele, die trotz ihrer Oberzeugung, daß es das Wort Gottes sei, was sie hören, doch fadenscheinige Entschuldigungen aufgreifen, mit denen sie sich der Notwendigkeit des Gehorsams entziehen. Wenn die Kraft des Evangeliums bei uns nicht wirkt, wie es billig wäre, so rührt das sicherlich nur daher, daß wir uns selbst zum Hindernis werden und das Licht, von dessen Vorhandensein wir auch wider Willen Kenntnis nehmen müssen, mit unserer Bosheit ersticken.

Aus: Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift. Die Evangelien-Harmonie 1. Teil, Neukirchener Verlag, 1966, S. 147ff.


Achim Detmers
Gesammelte Materialien für den Gottesdienst

''Kraft vom Himmel erflehen''

Als aber Jesus sah, dass er traurig geworden war, sprach er: Wie schwer kommen die Reichen in das Reich Gottes! 25 Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme. 26 Da sprachen, die das hörten: Wer kann dann selig werden? 27 Er aber sprach: Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich. Lukas 18, 24-27
Von Johannes Calvin und Felizitas Kehrenberg

Ein aktuelles Fürbittengebet verbunden mit Worten des Reformators