Prädestination - reformiertes ''Zentraldogma''?

Zur Auseinandersetzung mit Max Webers These über den Zusammenhang von Calvinismus und Kapitalismus

Tagebuchaufzeichnungen reformierter 'Puritaner' aus dem 17. Jahrhhundert widerlegen die popularisierte Max-Weber-These. Calvinisten schufteten nicht aus Angst, verworfen zu sein. Von Frank Jehle, St. Gallen

Die Überzeugung, Erfolglosigkeit in diesem Leben sei ein Zeichen dafür, nicht von Gott erwählt zu sein, habe reformierte Christen angetrieben, rastlos zu arbeiten und den Kapitalismus voranzutreiben - so eine These zur Wirkungsgeschichte von Calvins Lehre der doppelten Prädestination. Tagebuchaufzeichnungen reformierter 'Puritaner' aus dem 17. Jahrhhundert widerlegen diese populäre Vermutung. Die Gläubigen fühlten sich vom Gott der Vorsehung getragen, nicht von Angstgefühlen gehetzt. 

Die Lehre von der doppelten Prädestination gilt oft als "Zentraldogma"(1) der evangelisch-reformierten Kirchen. Mit dieser Lehre ist gemeint, dass Gott die Menschen bereits vor ihrer Geburt zu Heil oder Unheil, Erwählung oder Verwerfung, vorherbestimmt hat. Johannes Calvin, der Klassiker der reformierten Theologie, gab die folgende Definition:

"Unter Prädestination verstehen wir Gottes ewige Anordnung, vermöge deren er bei sich beschloss, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte. Denn die Menschen werden nicht alle mit der gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den anderen die ewige Verdammnis vorher zugeordnet. Wie also nun der einzelne zu dem einen oder anderen Zweck geschaffen ist, so - sagen wir - ist er zum Leben oder zum Tod prädestiniert."(2)

Wichtig an dieser Lehre ist, dass der göttliche Beschluss vom menschlichen Verhalten unabhängig ist. Er geschieht nicht etwa aufgrund göttlichen Vorherwissens. (Gott würde in diesem Fall diejenigen zum Heil prädestinieren, von denen er im voraus weiss, dass sie sich entsprechend verhalten werden - und umgekehrt.) Der Grund der Prädestination ist ein göttliches Geheimnis. Er liegt allein in Gott und nicht im Menschen. Calvin selbst sprach in diesem Zusammenhang von einem "furchtbaren Ratschluss, das gebe [er] zu" (3). Zugleich warnte er davor, Gottes Ratschluss durch vorwitzige Fragen zu ergründen. "Was hilft es euch [...], euch in unsinnigem Nachspüren in einen Abgrund zu versenken [...]. [...] Wenn wir hier weitergehen, so richten wir doch nichts aus; denn die Zudringlichkeit solcher Menschen wird keine Befriedigung finden." (4) In einem Brief an den Rat von Bern schrieb er von einem "hohen, unfassbaren Mysterium" (5).

Die Lehre von der doppelten Prädestination wurde wegen ihrer Klarheit und wegen ihres Ernstes oft bewundert, aber noch häufiger kritisiert. Ein erster prominenter Gegner Calvins war der eine Zeitlang in Genf lebende französische Arzt und vormalige Karmelitermönch Hieronymus Bolsec, der vom Humanismus und der Renaissance geprägt war. "Die Anthropologie des Humanismus ging von der Menschenwürde aus und betonte stark die Autonomie der menschlichen Kreativität - in scharfer Abgrenzung von der übrigen Natur." (6) (Ein berühmtes Beispiel war das Buch "Von der Würde des Menschen" des Italieners Pico della Mirandola.) 1551 griff Bolsec die Prädestinationslehre Calvins an, wurde verhaftet, vom Rat ausgewiesen und kehrte nach Frankreich zurück, wo er sich der katholischen Kirche wieder anschloss. Später rächte er sich durch eine sehr gehässige und entstellende Biographie des Genfer Reformators. (7)

Ein einflussreicher Vertreter der Theologen, die der Prädestinationslehre und damit Calvin kritisch-ablehnend gegenüberstanden, war im 19. Jahrhundert der ursprünglich katholische und nach 1870 altkatholische Kirchenhistoriker F. W. Kampschulte. In seiner 1869 erschienenen Calvinbiographie nannte er zwar die Institutio, das theologische Hauptwerk Calvins, das "ohne Frage [...] hervorragendste und bedeutendste Erzeugnis, welches die reformatorische Literatur des sechzehnten Jahrhunderts auf dem Gebiet der Dogmatik aufzuweisen" habe. Die Methode sei "lichtvoll und klar, der Gedankengang streng logisch, überall durchsichtig, die Einteilung und Ordnung des Stoffes den Grundgedanken entsprechend". Die Darstellung schreite "ernst und gemessen vor" und nehme "zuweilen einen höheren Schwung an." Calvins Institutio enthalte "Abschnitte, die dem Schönsten, was von Pascal und Bossuet geschrieben worden [sei], an die Seite gestellt werden" könnten. "Stellen, wie jene über die Erhabenheit der heiligen Schrift, über das Elend des gefallenen Menschen, über die Bedeutung des Gebetes, werden nie verfehlen, auf den Leser einen tiefen Eindruck zu machen."

Aber dann schlägt Kampschulte zu! Trotz aller Bewunderung Calvins beschleiche ihn ein "unheimliches Gefühl": "Ein System, das von dem furchtbaren Gedanken der doppelten Prädestination" ausgehe, "welches die Menschen ohne jede Rücksicht auf das eigene Verhalten in Erwählte und Verworfene" scheide und "die einen wie die andern zu blossen Werkzeugen zur Verherrlichung der göttlichen Majestät" mache, welches "mit völliger Gefangennehmung der Vernunft unter den Gehorsam des Glaubens die Hilfe der menschlichen Vernunft und der Philosophie" verschmähe und verachte, welches "die ausschliessliche Herrschaft des äusseren Wortlautes der Bibel" verkünde und "in starrem Festhalten der Zustände eines bestimmten Zeitraums gewissermassen auch die äusseren Erscheinungsformen des kirchlichen Lebens" dogmatisiere - "ein solches System" könne "unmöglich dem denkenden, Belehrung und Trost suchenden Menschengeist innere Ruhe und Befriedigung gewähren." (8) - Nachfolger Kampschultes (und Bolsecs) im 20. Jahrhundert waren neben anderen der Schriftsteller Stefan Zweig (9) und der Zürcher Pfarrer und Psychoanalytiker Oskar Pfister (10), deren polemisches Calvinbild nach wie vor eine breite Wirkung ausübt. Fast in jedem Lexikon und in jedem Lehrmittel für den Geschichtsunterricht an höheren Schulen wird Calvin in diesem Sinn geschildert.

In denselben Zusammenhang gehört der Soziologe Max Weber mit seinen viel zitierten Abhandlungen über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus von 1904 und 1905. Auch für ihn ist die Lehre von der doppelten Prädestination das reformierte "Zentraldogma", dessen "pathetische[.] Unmenschlichkeit" er hervorhebt. "Aus dem menschlich verständlichen 'Vater im Himmel' des Neuen Testaments" sei im Calvinismus "ein jedem menschlichen Verständnis entzogenes transzendentes Wesen geworden, welches von Ewigkeit her nach gänzlich unerforschlichen Ratschlüssen jedem Einzelnen sein Geschick zugeteilt und über alles Kleinste im Kosmos verfügt hat."

Als Sozialwissenschaftler war Weber nicht an der theologischen Aussage im engeren Sinn interessiert, wohl aber an den psychischen und sozialen Auswirkungen der Lehre von der doppelten Prädestination. Folge des reformierten "Zentraldogmas" sei im 16. und 17. Jahrhundert bei den Gläubigen "das Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung" gewesen. "In der für die Menschen der Reformationszeit entscheidendsten Angelegenheit des Lebens: der ewigen Seligkeit", sei der Mensch darauf verwiesen worden, "seine Strasse einsam zu ziehen, einem von Ewigkeit her feststehenden Schicksal entgegen." Niemand habe ihm helfen können. (11) Religiöse "Angstaffekte" (12) hätten die Angehörigen der reformierten Kirchen enorm belastet.

Und daraus zieht der Soziologe einen folgenschweren Schluss: Durch "rastlose Berufsarbeit" (13) hätten die reformierten Gemeindeglieder sich bemüht, ihre religiöse Angst abzureagieren. Sie hätten sie beschwichtigt und verdrängt, indem sie im beruflichen Erfolg einen Beweis dafür zu erhalten versuchten, von Gott erwählt zu sein - und nicht etwa verworfen. Ein ausserordentlicher Aktivismus sei das Resultat gewesen. Auf diesem religiösen Hintergrund entwickelte sich nach Max Weber die so phänomenale kapitalistische Wirtschaft in den vom Calvinismus beeinflussten Ländern: Schweiz, Niederlande, Grossbritannien usw. - und natürlich vor allem in Nordamerika, wo bereits das Wolkenkratzerheer von Manhattan alle Reisenden aus Europa tief beeindruckt. In breiten gebildeten Kreisen hat sich Max Webers These über den Zusammenhang von doppelter Prädestination und Kapitalismus heute weitestgehend durchgesetzt. Sie wurde zu einem historischen Mythos beziehungsweise zu einem Gemeinplatz, dessen Gültigkeit man fraglos annimmt.

Ziel des vorliegenden kleinen Artikels ist es nun, die ganze Theorie in drei Schritten kritisch zu hinterfragen und zu destruieren.

1. Neuere historische Untersuchungen in verschiedenen Ländern haben ergeben, dass Max Weber sich mit seiner Theorie zu stark von der "hohen" Theologie bestimmen liess. Die Lehre von der doppelten Prädestination war zwar ein Lieblingsstück der akademischen Theologie. An Theologenkonferenzen (Synoden von Dordrecht, 1618-19, und Westminster, 1643-49) liebte man es, ausgiebig darüber zu diskutieren und nuancierte Formulierungen bis hinein in die feinsten Verästelungen aufzustellen. Das "gewöhnliche" Kirchenvolk - und auch die "gewöhnlichen" Pfarrer - waren aber wenig davon berührt.

Der an der Universität Kiel lehrende Historiker Kaspar von Greyerz untersuchte 100 Autobiographien und gegen 300 Tagebücher, die im 17. Jahrhundert in England geschrieben wurden - zu einem guten Teil von reformierten "Puritanern". Besonders fiel ihm daran auf, dass die grosse Mehrheit dieser Menschen sich nicht mit der Prädestination beschäftigte. Von religiösen "Angstaffekten" keine Spur! Was ihre Frömmigkeit prägte, war ihr Glaube an die Vorsehung und das heisst: an die Gegenwart eines gütigen Gottes in der Welt des Alltags. "Der Gott der Vorsehung war nicht der ferne und unerforschliche Gott der doppelten Prädestination, sondern viel mehr eine Art von Vaterfigur, die einem im Leben zu Hilfe kam - genau so wie die Heiligen den Gläubigen in den Augen der damaligen Katholiken halfen" (14). Das heisst: Auch der Unterschied zwischen den religiösen Gefühlen der verschiedenen Konfessionen wurde fast immer überschätzt. Die Forschung orientierte sich zu stark an der akademischen Theologie mit ihrer Lust zum Streitgespräch und zur Unterscheidung. Die "normalen" Gemeindeglieder der unterschiedlichen Glaubensgemeinschaften dachten nicht so verschieden. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es einen breiten gemeinsamen Frömmigkeitssockel in ganz Europa.

Je intensiver man sich auf Mentalitätsgeschichte einlässt, desto weniger wird demnach ein Zusammenhang zwischen der Lehre von der doppelten Prädestination und dem modernen Kapitalismus belegbar. Richtig an Max Webers Theorie bleibt nur der Sachverhalt, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem in vom Calvinismus geprägten Ländern früher als anderswo hervortrat. Der Calvinismus lehrte Tugenden wie Bescheidenheit und Fleiss, was aber kaum etwas mit der Prädestinationslehre zu tun hat. Eigeninitiative und Selbstverantwortung des einzelnen wurde durch die demokratische Kirchenverfassung der reformierten Kirchen stark gefördert.

2. Die Lehre von der doppelten Prädestination ist abgesehen davon viel weniger "typisch reformiert", als man häufig annimmt. Man lese Martin Luthers gegen den Humanisten Erasmus von Rotterdam adressierte Schrift "De servo arbitrio" ("Dass der freie Wille nichts sei") von 1525. Das berühmte Werk (das der Wittenberger Reformator für eines seiner besten Bücher hielt) macht deutlich, dass Luthers Theologie mindestens so stark wie diejenige Calvins von der Prädestination geprägt war. Ähnlich verhält es sich mit Zwingli, der in seiner Schrift "De providentia" ("Die Vorsehung") von 1530 ebenfalls einen starken Prädestinatianismus vertrat, der Calvin sogar zu weit ging. (An Bullinger in Zürich schrieb Calvin im Januar 1552: "Zwinglis Buch [von der Vorsehung] ist doch, um mich vertraulich auszudrücken, so voll harter Paradoxien, dass es von dem Mass, das ich innehalte, sich sehr weit entfernt." (15)

Im Hintergrund nicht nur Calvins, sondern auch Luthers und Zwinglis steht der übermächtige Schatten von Aurelius Augustinus (354-430), dem grössten lateinisch schreibenden Theologen des zu Ende gehenden Altertums, dessen Einfluss nicht nur auf die Reformation, sondern ebenso sehr auf die römisch-katholische Tradition unüberschätzbar ist. Obwohl begrifflich noch nicht ganz ausgereift, hatte er die Prädestinationslehre geschaffen (vor allem in Anlehnung an gewisse Spitzensätze des Apostels Paulus) und der abendländischen Christenheit als Erbe übermittelt: "Von allen durch die göttliche Vorsehung Vorhergewussten, Vorherbestimmten [Prädestinierten], Berufenen, Gerechtfertigten [und] Verherrlichten sage ich nicht nur, dass sie vor ihrer Wiedergeburt [im religiösen Sinn], sondern bereits vor ihrer Geburt [im natürlichen Sinn] Kinder Gottes sind und nicht zu Grunde gehen können." (16) Augustin formulierte zwar das gleiche nicht wörtlich von der "Gegenseite", von den für alle Ewigkeit Verdammten. Es leidet aber keinen Zweifel, dass er es so meinte. Augustins "Musterbeispiel" aus der Bibel war "Esau, der Haarige, der verdammt war, ehe er geboren wurde, bevor er also schuldig werden konnte." (17) Calvin hatte völlig recht mit seiner Aussage, schon bei Augustin komme die Lehre vor, "dass der Herr Menschen erschaffen ha[be], von denen er ohne Zweifel vorher wusste, dass sie verlorengehen würden." (18) - Wer Calvin wegen der Prädestinationslehre angreifen will, muss seine Kritik auch gegen Augustin, Luther und Zwingli richten.

Instruktiv ist es, Calvin mit Thomas von Aquino, dem grössten Denker des katholischen Mittelalters, zu vergleichen, der ebenfalls von Augustinus herkam. Auch Thomas war prädestinatianisch orientert. Er unterschied sich nur in Nuancen von Calvin, wählte aber eine vorsichtigere und zurückhaltendere Begrifflichkeit als der Genfer Reformator. Das Wort Prädestination verwandte er nur im positiven Sinn - als Vorherbestimmung zum Heil. Und in diesem Fall war es auch für ihn selbstverständlich, dass der Mensch nichts zu seiner Erwählung beiträgt. Im Falle der Verworfenen verzichtete Thomas jedoch darauf, das Wort Prädestination zu verwenden. Die Verwerfung nannte er einen "Teil der Vorsehung bezüglich derer, die vom Heil abfallen" und unterstrich, dass das Wort "Vorauswissen" zur Erklärung dieses Phänomens nicht zureiche (19). Gott sieht nicht nur voraus, sondern er will zulassen (20), dass Menschen schuldig werden und der Strafung der Verdammung anheimfallen. Gott will zulassen! Thomas wählte damit eine betont schwebende Formulierung, die die menschliche Verantwortung bestehen bleiben lässt, zugleich aber trotzdem - und zwar dezidiert - am Primat des göttlichen Willens festhält. Der freie Wille des Menschen ist vom göttlichen Willen ganz umschlossen. Es ist dies möglicherweise die klügste Gestalt, welche die Prädestinationslehre im Bannkreis Augustins gefunden hat.

3. Calvin hat also die doppelte Prädestination in der Tat gelehrt. In Genf selbst wirkte er auch darauf hin, dass alle Theologen mit ihm übereinstimmten (vgl. den Fall Bolsec). Die Lage der freien Reichsstadt Genf war damals so exponiert - katholische Truppen konnten die Stadt von verschiedenen Seiten her jederzeit angreifen -, dass ein theologischer "Burgfriede" in Calvins Augen lebenswichtig war. Und doch muss man bezweifeln, dass sein ganzes theologisches System "von dem furchtbaren Gedanken der doppelten Prädestination" (Kampschulte) beherrscht war oder ausging.

Calvin war nicht ein im hegelianischen Sinn systematischer Denker, der alles von einem einzigen Punkt aus konstruierte. Er war viel eher ein biblischer Theologe, der sich von der heiligen Schrift in ihrer gesamten Mannigfaltigkeit und Vielschichtigkeit inspirieren liess. In zahlreichen Predigten und ebenso in den meisten seiner Briefe redete er nicht von der Prädestination, es sei denn, dass ein Gesprächspartner ihn darauf ansprach. In der ersten Auflage der Institutio von 1536 wird die doppelte Prädestination noch nicht gelehrt. Und auch wer die späteren Auflagen in einem Anlauf durchliest, gewinnt kaum den Eindruck, alles sei von der Prädestinationslehre dominiert. "Clementia dei", "Menschenfreundlichkeit Gottes", ist ein Lieblingsausdruck Calvins.

Und besonders zu Calvins Briefen: Den theologischen Freunden Bullinger in Zürich und Melanchthon in Wittenberg möchte er das Einverständnis mit der von ihm vertretenen Sicht der Prädestination zwar abringen. Er wirbt um ihr Einverständnis. Er ist aber bereit, die Freundschaft und das ökumenische "Band des Friedens" auch dort zu bewahren, wo der Freund uneinsichtig und unnachgiebig bleibt. Obwohl Bullinger kein Hehl daraus macht, dass ihm die Lehre von der doppelten Prädestination Mühe bereitet, sagt Calvin, er halte den Nachfolger Zwinglis in Zürich nicht für seinen Feind. Er wolle im Gegenteil stets mit ihm "durch alle Bande brüderlicher Gemeinschaft verbunden bleiben", da Bullinger aller theologischen Unterschiede zum Trotz ein "gleichgesinnter und unzertrennlicher Genosse im Werk des Herrn" sei. (21) Er umarme ihn!

Nach Bern schreibt er, wer Melanchthon und ihn gegeneinander ausspielen wolle, tue "beiden und überhaupt der ganzen Kirche" unrecht. Er verehre Melanchthon wegen seines "ausgezeichneten Wissens" und seines "edlen Charakters", vor allem aber "wegen seiner treuen Wirksamkeit zur Erhaltung des Evangeliums". Wenn er etwas an ihm finde, dem er widersprechen müsse, so verschweige er es ihm nicht, wie Melanchthon auch ihm die volle Freiheit lasse. (22)

Melanchthon selbst gegenüber heisst es: "Könnten wir doch einmal über diese Dinge miteinander reden! Bekannt ist mir ja Deine Lauterkeit, Deine durchsichtige Offenheit und Deine Mässigung; Deine Frömmigkeit aber ist allen Engeln und Menschen wohlbezeugt. So liesse sich hoffentlich diese Sache leicht unter uns schlichten." (23) Oder in einem späteren Brief: "Um diese Ungleichheit [zwischen Dir und mir] zu tilgen, will ich Dir nicht vorschreiben, Du müssest mir beipflichten; aber uns beide unter Gottes heiliges Wort zu stellen, dessen dürfen wir uns nicht schämen." (24)

Calvin wirbt also geradezu in einer rührenden Weise um die Zustimmung seines Wittenberger Freundes, respektiert aber zugleich dessen von seiner eigenen Meinung abweichende Position. Über die Prädestination heisst es im gleichen Brief, die "Lehre von Gottes Barmherzigkeit als Gnadengeschenk" werde "von Grund aus umgestürzt", wenn man nicht daran festhalte, dass "rein nach Gottes Wohlgefallen aus den Verworfenen die Gläubigen ausgeschieden" würden, die Gott zur Seligkeit erwähle. Es müsse feststehen, dass "der Glaube aus der verborgenen Gnadenwahl Gottes" fliesse. Gott erleuchte diejenigen mit seinem Geist, welche er "vor ihrer Geburt auszuwählen beschlossen und durch seine Gnadenannahme in seine Familie aufgenommen" habe. (25)

Der zuletzt zitierte Text ist zum Verständnis des Anliegens Calvins besonders hilfreich. Es geht Calvin nicht um müssige Spekulation. Die Tatsache, dass Gott Menschen auch verwerfen kann, ist weiter nichts als die leider nicht vermeidbare logische Konsequenz aus der anderen und viel fundamentaleren Glaubenseinsicht: Es ist Gott selbst, von dem die Initiative zur Erlösung ausgeht! Der Glaube ist ein Geschenk Gottes und nicht eine menschliche Leistung. Die "Lehre von Gottes Barmherzigkeit als Gnadengeschenk" steht auf dem Spiel. Und diese ist nach Calvins Verständnis unaufgebbar.

An den Rat von Genf schreibt er, Gott habe uns die Augen aufgetan, "weil er uns auserwählt [habe], Gläubige zu sein, ehe wir im Mutterschoss empfangen waren." (26) In erster Linie geht es um die Heilsgewissheit. Calvin sagt im gleichen Brief: Jeder nun, der daran festhalte, dass "der Glaube ein Angeld und Pfand der Annahme aus Gnaden" sei, bekenne auch, dass derselbe Glaube "aus dem Quell der ewigen Erwählung" fliesse. Und doch sollten wir "unsere Heilsgewissheit nicht in dem verborgenen Ratschluss Gottes zu suchen." In Christus sei uns ein Leben vor die Augen gestellt, das sich im Evangelium nicht nur offenbare, sondern das wir geniessen dürften. "Auf diesen Spiegel sei der Blick des Glaubens gerichtet [...]. [Der Glaube] begehre nicht, dahin zu dringen, wohin kein Zugang ist." (27) Die Stelle lenkt den Blick von abstrakten Spekulationen über den verborgenen Ratschluss Gottes auf das Evangelium von Jesus Christus. Darauf kommt es an! Es ist ein schönes und hilfreiches Bild: Christus als der Spiegel, in dem man den göttlichen Willen wahrnimmt.

Entsprechend die Institutio: "Suchen wir Gottes väterliche Freundlichkeit und sein uns gnädiges Herz, so müssen wir zunächst unsere Augen auf Christus richten, auf dem allein des Vaters Wohlgefallen ruht. [...] denn er allein ist der Brunnquell des Lebens, er ist der Anker des Heils, er ist der Erbe des Himmelreichs. Worauf geht nun aber unsere Erwählung anders hinaus, als darauf, dass wir, von dem himmlischen Vater an Kindes Statt angenommen, durch seine Gunst Heil und Unsterblichkeit erlangen? Man mag [die Erwählung] überdenken und durchforschen, soviel man will, so wird man doch finden, dass ihr letzter Zielpunkt nicht weiter geht [...]." (28)

Eindrücklich ist ein Brief Calvins an die bedrängten Protestanten Frankreichs, geschrieben 1561, also zu einer Zeit, in der der älter werdende Reformator bereits unter der Tuberkulose litt, an der er drei Jahre später sterben sollte: Es stehe fest, "dass niemand anders als aus Gnaden das Vorrecht [erhalte], freimütig und in ruhigem Vertauen auf Christi Schutz Gott Vater zu nennen." Die Gnadenwahl sei "nach dem geheimen Ratschluss Gottes" zwar "die allererste Ursache unserer Seligkeit", bleibe uns jedoch verborgen. Dennoch stehe unbezweifelbar fest, dass alle, "die durch den Glauben an das Evangelium in den Leib Christi aufgenommen" seien, auch von Gott selbst begnadigt würden. Mit diesem Zeugnis könne man zufrieden sein und "auf dem mit Glück betretenen Weg" energisch weiterschreiten. (29) Die Botschaft von der göttlichen Gnadenwahl ist nicht eine Drohbotschaft, sondern eine Frohbotschaft. Gerade weil unsere Erwählung nicht von unserer Eigenleistung abhängt, können wir zuversichtlich sein.

In einem Schreiben der Genfer Pfarrerschaft an die Kollegen in Zürich heisst es: "Darüber sind wir ja einig genug, dass wir gerecht werden durch den Glauben; aber darin erscheint erst Gottes Barmherzigkeit fest begründet, dass wir den Glauben erkennen als eine Frucht dessen, dass er uns aus freier Gnade annimmt; dass er uns aber annimmt, kommt von seiner ewigen Erwählung her." (30) Wie in einer Nussschale wird die eigentliche Bedeutung der Prädestinationslehre für Calvin an dieser Stelle sichtbar: Gerade weil die Erwählung Gottes allem menschlichen Tun vorgeordnet ist - wir kommen von der Erwählung her und sind von Anfang an von ihr geprägt -, können wir fröhlich und gewiss sein.

Anders als Kampschulte und viele andere es sehen wollten, basierte Calvins "System" nicht auf dem "furchtbaren Gedanken der doppelten Prädestination". Wenn man überhaupt von einem "System" bei Calvin sprechen kann, geht es von Gottes Barmherzigkeit aus, die sich in Jesus Christus offenbart. Zentrum der spezifisch reformierten Frömmigkeit ist das christologisch begründete Gottvertrauen.

"Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? - Dass ich mit Leib und Seel, beide im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkömmlich bezahlet und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöset hat und also bewahret, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt kann fallen, ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Darum er mich auch durch seinen heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu leben von Herzen willig und bereit macht." (31)

Der berühmte Anfang des Heidelberger Katechismus, einer der wichtigsten Bekenntnisschriften der evangelisch-reformierten Kirchen, bringt diesen Zug reformierter Frömmigkeit besonders schön zum Ausdruck - frei von allen "Angstaffekten". Calvin hätte diese Sätze unterschrieben.

1 Alexander Schweizer, Die protestantischen Centraldogmen in ihrer Entwicklung innerhalb der reformierten Kirche. Zürich 1854/56. 
2 Institutio III, 21, 5 (nach Otto Weber).
3 A. a. O., III, 23, 7.
4 A. a. O., III, 23, 5.
5 4. Mai 1555.
6 Paul Münch, The Thesis before Weber. In: Hartmut Lehmann und Günther Roth (Herausgeber), Weber's Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts. (1987.) First paperback edition.
Cambridge (England) 1995, S. 54 (Übersetzung F. Jehle).
7 Nach: RGG, 3. Auflage, Band 1. Tübingen 1957, Sp. 1349 f.
8 F. W. Kampschulte, Johann Calvin, seine Kirche und sein Staat in Genf. Erster Band. Erste Auflage. Leipzig 1869, S. 275 f.
9 Stefan Zweig, Castellio gegen Calvin. Wien 1936. (Ein Buch, das zwischen den Zeilen als Kampfschrift gegen die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts konzipiert war!)
10 Oskar Pfister, Das Christentum und die Angst. Zürich 1944.
11 Max Weber, Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung. Herausgegeben von Johannes Winckelmann. Siebenstern-Taschenbuch 53/54. Dritte, durchgesehene und erweiterte Auflage. Hamburg 1973, S. 122.
12 A. a. O., S. 129.
13 A. a. O.
14 Kaspar von Greyerz, Predestination, Covenant, and Special Providence. In: Hartmut Lehmann und Günther Roth (Herausgeber), Weber's Protestant Ethic. Origins, Evidence, Contexts. (1987.) First paperback edition.
Cambridge (England) 1995, S. 276 (Übersetzung F. Jehle).
15 Januar 1552.
16 Nach Seeberg II, S. 541.
17 Kurt Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken. 2., durchgesehene und erweiterte Auflage. Stuttgart 1994, S. 191.
18 Institutio III, 23, 5.
19 Thomas von Aquino, Summa Theologiae I 23 3.
20 A. a. O.: "repropatio includit voluntatem permittendi".
21 April 1553.
22 6. Oktober 1552.
23 18. November 1552.
24 27. August 1554.
25 A. a. O.
26 1. Januar 1552.
27 1. Januar 1552.
28 Institutio III, 24, 5.
29 18. August 1561.
30 14. November 1551.
31 Heidelberger Katechismus, Frage und Antwort 1.

Quelle: Homepage von Frank Jehle, freischaffender Autor, bis 2004 Seelsorger und Lehrbeauftragter für evangelische Theologie an der Universität St. Gallen

Die Wirtschaftsethik Calvins und die Widerlegung der Max-Weber-These

Dürfen sich Millionäre als besonders Auserwählte Gottes fühlen - und sich dabei auf Calvin berufen?
Die Postkarte 'Kapitalismus' als PDF
Johannes Calvin antwortet

In seiner 1551 verfassten und 1562 gedruckten Schrift ''Von der ewigen Erwählung Gottes'' antwortet Calvin auf die Frage, wie ein Mensch im Glauben Gewissheit darüber haben kann, erwählt zu sein.
Ein Überblick von Johannes Calvin über Karl Barth bis Letty Russell. Von Margit Ernst-Habib

Wohl kaum eine andere theologische Lehre ist durch die Jahrhunderte hindurch als für die reformierte Tradition so charakteristisch verstanden worden; wohl kaum eine andere Lehre ist – außerhalb und innerhalb – der reformierten Tradition so oft verzeichnet, missverstanden oder karikiert worden wie die Lehre von Gottes Erwählung oder Prädestination.