Quasimodogeniti - Johannes 20,19-31: Der einzige Lehrer der Kirche

von Johannes Calvin

"Wenn Christus übrigens die Apostel an seine Stelle treten lässt, so bedeutet das nicht seinen Verzicht auf das oberste Lehramt: er allein sollte es nach dem Willen des Vaters innehaben. Persönlich bleibt er der einzige Lehrer der Kirche und wird es ewig bleiben..."

19 Am Abend aber desselben ersten Tages der Woche, da die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten ein spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! 20 Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. 21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. 22 Und da er das gesagt hatte, blies er sie an und spricht zu ihnen: Nehmet hin den Heiligen Geist! 23 Welchen ihr die Sünde erlasset, denen sind sie erlassen; und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.

V. 19. „Am Abend aber desselben ersten Tages der Woche . . .“ Nun berichtet der Evangelist, der Anblick Christi habe die Jünger von seiner Auferstehung überzeugt. Gottes Vorsehung war es, die sie sich alle an einem Orte hatte ver­sammeln lassen. Das Ereignis sollte unbedingt glaubhaft und kein Zweifel daran möglich sein. Dabei wollen wir beachten, wie freundlich Christus sie behandelte: nur bis zum Abend ließ er sie im ungewissen. Dazu kommt auch, daß er ihnen erschien und ihnen das Unterpfand des neuen Lebens brachte gerade in dem Augenblick, in dem die Welt sich in Finsternis hüllte. Daß sie sich versammelt hatten, war ein Zeichen von Glauben oder wenigstens von frommer Liebe. Wenn sie sich hinter verschlossenen Türen verborgen hielten, so erkennen wir daran, wie schwach sie waren. Zwar sind auch solche Menschen, die im allge­meinen heldenhaften Mut und unerschütterliche Festigkeit zeigen, nicht immer ganz ohne Furcht. Die Apostel aber waren, wie man leicht sehen kann, damals in solcher Angst, daß sie deutlich erkennen ließen, wie schwach ihr Glaube war. Man sollte sich ihr Beispiel stets vor Augen halten. Denn obgleich sie nicht so mutig sind, wie sie sollten, erliegen sie ihrer Schwäche nicht. Zwar suchen sie sich ein Versteck, um der Gefahr zu entgehen. Trotzdem sind sie so gefaßt, daß sie zusammenbleiben. Sonst wären sie nach allen Seiten auseinandergelaufen, und niemand hätte gewagt, einen anderen anzublicken. So sollen auch wir mit der Schwäche unseres Fleisches kämpfen und die Furcht bezähmen, die uns dahin bringt, von Christus abzufallen. Christus segnet ja auch ihren Eifer, indem er ihnen erscheint; und Thomas bleibt zu Recht ohne die Gnade, die allen seinen Brüdern zuteil geworden war, weil er sich wie ein flüchtiger Soldat von seiner Einheit entfernt hatte. Wer zu ängstlich ist, lerne also daraus, sich selbst zur Überwindung seiner fleischlichen Furcht anzuspornen! Vor allem aber muß man es vermeiden, vor Furcht auseinanderzulaufen.
„Und die Türen verschlossen . ..“ Dieser Umstand wurde ausdrücklich hinzu­gesetzt, weil mit ihm ein deutlicher Beweis von Christi göttlicher Macht ver­bunden ist. Zwar glauben einige Ausleger, jemand habe ihm die Tür geöffnet und er sei wie ein gewöhnlicher Mensch eingetreten. Aber das steht in klarem Widerspruch zur Meinung des Evangelisten. Die Stelle ist deshalb so zu ver­stehen: Christus trat ein, um seinen Jüngern einen Beweis seiner Gottheit zu liefern und sie dadurch aufmerksam zu machen. Doch kann ich auf keinen Fall zugeben, Christi Leib sei durch die verschlossene Tür gedrungen, wie die Papisten versichern. Wozu behaupten sie das? Sie wollen seinen Auferstehungsleib als dem Geist ähnlich erscheinen lassen; darüber hinaus wollen sie deutlich machen, er sei unermeßlich groß und kein Raum könne ihn fassen. Aber davon lassen die Worte nichts verlauten. Der Evangelist sagt nicht, Christus sei durch verschlossene Türen gegangen; vielmehr, er habe plötzlich mitten unter den Jüngern gestanden, obwohl die Türen verschlossen waren und kein Mensch ihm geöffnet hatte. Petrus entkam, wie wir wissen, aus einem verschlossenen Kerker. Müssen wir da nun etwa sagen, er sei mitten durch Holz und Eisen gegangen (Apg. 5,19)? Uns mag genügen: Christus wollte durch ein auffallendes Wunder den Glauben an seine Auferstehung bei seinen Jüngern festigen.
„Friede sei mit euch!“ Das ist der übliche Gruß der Hebräer: „Friede“ bedeutet bei ihnen alles Günstige, was man sich für ein glückliches Leben zu wünschen pflegt. Dieser Ausdruck bedeutet also etwa: Möge es euch gut gehen! Ich betone das darum, weil einige Ausleger hier ohne Grund von Frieden und Eintracht reden. Dabei wollte Christus nichts anderes als seinen Jüngern das Beste wünschen.
V. 20. „Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite.“ Diese Bestätigung brauchten sie noch, um in jeder Hinsicht davon überzeugt zu sein, Christus sei auferstanden. Daß Christus noch nach seiner Auferstehung Wunden hat, könnte unwürdig und unpassend erscheinen. Man bedenke aber: Christus ist nicht so sehr für sich selbst als für uns auferstanden; außerdem kann nichts ihn schänden, was zu unserem Heil dient. Wenn er sich eine Zeitlang erniedrigt, so hat das seiner Majestät durchaus keinen Abbruch getan. Wenn die Wunden, um die es hier geht, gar den Glauben an seine Auferstehung stärken, so trüben sie nicht im geringsten den Glanz seiner Herrlichkeit. Lächerlich wäre es allerdings, wollte jemand daraus schließen, Christi Seite sei noch immer durch­stochen, seine Hände seien noch immer durchbohrt. Gewiß waren die Wunden nur für kurze Zeit von Nutzen: bis nämlich die Apostel fest davon überzeugt waren, Christus sei vom Tod erstanden. - Dann sagt Johannes noch, die Jünger hätten sich beim Anblick des Herrn gefreut. Damit verdeutlicht er, das neue Leben mache alle Trauer zunichte, mit der Christi Tod sie erfüllt hatte.
V. 21. „Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch! . . .“ Mit dieser nochmaligen Begrüßung will der Herr sich wohl lediglich die Aufmerk­samkeit sichern, die der großen Bedeutung dessen angemessen war, was er sagen wollte.
„Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Mit diesen Worten weiht Christus seine Apostel gewissermaßen in das Amt ein, zu dem er sie schon vorher bestimmt hatte. Zwar hatte er sie bereits früher durch Judäa gesandt. Damals aber waren sie nur Herolde gewesen, die auf den höchsten Lehrer hin­weisen, und nicht Apostel, die das Lehramt für immer übernehmen sollten. Jetzt aber macht der Herr sie zu seinen Gesandten, die sein Reich in der Welt auf­richten sollen. Niemand möge darum bezweifeln: erst in diesem Augenblick sind die Apostel als ordentliche Diener des Evangeliums eingesetzt worden. Der Sinn seiner Worte ließe sich auch so wiedergeben: bisher habe Christus das Amt des Lehrers ausgeübt; nun aber habe er die Bahn seines Lebens durchmessen und vertraue jenes Amt ihnen an. Der Vater habe ihn, will Christus sagen, nicht für immer zum Lehrer erwählt. Er sollte den anderen eine Zeitlang vorangehen und sie dann an seine Stelle treten lassen, die sie in seiner Abwesenheit ein­nehmen sollten. In diesem Sinne sagt auch Paulus (Eph. 4,11), Christus habe die einen zu Aposteln, andere zu Evangelisten, wieder andere zu Hirten gemacht, damit sie die Kirche bis zum Ende der Welt leiteten. Das erste, was Christus sagt, ist darum dies: er selbst habe das Lehramt zwar nur eine Zeitlang inne­gehabt; die Predigt des Evangeliums aber solle nicht kurze Zeit, sondern ewig währen. Zweitens soll die Lehre im Munde der Apostel dasselbe Gewicht haben, das sein eigenes Lehren hatte. Deshalb läßt er sie in dasselbe Amt eintreten, das er vom Vater erhalten hatte, dieselbe Aufgabe erlegt er ihnen auf, verleiht ihnen dieselben Rechte. Ihrem Dienst so feste Grundlagen zu geben war ein Gebot der Notwendigkeit. Sie waren ja unbekannte, gewöhnliche Menschen. Und selbst wenn sie im Glänze der höchsten Würde erstrahlt wären, so wissen wir: das reicht bei weitem nicht aus, um die Leute zum Glauben zu bringen. Nicht überflüssig teilte Christus daher die vom Vater empfangene Würde mit den Aposteln. Das soll nämlich deutlich machen, die Predigt des Evangeliums sei ihnen nicht von Menschen, nein, von Gottes Befehl her aufgegeben. Wenn er übrigens die Apostel an seine Stelle treten läßt, so bedeutet das nicht seinen Verzicht auf das oberste Lehramt: er allein sollte es nach dem Willen des Vaters innehaben. Persönlich bleibt er der einzige Lehrer der Kirche und wird es ewig bleiben. Zu seinen Erdenzeiten, das ist der Unterschied, hat er selbst geredet; jetzt aber spricht er durch die Apostel. Mit der Nachfolge der Apostel wird also Christus nichts genommen, sein Recht nicht angetastet, seine Ehre nicht ge­schmälert. Denn unbedingte Gültigkeit hat das Gebot, das uns befiehlt, auf ihn und nicht auf andere zu hören (Matth. 17,5). Christus wollte hier also keine Menschen auszeichnen, sondern die Lehre des Evangeliums. Man beachte außer­dem: nur von der Predigt des Evangeliums ist hier die Rede. Christus sandte die Apostel nämlich nicht mit dem Auftrage, mit dem ihn der Vater gesandt hatte: die Sünden der Welt zu sühnen und die Gerechtigkeit zu schaffen. Seinen beson­deren Auftrag aber berührt er an dieser Stelle nicht. Er setzt lediglich Diener und Hirten ein zur Lenkung der Kirche. Und auch das tut er nur unter dem Vorbehalt, allein die wirkliche Gewalt in Händen zu halten: sie dürfen nur dienen.
V. 22. „Und da er das gesagt, blies er sie an . . .“ Jener schwierigen Aufgabe ist kein einziger Mensch gewachsen. Deshalb setzt Christus Apostel ein, indem er sie mit der Gnadengabe seines Geistes beschenkt. Und wirklich übersteigt es die Kraft eines Menschen bei weitem, wenn er die Kirche Gottes regieren, die Botschaft vom ewigen Heil ausrichten, das Reich Gottes auf Erden erbauen und Menschen zum Himmel emporheben soll. Kein Wunder darum, wenn keiner dazu geeignet ist, den nicht der Hauch des Heiligen Geistes berührt hat. Denn niemand kann auch nur ein Wort über Christus sagen, dem nicht der Geist die Zunge lenkt (1. Kor. I2,3). Wieviel weniger dürfte da jemand imstande sein, diese erhabene Aufgabe in allen ihren Teilen wirklich zu erfüllen? Übrigens hat Christus das herrliche Vorrecht, die Männer, die er als Lehrer an die Spitze seiner Kirche stellt, für dieses Amt zuzubereiten. Dazu nämlich hat sich die ganze Fülle des Geistes in ihn ergossen, damit er jedem einzelnen ein bestimmtes Maß davon zuteilt. Ferner bleibt er ja der einzige Hirte der Kirche und muß darum in den Dienern, die ihm behilflich sind, die Kraft seines Geistes sichtbar werden lassen. Auch durch ein äußerliches Zeichen hat er es verdeutlicht, als er die Apostel anhauchte. Das nämlich ist nur dann passend, wenn der Geist von ihm ausgeht. Außerdem teilt Christus mit seinen Jüngern nicht nur den Geist, den er empfangen hat, sondern er spendet ihnen gleichsam seinen eigenen, weil er ihn nämlich mit dem Vater gemeinsam hat. Daher maßen sich alle die gött­liche Herrlichkeit an, die behaupten, durch ihren Anhauch den Geist zu geben. Christus, das muß man vor allem beachten, stattet diejenigen, die er zu einem Hirtenamt beruft, auch mit den nötigen Gaben aus, damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind oder doch wenigstens nicht ganz unvorbereitet darangehen. Hier wird uns eine feste Regel an die Hand gegeben, mit deren Hilfe wir die Menschen erkennen können, die Gott wirklich zur Leitung seiner Kirche berufen hat: wir müssen zusehen, ob sie mit dein Heiligen Geist begabt sind. Vor allem aber wollte Christus die Würde des Apostelstandes geltend machen. Die Menschen, die in erster Linie zur Predigt des Evangeliums bestimmt waren, sollten - das war nur billig - auch ein einzigartiges Ansehen genießen. Wenn aber Christus damals den Aposteln durch seinen Anhauch den Geist verlieh, sind dann nicht die später folgende Ausgießung des Heiligen Geistes überflüssig? Ich antworte: An der vorliegenden Stelle wird den Aposteln der Geist in der Weise gegeben, daß sie nur gerade durch seine Gnade berührt, nicht aber mit seiner vollen Kraft erfüllt wurden. Gänzlich erneuert wurden sie erst, als der Geist in Gestalt feuriger Zungen sichtbar wurde, die sich auf sie setzten. In der Tat macht er sie nicht in dem Sinne zu Verkündern des Evangeliums, daß er sie sofort aussendet, damit sie seine Werke beginnen; vielmehr befiehlt er ihnen, ruhig zu sein, wie wir an anderer Stelle (Lk. 24,49) lesen. Und wenn wir alles recht bedenken, dann ist es eigentlich gar nicht so, daß er sie augenblicklich mit den nötigen Gaben ausstattet. Vielmehr bestimmt er sie für die Zukunft zu Werkzeugen seines Geistes. Darum ist dieser Anhauch im wesentlichen jener so oft verheißenen, herrlichen Ausgießung des Geistes zuzurechnen. Ferner hätte Christus auch gern durch verborgene Eingebung den Jüngern seine Gnade verleihen können. Weil er sie aber stärken wollte, mochte er nicht auf den sicht­baren Anhauch verzichten. Dieses Zeichen aber wählte Christus darum, weil die Schrift häufig Geist und Wind vergleicht. Von diesem Vergleich habe ich oben im dritten Kapitel kurz gesprochen. Doch beachte der Leser, daß sich mit dem äußerlichen, sichtbaren Bild das Wort verbindet. Daraus ziehen nämlich auch die Sakramente ihre Kraft. Das ist nicht so gemeint, als sei die Wirksamkeit des Geistes in die Stimme eingeschlossen, die ans Ohr schallt, sondern vom Zeugnis des Wortes hängt die Frucht alles dessen ab, was die Gläubigen in den Sakramen­ten empfangen. Christus blies die Apostel an. Diese empfangen nicht nur den Hauch, sondern auch den Geist. Warum? Nur darum, weil Christus ihnen den verheißt. Ähnlich ziehen wir in der Taufe Christus an, werden wir durch sein Blut rein gewaschen und wird unser alter Mensch gekreuzigt, damit Gottes Gerechtigkeit in uns herrsche. Im heiligen Mahl werden wir geistlich durch Christi Fleisch und Blut gespeist. Woher sonst kommt eine solche Kraft, wenn nicht aus der Verheißung Christi? Er wirkt und leistet durch seinen Geist, was er durch sein Wort kundtut. Seien wir uns also darüber klar: alle Sakramente, die die Menschen sich ausgedacht haben, sind reiner Hohn oder abgeschmackter Spott; denn die Wahrheit beruht nie auf den Zeichen; das Wort des Herrn muß gegenwärtig sein. Treibt man aber mit Heiligem solchen Spott, so ist das in jedem Fall eine ruchlose Schmähung Gottes und zieht das Verderben der Seele nach sich. Christus hat mit den Aposteln nicht gesprochen, um ein für alle Zeiten gültiges Sakrament einzusetzen. Vielmehr wollte er ein für allemal kundtun, was wir kürzlich sagten: daß der Geist von ihm allein ausgehe. Außerdem will er zeigen, nie erlege er seinen Dienern eine Pflicht auf, ohne ihnen zugleich die dazu nötigen Kräfte und Fähigkeiten zu verleihen.
V. 23. „Welchen ihr die Sünden erlasset ...“ Ohne Zweifel hat der Herr hier das ganze Evangelium zusammengefaßt. Die Macht nämlich, Sünden zu vergeben, ist nicht vom Lehramt zu trennen; vielmehr ist sie durch einen festen Zusammenhang mit ihm verbunden. Kurz zuvor hatte Christus gesagt: „Wie mich der lebendige Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Dann schob er lediglich ein, er gebe ihnen „den Heiligen Geist“. Das war nötig, um sie davor zu warnen, etwas von sich aus zu tun. Jetzt aber erklärt er den Zweck jener Aussendung. Das Ziel der Verkündigung des Evangeliums ist also, die Menschen mit Gott zu ver­söhnen, wie es durch die bedingungslose Vergebung der Sünden geschieht. So lehrt auch Paulus (2. Kor. 5,18), als er das Evangelium als „Amt der Versöh­nung" bezeichnet. Das Evangelium enthält zwar noch vieles andere; das Wich­tigste aber ist, daß Gott die Menschen wieder in seine Gnade aufnimmt, indem er ihnen ihre Sünden nicht anrechnet. Wollen wir uns darum als treue Diener des Evangeliums zeigen, so müssen wir vor allem auf die Sündenvergebung achten, denn das Evangelium unterscheidet sich von der heidnischen Philosophie vor allem dadurch, daß es das Heil der Menschen auf die bedingungslose Vergebung der Sünden gründet. Daraus fließen dann nämlich die anderen Wohltaten Got­tes: daß er uns durch seinen Geist erleuchtet und von neuem geboren werden läßt; daß er uns wieder nach seinem Bilde gestaltet; und daß er uns mit unbezwinglichem Mut gegen die Welt und gegen den Satan wappnet. Deshalb hat die ganze Lehre der Frömmigkeit und das geistliche Haus der Kirche dies zur Grund­lage: Gott macht uns von allen Sünden frei und nimmt uns, ohne eine Bedingung zu stellen, als seine Kinder an. Wir sollen recht verstehen, in welchem Sinne Christus den Aposteln den Auftrag gibt, „Sünden zu erlassen“. Keineswegs über­trägt er damit auf sie, was nur ihm zukommt. Ganz allein er hat das Vorrecht, Sünden zu vergeben. Diese ihm selbst zustehende Ehre weist er den Jüngern nicht zu. Ihnen gebietet er vielmehr, in seinem Namen die Vergebung der Sünden zu bezeugen, um dadurch die Menschen mit Gott zu versöhnen. Genaugenom­men ist er allein es, der durch seine Apostel Sünden vergibt. Trotzdem könnte man fragen: Wenn er sie nur zu Zeugen oder Herolden seiner Wohltat macht, warum hebt er ihre Macht dann mit solchem Nachdruck hervor? Ich antworte: Das sollte zur Festigung unseres Glaubens dienen. Nichts ist für uns von größerer Bedeutung, als wenn wir ganz sicher sein dürfen: Gott denkt nicht mehr an unsere Sünden. Zacharias nennt das (Luk. 1,77) „Erkenntnis des Heils". Um diese Erkenntnis zu wecken, nimmt Gott das Zeugnis von Menschen zu Hilfe. Nie­mals wird darum das Gewissen Ruhe finden, wenn es nicht in diesen Menschen Gott selbst reden hört. Deshalb sagt Paulus (2. Kor. 5,20): Als beschwöre euch Christus durch uns, so ermahnen wir euch: Laßt euch versöhnen mit Gott! Jetzt sehen wir, warum Christus den Dienst, den er den Aposteln auferlegt, mit so erhabenen Worten verherrlicht: die Gläubigen sollen ganz sicher sein, alles sei gültig, was sie von der Vergebung der Sünden hören; sie sollen die Versöhnung, deren Angebot sie aus Menschenmund vernehmen, nicht geringer schätzen, als strecke Gott selbst ihnen aus dem Himmel die Hand entgegen. Die schönste Frucht dieser Lehre aber erntet Tag für Tag die Kirche, wenn sie sieht, daß ihre Hirten von Gott zu Bürgen des ewigen Heils eingesetzt sind und daß man die Vergebung der Sünden nicht in weiter Ferne zu suchen braucht, weil sie bei Menschen zu haben ist. Doch dürfen wir diesen unvergleichlichen Schatz nicht etwa darum geringschätzen, weil er nur in irdenen Gefäßen dargeboten wird. Vielmehr haben wir Grund, Gott zu danken: hat er die Menschen doch der hohen Ehre gewürdigt, die Vergebung der Sünden kundtun und damit in seinem und seines Sohnes Namen handeln zu dürfen.
„Welchen ihr sie behaltet ...“ Diesen zweiten Satz fügt Christus hinzu, um die Verächter des Evangeliums zu schrecken. Sie sollen wissen, ihr Hochmut bleibe nicht ohne Strafe. Einerseits wird also den Aposteln die Botschaft vom Heil und vom ewigen Leben aufgetragen, andererseits sollten sie alle Gottlosen strafen, die das ihnen angebotene Heil verschmähen, wie Paulus (2. Kor. 10,6) lehrt. An zweiter Stelle steht dieser Auftrag darum, weil zunächst ihre wahre und eigentliche Aufgabe, nämlich die Predigt des Evangeliums, sichtbar gemacht werden mußte. Rechter Sinn des Evangeliums ist, daß wir mit Gott versöhnt werden. Daß die Ungläubigen dem ewigen Tode verfallen, ist nur etwas Zu­sätzliches. Wo Paulus darum, wie eben erwähnt, den Ungläubigen ihre Bestra­fung ankündigt, läßt er sofort die Worte folgen: nachdem euer Gehorsam er­füllt ist. Damit deutet er an: die eigentliche Absicht des Evangeliums ist, alle zum Heil einzuladen; daß es einige ins Verderben stürzt, kommt lediglich hinzu. Trotzdem ist zu beachten: wer immer die Stimme des Evangeliums hört, ohne die dort verheißene Sündenvergebung anzunehmen, wird schuldig und zieht sich die ewige Verdammnis zu. Denn wie das Evangelium für Kinder Gottes ein Duft ist, der lebendig macht, so ist es für die, die zugrunde gehen, ein Duft des Todes zum Tode (2. Kor. 2,16). Das soll nicht heißen, die Predigt des Evange­liums sei nötig, um die Bösen zu verdammen. Wir alle sind ja von Natur ver­worfen, und ganz abgesehen von dem ererbten Fluch sorgt schon ein jeder selbst dafür, daß es an Gründen nicht fehlt, die seinen Tod rechtfertigen würden. Leute jedoch, die mit Wissen und Willen Gottes Sohn verschmähen, verdienen eine noch viel schwerere Strafe.

24 Thomas aber, der Zwölfe einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. 25 Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen sehe die Nägelmale und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, kann ich`s nicht glauben. 26 Und über acht Tage waren abermals seine Jünger drinnen und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Türen verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch! 27 Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und siehe meine Hände und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! 28 Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! 29 Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du. Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben!

V. 24. „Thomas aber ...“ Wenn hier vom Unglauben des Thomas berichtet wird, so soll das den Glauben der Frommen stärken. Daß er nur langsam und schwer zum Glauben kommt, ist noch nicht das Schlimmste. Aber er ist auch noch trotzig. Seine Verhärtung ließ es dahin kommen, daß Christus sich noch einmal in derselben Gestalt sehen und berühren ließ. So ist nicht nur ihm, sondern auch uns Christi Auferstehung ein weiteres Mal bezeugt worden. Im übrigen kann man am Starrsinn des Thomas ablesen, welche Bosheit fast allen Menschen an­geboren ist: wenn ihnen der Zugang zum Glauben geöffnet ist, stehen sie sich selbst im Wege.
V. 25. „Da sagten die andern... Er aber sprach ... Wenn ich nicht ...“ Hier wird die Quelle genannt, aus der diese Bosheit fließt: jeder will aus sich selber weise sein und läßt sich zu sehr von seinem eigenen Gutdünken leiten. Diese Worte haben nicht das geringste mit dem Glauben zu tun, sondern in ihnen spricht sich sozusagen ein empfindungsmäßiges Urteil aus. So ergeht es allen, die sich selbst verfallen sind: sie lassen dem Wort Gottes keinen Raum. Es ist gleich­gültig, ob man Mal, „Form" oder „Spur" der Nägel liest. Es ist ja denkbar, daß die Abschreiber die entsprechenden griechischen Worte vertauscht haben. Darum sei die Wahl zwischen den verschiedenen Möglichkeiten dem Leser freigestellt.
V. 26. „Und über acht Tage ...“ Von Christi Eintritt und Gruß sprachen wir schon. Jetzt gewährt Christus dem Thomas also ohne weiteres seine unberechtigte Bitte, ja, er lädt ihn selbst ein, seine Hände zu berühren und die Wunde in seiner Seite zu betasten. Daraus können wir entnehmen, wie sehr er für den Glauben des Thomas und zugleich für den unsern sorgte. Nicht nur an Thomas nämlich, sondern auch an uns dachte er, und an nichts wollte er es fehlen lassen, was un­sern Glauben stärken könnte. Sehr merkwürdig berührt der Starrsinn des Tho­mas: weil der einfache Anblick Christi ihm noch nicht genug war, sollten ihm auch die Hände noch dessen Auferstehung bezeugen. Er bewies also nicht nur Trotz; darüber hinaus war er hochmütig und schmähte Christus. Als er Christus vor sich sah, hätte ihn wenigstens die Scham überwältigen, hätte er erschrecken müssen. Aber dreist und unbekümmert legt er die Hand in die Wunde, als sei er sich keiner Schuld bewußt. Wie man nämlich aus den Worten des Evangelisten ohne weiteres entnehmen kann, kam Thomas erst dann wieder zu Verstand, als die Berührung der Wunde ihn überzeugt hatte. So ergeht es auch uns, wenn wir dem Wort des Herrn nicht die gebührende Ehre erweisen: allmählich, ohne daß wir es merken, beschleicht uns ein niedriger Starrsinn, der Verachtung des göttlichen Wortes mit sich bringt und uns jede Ehrfurcht vor ihm nimmt. Wollen wir darum unseren Mutwillen bezähmen, so muß sich ein jeder vor allem darum bemühen, die Kraft seines Widerstandes nicht zu überschätzen. Er würde sonst seine Frömmigkeit auslöschen und versperrte sich selbst den Zugang zum Glauben.
V. 28. „Thomas antwortete ... Mein Herr und mein Gott!“ Endlich, wenn auch spät, wacht Thomas auf. Wie einer, der nach einer Ohnmacht wieder zu sich kommt, ruft er voller Bewunderung aus: „Mein Herr und mein Gott!“ Gerade in seiner abgerissenen Kürze spiegelt dieser Ausruf die tiefe Erregung des Thomas wider. Ohne Zweifel ließ ihn die Scham diese Worte hervorstoßen, und er wollte damit seine Trägheit verurteilen. Außerdem zeigt dieser plötzliche Ruf: sein Glaube war zwar sehr geschwächt, aber noch nicht gänzlich erloschen. Denn selbst mit den Händen kann er Christi göttliches Wesen in seiner Seitenwunde nicht fühlen: er entnimmt aus jenen Wundmalen viel mehr, als sie zeigen. Wie sollte man das anders erklären als so, daß er aus dem Schlaf der Vergessenheit plötzlich wieder zu sich kommt? Offenbar ist es also richtig, was ich schon sagte: sein Glaube, der bereits zerstört schien, war tief in seinem Herzen verborgen. Das geschieht mitunter auch vielen anderen: eine Zeitlang werfen sie gleichsam die Gottesfurcht von sich und lassen ihrem Mutwillen freien Lauf, so daß schein­bar gar kein Glaube mehr in ihnen ist; züchtigt Gott sie dann aber mit irgend­einer Rute, so machen sie dem wilden Treiben ihres Fleisches ein Ende und kommen wieder zur Besinnung. Kummer allein genügte sicher nicht, die Fröm­migkeit zu lehren. Wir entnehmen daraus, daß zwar erst die Hindernisse beseitigt sein müssen, dann aber der gute Same aufgeht, der niedergedrückt im Boden lag. Ein deutliches Beispiel dafür lieferte David. Wir sehen nämlich, wie er anfangs seiner Begierde freien Lauf läßt. Jeder mußte da denken, der Glaube sei aus seinem Herzen geschwunden. Aber bald darauf ruft die Mahnung des Propheten ihn ganz plötzlich auf den rechten Weg zurück. Wie man daraus leicht ersehen kann, hatte sich, wenn auch verborgen, ein Funke in seinem Herzen erhalten, der schnell zur Flamme werden sollte. Die Menschen an sich sind ebenso schuldig, als hätten sie sich vom Glauben und der Gnadengabe des Heiligen Geistes völlig losgesagt. Die unermeßliche Güte Gottes jedoch bewahrt die Er­wählten vor solchem Abfall. Darum müssen wir uns ängstlich davor hüten, vom Glauben abzulassen. Trotzdem - daran ist festzuhalten - bewahrt Gott seine Er­wählten auf geheimnisvolle Weise davor, ins Verderben zu stürzen. Durch ein Wunder läßt er in ihren Herzen stets irgendwelche Funken des Glaubens erhalten bleiben. Diese entfacht er später, wenn es ihm gefällt, durch einen neuen Hauch seines Geistes zu heller Flamme. - Übrigens besteht dies Bekenntnis aus zwei Teilen. Thomas bekennt, Christus sei sein „Herr“. Dann geht er noch weiter und nennt ihn „Gott“. Wir wissen, in welchem Sinne die Schrift Christus als „Herrn" bezeichnet: weil er vom Vater als höchster Herrscher eingesetzt ist, unter dessen Herrschaft alles steht, vor dem alle Kräfte sich beugen und der in der Lenkung der Welt des Vaters Stellvertreter ist. So trifft der Titel „Herr“ genau auf ihn zu sofern er der im Fleisch offenbarte Mittler und das Haupt der Kirche ist. Aber nachdem Thomas ihn als Herrn anerkannt hat, schwingt er sich sogleich zu seiner Gottheit empor. Und das aus gutem Grunde: denn zu seiner und des Vaters göttlicher Herrlichkeit wollte Christus uns erheben. Dazu stieg er zu uns herab, hat sich zuerst erniedrigt, dann sich zur Rechten des Vaters gesetzt und die Herr­schaft über Himmel und Erde in die Hand genommen. Damit deshalb unser Glaube zur ewigen Gottheit Christi gelangen kann, müssen wir mit der Erkenntnis beginnen, die näher liegt und leichter zu gewinnen ist. So haben einige Aus­leger mit Recht gesagt, von dem Menschen Christus würden wir zu dem Gott geführt. Schritt für Schritt bewegt sich unser Glaube vorwärts: erst erfaßt er den irdischen Christus, der im Stall geboren und ans Kreuz gehängt wurde; dann geht er zu seiner herrlichen Auferstehung über; von dort gelangt er schließlich zu seinem ewigen Leben und seiner ewigen Macht, in der sich seine göttliche Majestät widerspiegelt. Außerdem müssen wir im Auge behalten: wir können Christus nicht richtig als Herrn erkennen, ohne daß dem alsbald die Erkenntnis seiner Gottheit folgt. Dies Bekenntnis des Thomas muß nun aber zu demjenigen aller Frommen werden. Wir sehen ja, Christus billigt es. Gewiß hätte er es nie zugelassen, daß man dem Vater seine Ehre geraubt und fälschlich auf ihn über­tragen hätte. Die Huldigung des Thomas aber sieht er offenbar als berechtigt an. Deshalb reicht diese eine Stelle vollkommen aus, die unsinnige Lehre des Arius zu widerlegen. An zwei Götter darf man nämlich nicht glauben. Außerdem kommt hier zum Ausdruck, Christus sei Mensch und Gott in einer Person. Er wird ja „Gott und Herr“ zugleich genannt. Mit Nachdruck sagt Thomas: „Mein Herr und mein Gott“. Damit macht er deutlich, daß seine Worte aus lebendigem, ernstem Glauben kommen.
V. 29. „Spricht Jesus zu ihm ... weil du mich gesehen hast ... so glaubst du.“ Nur eines hat Christus an Thomas auszusetzen: er fand sich so langsam zum Glauben bereit, daß er gewaltsam durch die Erfahrung der Sinne dazu genötigt werden mußte. Das aber steht in klarem Widerspruch zum Wesen des Glaubens. Hier wird man vielleicht sogar einwenden, Thomas sei überhaupt nicht zum Glauben gekommen. Denn eine durch Fühlen und Sehen gewonnene Überzeu­gung könne man unmöglich„Glauben nennen. Thomas aber wurde nicht nur durch Fühlen und Sehen veranlaßt zu glauben, Christus sei der Herr. Vielmehr rief er sich, als er erwacht war, die Lehre wieder ins Gedächtnis, die ihm schon fast entschwunden war. Unmöglich kann der Glaube aus bloßer Erfahrung entstehen: nur aus dem Worte Gottes kann er entspringen. Weshalb also rügt Christus den Thomas? Weil er seinem Wort nicht die gebührende Ehre erwies, den Glauben von anderen Sinnen abhängig machte, obwohl er aus dem Hören entsteht und ganz und gar auf das Wort ausgerichtet sein muß.
„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!“ Hier preist Christus den Glau­ben, der sich mit dem einfachen Wort zufriedengibt und vom Fühlen und Den­ken des Fleisches völlig unabhängig ist. Er umschreibt also mit kurzen Worten das Wesen des Glaubens: er gründet sich nicht auf den Anblick dessen, was vor Augen ist, sondern er dringt bis zum Himmel vor und glaubt, was den Sinnen des Menschen verborgen bleibt. Und sicher sollen wir Gott die Ehre erweisen, daß wir es seiner Wahrheit zutrauen, sich selbst Glauben zu verschaffen. Der Glaube schaut zwar auch, doch bleibt sein Blick nicht an der Welt und an irdi­schen Gegenständen haften. Aus diesem Grunde wird der Glaube (Hebr. 11,1) als „Beweis des Unsichtbaren" bezeichnet. Paulus aber stellt ihn (2. Kor. 5,7) dem Schauen gegenüber und deutet damit an, er halte sich nicht dabei auf zu betrachten, was vor Augen ist, noch schaue er sich um nach dem, was man in der Welt sehen kann. Der Glaube hängt vielmehr an Gottes Mund und überwindet im Vertrauen auf Gottes Wort die ganze Welt, um im Himmel seinen Anker auszuwerfen. Es gibt also keinen rechten Glauben, der nicht in Gottes Wort begründet wäre und zu Gottes unsichtbarem Reich emporstiege, so daß er also aller menschlichen Erkenntnis überlegen ist. Hier könnte man einwenden, dieser Ausspruch Christi widerspreche einem andern. Denn Matth. 13, 16 erkläre er, die Augen seien selig, die ihn vor sich sähen. Ich antworte: Christus spricht dort nicht, wie hier, nur vom Anblick seiner leibhaftigen Person, sondern von der Offenbarung, die allen Frommen zuteil wird, seit Christus sich der Welt als ihr Erlöser zeigte, Bei Matthäus vergleich er die Apostel mit den heiligen Königen und Propheten, die unter den dunklen Schatten des mosaischen Gesetzes fest­gehalten waren; jetzt, sagt er, sei das Los der Gläubigen besser: ihnen leuchte ein helleres Licht, ja, ihnen habe sich die volle Wahrheit offenbart, auf die jene Vorbilder hinwiesen. Viele Gottlose sahen Christus damals mit den Augen des Fleisches und waren darum doch um nichts glücklicher. Wir aber, die wir Christus nie gesehen haben, genießen die Seligkeit, von der Christus hier spricht. Selig also werden die Augen genannt, die in geistlicher Weise das an ihm sehen, was himmlisch und göttlich ist. Denn heute sehen wir Christus ebenso deutlich im Evangelium, als stünde er leibhaftig vor uns. In diesem Sinne sagt Paulus (Gal. 3,1), Christus werde vor unseren Augen gekreuzigt. Wollen wir darum in Christus sehen, was uns selig macht, so wollen wir glauben lernen, ohne zu sehen. Zu diesen Worten Christi paßt, was wir 1. Petr. 1,8 lesen. Dort werden die Gläubigen gelobt, die Christus nicht gesehen haben und doch lieben und die in unaussprechlicher Freude frohlocken, obwohl sie ihn nicht vor Augen haben. Christus hat nichts weniger gewollt, als den Glauben menschlichen Erfindungen auszuliefern. Wenn er die Grenzen, die durch das Wort gezogen sind, auch nur um Haaresbreite überschreitet, hört er sofort auf, Glaube zu sein. Wenn man alles glauben soll, was man nicht sieht, dann werden wir alle Wunder glauben müssen, die Menschen sich ausdenken, und alle Märchen, die sie erzählen. Soll dieser Ausspruch Christi also seine Gültigkeit behalten, so ist vor allem erforder­lich, jede zweifelhafte Behauptung aus Gottes Wort zu beweisen.

30 Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor den Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. 31 Diese aber sind geschrieben, daß ihr glaubet, Jesus sei der Christus, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen.


V. 30. „Noch viele andere Zeichen tat Jesus ...“ Hätte Johannes die Worte „viele“ nicht hinzugesetzt, so hätten seine Leser glauben müssen, er habe keines der von Christus vollbrachten Wunder ausgelassen und sie hätten einen lückenlosen Bericht vor sich. Zunächst einmal erklärt Johannes also, er habe nur einige von vielen Wundern beschrieben. Das soll nicht heißen, andere hätten es nicht verdient gehabt, mitgeteilt zu werden. Aber die hier berichteten genügten schon, um Glauben zu wecken. Daraus folgt jedoch nicht, Christus habe jene anderen umsonst getan. Für die Menschen damals hatten sie alle ihren Nutzen. - Ein zweites kommt hinzu: wir Heutigen wissen nicht, welcher Art diese anderen Wunder waren; das gibt uns aber nicht das geringste Recht, ihnen gar keine Bedeutung beizumessen. Denn sie geben uns die Gewißheit, das Evangelium sei durch zahlreiche Wunder besiegelt.
V. 31. „Diese aber sind geschrieben, daß ihr glaubet ...“ Damit gibt er zu ver­stehen, wir müßten mit dem zufrieden sein, was er geschrieben habe. Das näm­lich reiche vollkommen aus, unseren Glauben zu stärken. So wollte er der Neu­gier der Leute entgegentreten, die unersättlich und allzu unbeherrscht ist. Außer­dem war Johannes wohlbekannt, was die anderen Evangelisten geschrieben hat­ten. Nun lag ihm aber nichts ferner, als ihre Schriften zu verdrängen. Zweifellos sollte man also neben seiner Schrift auch die ihren lesen. Trotzdem scheint es unpassend, den Glauben auf Wunder zu gründen, wo er doch ganz und gar auf Gottes Verheißungen und sein Wort zurückgeführt werden muß. Tch meine dazu: die Wunder sind für Johannes lediglich Stützen für den Glauben. Sie dienen nämlich dazu, die Menschen darauf vorzubereiten, dem Worte Gottes größere Ehrerbietung zu bezeigen. Wie matt und schwach ist doch unsere Auf­merksamkeit, wenn sie nicht auf andere Weise gereizt wird! Aber die Wunder haben auch dann noch ihre Bedeutung, wenn die Menschen die Lehre schon ange­nommen haben. Denn sie gewinnt nicht wenig an Gewicht, wenn Gott seine mächtige Hand aus dem Himmel ausstreckt, um sie zu stützen. So heißt es auch Markus 16, 20: als die Apostel gelehrt hätten, habe Gott mitgewirkt und ihre Rede durch Wunderzeichen bekräftigt, die er ihr folgen ließ. Strenggenommen also ruht der Glaube auf dem Wort und schaut nur auf das Wort. Trotzdem wird er durch Wunder wohl gestärkt, sofern sie nur auf das Wort bezogen werden und dem Glauben die Richtung auf das Wort geben.
„Jesus sei der Christus ...“ Mit „Christus“ ist der gemeint, der im Gesetz und den Propheten verheißen worden war: der Mittler zwischen Gott und den Menschen, der höchste Gesandte des Vaters, der einzige Erneuerer der Welt und Urheber der vollkommenen Seligkeit. Denn Johannes hat keinen nichtssagenden Titel gewählt, Gottes Sohn damit zu schmücken; im Namen „Christus“ hat er alles zu­sammengefaßt, was die Propheten von ihm aussagen. Deshalb müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie er dort beschrieben wird. Dadurch wird nur noch deutlicher, was eben schon gesagt wurde: der Glaube hafte nicht an Wundern, sondern richte sich unmittelbar auf das Wort. Dies besagt: durch die Wunder sei bewiesen worden, was einst die Propheten durchs Wort gelehrt hätten. Und wirklich sehen wir die Evangelisten selbst nicht einfach bei der Darstellung der Wunder stehenbleiben. Vielmehr legen sie das Hauptgewicht auf die Verkündigung, weil die Wunder, für sich genommen, nur wirres Staunen hervorrufen würden. Dennoch ist der Sinn dieser Worte folgender: dies sei geschrieben, damit wir glauben - soweit Wunderzeichen dem Glauben überhaupt förderlich sein konnten. – „Sohn Gottes“ setzt er hinzu. Von gewöhnlichen Menschen wäre keiner imstande gewesen, derartiges zu vollbringen: uns einen gnädigen Gott zu geben, die Sünden der Welt zu sühnen, den Tod zunichte zu machen, Satans Reich zu zerstören, uns wahre Gerechtigkeit und Seligkeit zu bringen. Wenn übrigens die Bezeichnung „Sohn“ nur auf Christus zutrifft, so ist er folglich kein angenommener, sondern natürlicher Sohn. Darum behauptet der Evangelist die ewige Gottheit Christi, wenn er ihm diesen Namen beilegt. Und wirklich müßte jeder auf Grund der klaren Bekundungen, die das Evangelium liefert, aner­kennen, Christus sei Gott. Wer es nicht tut, ist blind, obwohl helles Licht ihn umstrahlt, und verdient es darum auch nicht, Sonne und Erde zu sehen.
„Daß ihr durch den Glauben das ewige Leben habet in seinem Namen.“ Hier ist nun noch von der Wirkung des Glaubens die Rede. Auch das soll die Leute davon abhalten, mehr wissen zu wollen, als genug ist, um das Leben zu erlangen. Denn welche Unverschämtheit wäre es, wenn einer, nicht zufrieden mit dem ewigen Heil, die Grenzen des Himmelreiches überschreiten wollte? Übrigens trägt Johannes hier noch einmal das Hauptstück seiner Lehre vor: Das ewige Leben erlangen wir durch Glauben, weil wir außerhalb Christi tot sind und allein durch seine Gnade uns das Leben wiedergegeben wird. Statt Christus sagt er „der Name Christi“. Der Grund dafür wurde in der Erklärung zu Kap. 1,12 dar­gelegt.

Aus: Otto Weber, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Das Johannesevangelium, 1974, Neukirchener Verlag, S. 473-485.


Achim Detmers
 

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