Sonntagsrede
Mein Sprachschatz kennt das Sonntagskind, mit aufwertendem Unterton als Kind des Glücks gepriesen, und den Sonntagsfahrer, mit abwertendem Unterton als Hasardeur der Landstrasse verschrien. Die Sonntagsrede aber kennt er nicht, dafür die Kanzelrede, deren klassischer Tag zwar der Sonntag ist, der aber nicht prinzipiell etwas Abwertendes eignet.
Wie, wenn es denn so wäre, konnte aus der Kanzelrede der Kirche die Sonntagsrede der Presse werden? Gehen denn Journalistinnen und Schreiberlinge sonntags zur Predigt? Kaum. Wissen sie denn, was Homiletik und Rhetorik für die Kunst der Rede bedeuten? Kaum. Ist ihnen denn irgendwann irgendetwas heilig? Kaum. Ich vermute, sie unterstellen der Predigt prinzipiell, wovor Heinrich Heines Wintermärchen ironisch warnt: dass die Herren Verfasser ihr altes Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel, zwar unverdrossen singen, in Wahrheit aber heimlich Wein trinken, während sie öffentlich Wasser predigen. Doch lesen Presseleute wirklich Heine? Kaum. Sie würden sich nämlich wundern, dass die Sonntagsrede dort ein Gassenhauer ist, und nicht etwa vom Pfarrer gesungen, sondern mit wahrem Gefühle und falscher Stimme von einem kleinen Harfenmädchen …
Wie, wenn weder Predigtpraxis noch Heinelyrik bekannt sind, verläuft nun der Weg von der Kanzelrede über das Entsagungslied zur Sonntagsrede? Er schlingert. Unter hundert Predigten mag es zehn missratene geben, unter fünfzig Entsagungsliedern fünf mit Doppelmoral, aber zum abwertenden Unterton der Sonntagsrede kann es nur durch Verleumdung kommen. Ihr liegt der willkürliche Schluss de minore ad maius zugrunde. Weil einige Politiker salbadern wie schlechte Pfarrer, moralisierend reden ohne Folgen, heisse Luft erzeugen, die rasch verfliegt, wird aus der Predigt der einen die Sonntagsrede der anderen. Billig, denn die derart diffamierte Institution wehrt sich nicht mehr. So gewinnen die Hasardeure der Rhetorik zwar, aber flüchtig wie Harfenmädchen und ohne Aussicht auf Glück.MK