'Über Grenzen hinweg vereint'

Beispiel Minden-Magdeburg: Kirchenpartnerschaft zwischen Ost und West


Wallonerkirche Magdeburg © Wikimedia

Ein Überblick

Fast jede evangelische Kirchengemeinde in der DDR war durch eine Partnerschaft mit einer Kirchengemeinde in der Bundesrepublik verbunden. Einige feiern in diesen Jahren ihr 50-jähriges Bestehen. Zum Beispiel in den evangelisch-reformierten Kirchengemeinden Minden und Magdeburg. Eigentlich sind die beiden Gemeinden nur gut 200 Kilometer voneinander entfernt. Doch der „Eiserne Vorhang“ erschwerte das Kennenlernen und Beisammensein. Mit Mut und Fantasie schafften es die Gemeindeglieder, trotzdem über Jahre hinweg ein Miteinander zu entwickeln. Über die scheinbar unüberwindbare Grenze entstanden Freundschaften und festigte sich die Erfahrung: Wir gehören zusammen. Das hat sich auch nach dem Fall der Mauer nicht geändert.

Die Geschichte der Minden-Magdeburger Kirchengemeindepartnerschaft ist voller Spannung und Anekdoten – und ein Lehrstück dafür, wie Christen auch über Grenzen hinweg vereint bleiben.

1966-1969 Wie eine Adressenliste zu Freundschaften führt

1966

Die Trennung Deutschlands in Ost und West ist für viele Menschen eine schmerzvolle Erfahrung. Viele haben das Bedürfnis, etwas über diese Grenze hinweg zu unternehmen. So treten auch die reformierten Kirchengemeinden in Minden und Magdeburg in Aktion. Angefangen hat alles mit Weihnachtspäckchen. Im November 1966 wurden in Minden in einer „Frauenhilfsstunde“ Adressen für Weihnachtspakete an bedürftige Glieder der  Gemeinde in Magdeburg verteilt. Die Frauen legten Briefe mit ein paar Zeilen dazu. Im Weihnachtstrubel gingen die Pakete zur Post. Ob sie ankommen würden, war ungewiss: Die DDR kontrollierte viele Pakete aus dem Westen.

1967

Für manche überraschend kommen bereits im Januar Briefe mit herzlichem Dank zurück – und mit der Bitte, bald wieder zu schreiben. Ein regelmäßiger Briefaustausch beginnt. Die Menschen erfahren, wie es in der jeweiligen Gemeinde zugeht und was die anderen über die politische Situation denken. In den Gruppen der Frauenhilfe werden die Briefe gemeinsam gelesen, über Pastor Wilhelm Kreutz erfahren immer mehr in der Kirchengemeinde etwas über die Gemeinde in Magdeburg. Je mehr Briefehin und her gehen, desto größer wird auf beiden Seiten der Wunsch nach persönlicher Begegnung.

1968

Eine der Magdeburger Brieffreundinnen, Frau Horst, darf als Rentnerin in den Westen reisen. Sie besucht ihre Schwester – und macht einen Abstecher nach Minden in die reformierte Kirchengemeinde. Die Freude über das persönliche Kennenlernen ist groß. In Minden wächst der Wunsch, nach Magdeburg zu reisen.

1970

Frau Mühlbach aus der Mindener Kirchengemeinde besucht Freunde in Erfurt. Allen Verboten zum Trotz wagt sie von dort aus eine Fahrt nach Magdeburg. Am 23. Mai klingelt sie im dortigen Pfarrhaus bei Pastor Werner Kieschnick. Er nimmt den Gast aus dem Westen herzlich auf. Gemeinsam schmieden sie Pläne für ein großes Treffen im Herbst. Da Briefe von der Staatssicherheit mitgelesen werden könnten, vereinbaren sie das Codewort „Tante Marias Geburtstag“. Am 13. Oktober reist eine Gruppe aus Minden im Auto nach Berlin. Am Grenzübergang verläuft alles reibungslos.

Der trostlose Anblick des Landes hinterlässt jedoch einen beklemmenden Eindruck. Die Gruppe quartiert sich ins „Hotel Reichspost“ ein. Und präpariert sich für ihren mutigen Plan. Natürlich wollen die Besucher Geschenke mitnehmen – doch das ist nicht erlaubt. Sie ziehen sich also mehrere Lagen Kleidung an, um sie so über die Grenze zu schmuggeln. Kaffee, Schokolade, Zigaretten, Apfelsinen werden in Handtaschen verstaut. Am nächsten Tag steigen sie in die S-Bahn. Ziel: der Grenzübergang Friedrichstraße. Eine Stunde dauert die Kontrolle. Für die Geschenke in den Taschen muss Zoll gezahlt werden, die Kleider entdeckt keiner.

In Ostberlin empfangen die Magdeburger sie herzlichst. Gemeinsam gehen sie in die nahe gelegene Französische Kirche, die ihnen mit ihren Nebenräumen für diesen Tag zur Verfügung steht. Sie essen, trinken, erzählen stundenlang – und knüpfen Freundschaften.

1970-1989

Nach diesem ersten Treffen kann nichts mehr die Partnerschaft der Gemeinden aufhalten. Sie verabreden sich jährlich zu zwei Treffen in der reformierten Gemeinde Köpenick im Ostteil Berlins. Als die DDR die Reiseauflagen für Westler lockert, häufen sich die Reisen von Mindenern nach Magdeburg. Freundschaften werden tiefer. Menschen der Partnergemeinde werden Taufpaten.

Von vielen Erlebnissen erzählt man sich noch heute. Zum Beispiel von dem jungen Mann, der bei der Volksarmee war; ihm waren die Treffen so wichtig, dass er sich nachts aus der Kaserne schlich, seine Kleidung wechselte und über einen Kellerschacht ins Gebäude einstieg.

Für die regulären Treffen wählen die Gemeinden jeweils ein Thema aus, über das sie aus Ost- und West-Sicht sprechen. Es geht um Politik und Gesellschaft, häufig auch um Glaubensfragen. Trotz der Verwurzelung beider Gemeinden in der reformierten Tradition gibt es zu einigen Themen auch unterschiedliche Ansichten.

Die Teilnehmer empfinden die Treffen als Bereicherung. Für einige bilden sie den einzigen Kontakt über die Grenze hinweg. Nicht jeder hat Verwandte im anderen Teil Deutschlands und bekommt etwas aus erster Hand von der anderen Seite der Mauer mit. Der partnergemeindliche Kontakt förderte das gegenseitige Verständnis. Um Geschenke in den Osten zu schmuggeln, lassen sich die Mindener einiges einfallen. Die Kontrollen sind aufregend. Sogar spezielle Wünsche aus dem Osten werden erfüllt. So möchte ein älterer Herr „Klosterfrau Melissengeist“ gegen seine Probleme mit der Prostata. Also stopft sich ein 18-jähriger Mindener ein halbes Dutzend Flaschen in seine Hosen. Der Grenzbeamte findet sie und ist verwundert. Als der junge Mann erklärt, die seien für seinen kranken Onkel, lässt man ihn passieren.

1989

Im Januar ist die Stimmung auch in der Magdeburger Gemeinde auf einem Tiefpunkt. Die Hoffnungen auf gesellschaftliche Fortschritte verblassen. Der Kreiskirchenrat, dem die reformierten Christen angehören, beschließt das Thema „Hoffnung setzen gegen die Resignation“. Menschen versuchen, der DDR den Rücken zu kehren. Auch in der Kirchengemeinde ist das zu spüren. Vom September an überschlagen sich die Ereignisse.

Auf der Bundessynode werden erstmals die politischen Missstände deutlich beim Namen genannt. Viele reformierte Christen nehmen an den „Gebeten für gesellschaftliche Erneuerung“ statt, die nun regelmäßig im Magdeburger Dom stattfinden. Die Staatsmacht reagiert nervös, auch in der Kirche besteht Sorge. Am 23. Oktober findet das erste Friedensgebet im Dom statt. Unter den tausenden Teilnehmern sind auch die Reformierten. Nach dem Glockengeläut die Begrüßung: „Wach auf, der du schläfst, dann wird dich Christus erleuchten und von den Toten erwecken.“ Menschen „aus allen Berufsschichten,

Fromme und Nichtfromme, viele, die wohl kaum schon einmal im Dom gewesen waren“, standen hier, schreibt später Gemeindemitglied Margot Dehne – „die anschließende Demonstration nach einer Schweigeminute von den ungefähr 50.000 Menschen verlief dann ganz harmonisch und gewaltlos. Eine Revolution – aus Gebet und Vernunft erwachsen.“ Aus der Ferne nehmen die Mindener Reformierten gebannt Anteil an den Geschehnissen der „Friedlichen Revolution“. Am 9. November, dem Tag des Mauerfalls, ist Gemeindeglied Margot Dehne als Ost-Delegierte zu Gast bei der EKD-Synode in Bad Krotzingen. „Als im Schlussgottesdienst nur kurz erwähnt wurde ‚Die Grenzen sind geöffnet‘, ergriff mich das sehr tief. Ich wusste auf einmal: Jahrelang hatte ich das Gefühl mehr oder weniger verdrängt, in Einsperrung zu leben, weil man damit nicht täglich leben kann.“

Schon bald findet das erste reguläre Kirchenpartnerschaftstreffen statt. Das ist neu: Nun wird niemand mehr an der Grenze kontrolliert. Alle können ungehindert nach Köpenick fahren. Grund zu feiern.

1989 bis heute

Viel hat sich nicht verändert. Noch immer gibt es Treffen an einem dritten Ort. Inzwischen nicht mehr unbedingt in Berlin, sondern auf halbem Wege zwischen beiden Gemeinden wie zum Beispiel im Harz. Die Partnerschaft wird von den neuen Geistlichen beider Gemeinden Dorothea Schulze-Ngomane und Bernhard Speller, die die Anfänge nicht miterlebt haben, weiterhin und mit neuen Ideen gefördert. Viele Gemeindeglieder treffen sich auch privat. Gemeinsame Freizeiten werden organisiert. Anlässlich des 500. Jubiläums von Johannes Calvin, dem „Kirchenvater“ der reformierten Christen, unternehmen Mindener und Magdeburger eine Fahrt nach Genf.

2010, zur Feier des vierzigjährigen Bestehens der Partnerschaft, geht es noch mal zurück in die Gemeinde Berlin Köpenick, wo alle gemeinsam im Gemeindehaus schlafen können und zusammen von den Pastoren der Gottesdienst in der Köpenicker Kirche organisiert wird. Es wird an alte Zeiten erinnert und die Magdeburger überreichen den Mindenern ein „Ostpaket“ mit Waren aus den neuen Bundesländern.

Auch wenn das Interesse der Jüngeren an der Partnerschaft nicht mehr so stark ist wie in der vorherigen Generation: Sie bleibt bestehen, und zwar nicht nur aufgrund der Nostalgie der Älteren. Es finden sich auch neue Themen. Viele Partnerschaften aus dieser Zeit haben sich nach dem Fall der Mauer allmählich aufgelöst. Die Notwendigkeit, einen Kontakt zur anderen Seite Deutschlands aufrechtzuerhalten, entfiel und man plante keine Treffen mehr. In einzelnen Gemeinden gab es sogar spezielle letzte Treffen zum Abschluss der Partnerschaft. Als das Thema auch bei einem Treffen der Magdeburger-Mindener Partnerschaft aufkommt, steht für sie fest: „Jetzt aber noch nicht!“. Stattdessen gibt es erste Planungen für die Feier zum 50-jährigen Bestehen der Partnerschaft im Jahr 2020.


Zusammenstellung: Meike Dobschall / Uwe Birnstein mit Bernhard Speller, Pfarrer der Mindener evangelisch-reformierten Petrikirchengemeinde (erstveröffentlicht auf ekd.de)