Interview mit Jürgen Kaiser und Senta Reisenbüchler
Immer mehr Gemeinden fusionieren. Wie können Reformierte ihr Profil bewahren? Im Vorfeld zur Hauptversammlung des Reformierten Bundes 2024 (Thema: "Reformierte Identität") sprachen wir mit Jürgen Kaiser und Senta Reisenbüchler, beide Pfarrer der Französischen Kirche zu Berlin.
Herr Kaiser, Frau Reisenbüchler, was beschäftigt Sie gerade in Ihrer Gemeinde?
Kaiser: Gerade befinden wir uns in einem Fusionsprozess mit Potsdam. Die Gemeinde dort ist inzwischen leider so klein, dass sie keine volle Pfarrstelle mehr bekommt. Auch die französischsprachige Gemeinde, die wir vor 30 Jahren bei uns aufgenommen haben, wollen wir voll integrieren. Das möchten wir bis voraussichtlich 2025 formalisieren. Dieser Prozess ist heikel. Aber wir erleben die Zusammenarbeit als sehr kooperativ.
Reisenbüchler: Als neue Pfarrerin beschäftigen mich neben der Fusion auch das neue Team das bei uns gerade entsteht. Mit neuen Menschen. Reformprozesse sind zwar schwierig. Aber es hilft, sich umzusehen und die Erfahrungen anderer Gemeinden zu betrachten.
Wie sind die reformierten Gemeinden in Berlin und Brandenburg miteinander vernetzt?
Kaiser: Die Zusammenarbeit ist vielfältig. Da ist zum Beispiel der Austausch über regelmäßige Pfarrkonvente. Die Reformierten bilden einen reformierten Kirchenkreis. Diese Treffen finden oft in einem eher kleinen Rahmen statt. An der Kreissynode nehmen kaum mehr als 20 Leute Teil. Die Gesichter wechseln oft. In unserer Gemeinde erleben wir momentan zum Beispiel eine sehr hohe personelle Fluktuation.
Wie kommt das?
Kaiser: Einige Mitarbeitende gehen in den Ruhestand, andere merken, dass es doch nicht die richtige Stelle für sie ist. Der Arbeitsmarkt ist zur Zeit sehr fluide.
Reisenbüchler: Nach der Ausbildung wollen viele lieber Funktionspfarrstellen als den klassischen Pfarrdienst. Das hängt teilweise zusammen mit den schwierigen Bedingungen in der Gemeindearbeit. Bei uns Reformierten kommt erschwerend hinzu dass wir den erforderlichen Reformen und Strukturen hinterherhinken.
Die Hauptversammlung des Reformierten Bundes beschäftigt sich in diesem Jahr mit dem Thema „Reformierte Identität“. Was macht für Sie „Reformiertsein“ persönlich aus?
Reisenbüchler: Das kann ich leider nur in Abgrenzung erklären. Ich persönlich komme aus keinem christlichen Haushalt. Verschiedene Freikirchen haben mich in den Zwanzigern geprägt, erst vor ein paar Jahren habe ich das Reformierte für mich entdeckt. Für mich war das also eine bewusste Entscheidung. Die Gottesdienstordnung hat mich damals angesprochen. Sie hat mir zum Glauben am ehesten Zugang gewährt. Theologisch gefiel an den Reformierten mir die Bedeutung der Bekenntnisschriften. Diese Fülle und die immer wieder neuen Texte: das ist für mich Reformiertsein.
Kaiser: Auch mir gelingt eine Definition von „Reformiertsein“ nur in der Abgrenzung. Gerade das aber sehe ich auch als ein großes Problem. Damit scheint es so, als habe der reformierte Glaube nichts eigenes Substantielles. Das Besondere beschränkt sich für mich zunächst auf den Gottesdienst. Der ist anders als bei den Lutheranern. Hier erleben wir nicht so sehr das Hochkirchliche. Gottesdienste finden auch einmal ohne Talar statt. Laien haben mehr Möglichkeiten, den Gottesdienst zu gestalten. Meiner Meinung nach ist reformierte Identität weniger eine Frage der Bekenntnisse als mehr eine Frage gottesdienstlicher Gestaltung und liturgischer Beheimatung. Dass die Reformierten in ihren Kirchen flachere Hierarchien haben, das sehe ich aber als Mythos. Denn das finden wir auch in den lutherischen Kirchen. Auch die Bekenntnisgeschichte ist für mich nicht wichtig. Ich selbst komme aus der Pfalz. Dort wird reformierte Identität selbstverständlich gelebt, also ohne permanente Abgrenzungsbemühungen, allerdings auch ziemlich unbewusst, d.h. in der Pfalz sind sie selbstverständlich reformiert, ohne es jedoch zu wissen.
Lässt sich reformierte Identität gerade in den unierten Kirchen überhaupt ausreichend sichtbar machen?
Reisenbüchler: Bis vor kurzem war ich Pfarrerin in einer unierten Gemeinde. Ich erinnere mich noch gut, wie nach einem Gottesdienst ein älterer Herr auf mich zukam und mir einen Tipp geben wollte: Sie haben am Anfang und Schluss das Kreuz vergessen, sagt er mir. Da antwortete ich ihm: Ich mach das bewusst nicht. Weil es so reformierte Tradition ist. Die Leute finden das spannend. Sie sehen: Aha, es gibt noch andere evangelische Formen.
Kaiser: Die EKBO erlebe ich da als unkompliziert: Hier sind die Gemeinden entweder lutherisch oder reformiert. Weil die Reformierten hier eine kleine Minderheit sind, die sich überwiegend in Personalgemeinden organisiert, wissen die Mitglieder, dass sie reformiert sind. In unserer Gemeinde kommen allerdings zu „reformiert“ noch weitere identitätsbildende Begriffe hinzu: französisch und hugenottisch. Das verwirrt viele Besucher. Sie denken, unsere Gemeindemitglieder seien französisch. Das müssen wir dann erst einmal erklären.
Was unterscheidet die Französisch-Reformierten von anderen Reformierten?
Reisenbüchler: Da nehme ich keinen großen Unterschied wahr.
Kaiser: Ich spreche meistens lieber von „hugenottisch“ als „französisch-reformiert“. Mit „hugenottisch“ können die meisten mehr anfangen, als mit „reformiert“. Die Hugenotten gelten als historische Vorzeigeeinwanderer. Das ist für manche wie ein Adelstitel. Denen, die sich vor allem durch das Hugenottische angesprochen fühlen, müssen wir klar machen, dass wir kein Hugenottenverein sind. Manche Mitglieder haben hugenottische Vorfahren. Viele sind aber auch ohne hugenottischen Hintergrund Mitglied.
Stichwort Kirchenaustritte: Wie macht sich das bemerkbar? Wie gehen Sie damit um?
Kaiser: Bei uns gibt es nicht so viele Austritte. Mehr Wegzüge oder Umgemeindungen in die Ortsgemeinden.
Reisenbüchler: Wir haben tolle und engagierte Menschen im Ehrenamt. Viele werden uns auch die kommenden Jahre erhalten bleiben. Wir müssen aber auch perspektivisch denken: Wer kommt nach?
Wie können Menschen wieder mehr Zugang zu den reformierten Kirchen finden?
Reisenbüchler: Der Erstzugang ist etwas, womit wir uns schwer tun. Viele Menschen wissen nicht, was es jenseits von Kreuz und Maria gibt. Wir müssen deshalb Begegnungen aufbauen – und zwar solche, bei denen keinen Exklusionskriterien greifen. Auf Menschen, die nicht christlich sind, sind wir nicht wirklich vorbereitet. Als ich zum Beispiel anfing, Theologie zu studieren, musste ich mich erst einmal in die Bekenntnisschriften einfinden, die Konfession erst kennenlernen. Damit stand ich oft alleine da. Was macht denn die hier? So fühlte sich das oft an. Für mich war das Studium in den ersten Semestern deshalb eine Fremdheitserfahrung.
Kaiser: Die parochiale Organisation der Kirche setzt volkskirchliche Gegebenheiten voraus: Man lässt sein Kind taufen. Dann kommt es in den evangelischen Religionsunterricht, später dann der Konfirmationsunterricht. In unserer heutigen Gesellschaft sind die Bedingungen und Bedürfnisse der Menschen aber anders. Im großstädtischen Umfeld können wir mit einem alternativen und profilierten Angebot attraktiv sein.
Die veröffentlichten Ergebnisse der ForuM-Studie sorgten in den evangelischen Kirchen für Aufruhr: Kamen Gemeindemitglieder danach auf Sie zu?
Kaiser: Bei uns erlebte ich überraschendes Schweigen.
Reisenbüchler: Aber das ist beispielhaft dafür, wir wir nur mit uns beschäftigt sind. Da ist diese stille Hoffnung, dass hoffentlich niemand auf uns zukommt. In den Gemeinden weht noch ein anderer Geist. Viele in meiner Generation wollen das ändern: sensibler sein, zuhören, Umgangsformen ändern. Aber vor uns liegt immer noch ein hoher Berg.
Über 'Jazz für ein Vertrauen'
'Eine Urverwandtsschaft von Jazz und Kirche'
Redaktion jazz-fuer-ein-vertrauen.de: „Jazz für ein Vertrauen“ - so heißt der Titel des Programms, das mit dem Reformierten Bund in Deutschland und der Reformierten Kirche Zürich am Kirchentag in Dortmund 2019 stattfinden wird. Das Besondere in diesem Jahr: Unter dem Label „Bluechurch“ werden auch zahlreiche Musiker die Veranstaltungen begleiten. Sie, Herr Krieg, gehören zu den Begründern des Labels: Was ist Bluechurch?
Matthias Krieg: Bluechurch ist ein Netzwerk aus Jazz-Musikern, die sich der Kirche verbunden fühlen, und Kirchenverantwortlichen, deren Musiksprache der Jazz ist. Prinzipiell steht das Netzwerk allen Interessierten offen. Mitglieder sollten aber auch selbst aktiv werden, etwa mit Jazz-Gottesdiensten. Aktuell haben wir 174 Mitglieder. Zum Zwingli-Jahr haben wir seit kurzem außerdem auch Huldrych Zwingli als Ehrenmitglied.
jazz-fuer-ein-vertrauen.de: Wie kam es zu der Idee?
Matthias Krieg: Die Idee kam uns im Februar 2017 in Leipzig bei einem Bier. Damals war ich als Referent zum Liturgischen Fachgespräch geladen. An einem der Abende unterhielt ich mich mit Uwe Steinmetz, dem Saxofonisten aus Berlin – und da merkte ich, wie viele Jazzmusiker er kennt, die kirchennah sind. Da dachten wir uns: Wäre doch schade, wenn wir die Leute nicht stärker vernetzen könnten. Also gestalteten wir ein eigenes Label mit Homepage. Fürs Label gab es einen feierlichen Auftakt in Zürich. Als auch die Homepage da war, konnten wir ab Advent 2018 bis Mai 2019 jedes Wochenende einen Jazzgottesdienst in der Zürcher Kunsthalle durchführen. Mit unseren Mitgliedern treffen wir uns regelmäßig. Und einige werden auch beim Kirchentag mitmachen.
jazz-fuer-ein-vertrauen.de: Was verbindet Jazz und Kirche?
Matthias Krieg: Jazz ist eine universale Sprache. Man kann Jazz überall und mit allen Instrumenten machen, wenn man möchte auch auf Kochtöpfen. Jazz hat die Kraft, alle vorhandenen Musiksprachen zu öffnen und zu integrieren. Man kann Jazz zu Folklore oder zu Nationalhymnen machen. Es gibt Jazz über afrikanische Musik aber auch hervorragenden arabischen Jazz. Diesen Anspruch der Universalität hat auch Kirche. Beide verbindet eine Offenheit und Toleranz, die ich sehr schätze. Ähnlichkeiten stecken auch im Prinzip der Improvisation: Wenn Jazzmusiker improvisieren, dann erleben sie etwas, das man in der Theologie „Geistesgegenwart“ nennt. Sie schaffen mit handwerklichen Kenntnissen etwas Einzigartiges. Die Musik, die beim Jazz erklingt, ist deshalb immer wieder neu und wird so nur einmal zu hören sein. In der Theologie wird das Feld des Geistes, die „Pneumatologie“, leider oft vernachlässigt. „Geistesgegenwart“ wird durch perfekte Liturgie oft nahezu wegorganisiert. Dabei steckt allein in den Worten „Komm, Heiliger Geist“ eine Urverwandtsschaft von Jazz und Kirche.
jazz-fuer-ein-vertrauen.de: Wenn Jazz und Geistesgegenwart immer wieder etwas Einzigartiges hervorbringen: Gibt es dann überhaupt noch Regeln?
Matthias Krieg: Natürlich! Weder Musik noch Glaube werden beim Improvisieren neu erfunden, sondern es wird aus ihnen geschöpft: Ein Musiker hat eine grosse Palette von Liedern, Melodien und Figuren im Kopf, die er in seiner Improvisation aufgreift und verarbeitet. Man denke nur an das berühmte „Köln Konzert“ von Keith Jarrett: Der Musiker hat damals den Pausengong als Inspiration genutzt. Ähnlich lässt sich das auch im christlichen Glauben beobachten. Wenn Gott mit Mose am Dornbusch spricht, dann gibt es dafür keinen festen Zeitplan: Treffpunkt um 13 Uhr. Trotzdem ist das Geschehen nicht zufällig. Gott und Mose schöpfen aus dem, was ihnen eigen ist, was sie sich angeeignet haben.
jazz-fuer-ein-vertrauen.de: Beim Kirchentag wird es im Rahmen von „Jazz für ein Vertrauen“ unter anderem mehrere Jazzgottesdienste geben. Wie unterscheiden die sich?
Matthias Krieg: Zunächst einmal natürlich durch die Musik. In den Gottesdiensten spielen wir mit der Musiksprache des Jazz. Da gibt es Niegehörtes, oft aber auch Titel, die sich leicht mitsingen lassen. Wie sich der Gottesdienst weiter entwickelt, lässt sich vorab oft nur schwer sagen. Meist gibt es keine klassisch niedergeschriebene und dann vorgelesene Predigt. Das würde auch zum Konzept der Improvisation nicht passen. Oft geht es nur um einen Textvers aus der Bibel, der in der Predigt dann auch mit persönlichen Erfahrungen ins Gespräch kommt. Ziel ist eine hohe persönliche Präsenz, aber auch, dass der Gottesdienst interaktiv wird und die Besucher zum Mitmachen angeregt werden.
jazz-fuer-ein-vertrauen.de: Wie erleben Sie die Reaktionen der Besucher?
Matthias Krieg: Die Menschen merken meistens nach ein paar Minuten: Da ist etwas anders. Dann haben sie eine ganz andere Wachheit. Dann sehe ich keine sitzenden Rezipienten mehr. Die Leute gehen viel mehr mit. Mir hat zum Beispiel nie jemand gesagt, dass ein Gottesdienst mal zu lang gewesen wäre. Auch die Musik macht vielen Leuten mehr Lust mitzusingen. Wenn jemand wie Chanda Rule Musik macht, dann hat das beinahe etwas Ansteckendes wie in „Sister Act“. Das sind Lieder, da müssen die Besucher keine Schulstimme haben, da muss sich keiner gezwungen fühlen mitzumachen.
jazz-fuer-ein-vertrauen.de: Welche weiteren Programmtipps haben Sie für den Kirchentag?
Matthias Krieg: Im Programm von „Jazz für ein Vertrauen“ kann ich besonders unsere „Themenpodien“ empfehlen. Wir werden mit Experten zu verschiedenen Situationen in der jüngeren Geschichte sprechen, wo Vertrauen eine besondere Rolle spielte. Da geht es unter anderem um Huldrych Zwingli: Er lebte in einer Zeit der Vertrauenskrise, am Ende des Mittelalters. Alte Machtstrukturen, die Positionen von Kaiser und Papst, Armut und Pest, das alles wurde nun hinterfragt. Ich selbst werde in einem anderen Themenpodium über verschiedene Schriftsteller sprechen, die solche Schwellen in der Geschichte erlebten: Theodor Fontane in Berlin etwa, der für das Ineinander von Einheimischen und Fremden steht, oder Gottfried Keller in Zürich, der das Ineinander von städtischen Modernisieren und bodenständigen Konservierern erlebt. Zum Karl-Barth-Jahr 2019 beschäftigen wir uns außerdem damit, wie Barth nach dem Chaos des Ersten Weltkriegs die Kirche revolutioniert hat. Die zentrale Frage bei all unseren Themenpodien lautet: Wie kann man in einer Zeit des Übergangs und der Krise verschiedene Positionen so zusammenbringen, dass alle Vertrauen in die Zukunft finden? In Gesprächen, auch mit den Gästen, werden wir nach Lösungen zu dieser Frage suchen.