Von der (Un)Möglichkeit des Lebens mit der Schuld: Der 9. November im Werk des Schriftstellers Uwe Johnson

von Klaus-Dieter Kaiser, Direktor der Evang. Akademie der Nordkirche, Rostock

Detail der Skulptur Uwe Johnsons von Wieland Förster vor dem John-Brinckman-Gymnasium in Güstrow; foto: MrsMyer/Wikipedia Commons

"Zum Erinnern brauchen wir Jahrestage": Referat anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht am 10. November 2011 in Rostock (Veranstaltung der Jüdischen Gemeinde Rostock und der der Gesellschaft für Christlich-Jüdischen Zusammenarbeit in Mecklenburg-Vorpommern).

1. Uwe Johnson – Jahrestage eines Lebens zwischen Mecklenburg und Berlin, zwischen New York und Sheerness on Sea

Uwe Johnson, obwohl sein Leben gerade einmal 50 Jahre währte, ist sowohl Betroffener als auch Chronist, beteiligter Akteur und reflektierender Künstler, wenn es um die schuldhaften Verstrickungen totalitärer Herrschaft in Deutschland im 20. Jahrhundert geht.

Er wurde 1934 in Cammin in Pommern, dem heutigen Kamièn-Pomorski (Polen) geboren. Im vorpommerischen Anklam wuchs er auf. Sein Vater war ein kleiner Beamter. Nach einem kurzzeitigen Besuch einer der nationalsozialistischen "Deutschen Heimschulen" in Kosten (heute: Koscian) folgte 1945 die Flucht mit den Eltern über Anklam nach Recknitz in Mecklenburg. Sein Vater wird interniert, später in die Ukraine deportiert und 1948 für tot erklärt. Uwe Johnson teilt mit vielen seiner Altersgenossen das Aufwachsen in einer vaterlosen Gesellschaft. Er mit seiner Mutter und seiner Schwester in Güstrow, wo er auch das Abitur ablegte. Ab 1952 begann er ein Studium der Germanistik hier in Rostock.

Der Kampf der SED und FDJ gegen die kirchliche Jugendarbeit (Junge Gemeinde und Evangelische Studentengemeinde) 1952/53 führte auch an der Universität Rostock zu Exmatrikulationen und anderen Strafmaßnahmen. Uwe Johnson, obwohl in keiner Weise besonders kirchlich engagiert, weigerte sich, eine der üblichen verleumdenden und verhetzenden Propagandareden gegen die Junge Gemeinde und die Evangelische Studentengemeinde zu halten.

Dabei war für ihn weniger die Parteinahme für die "widerständige" kirchliche Jugendarbeit ausschlaggebend, als vielmehr ein besonders ausgeprägtes Rechts- bzw. Unrechtsbewusstsein, wen es um die Rechte von Menschen und den Schutz von Gruppen vor Stigmatisierung und Ausgrenzung ging. Für ihn standen in diesem Moment Wahrheit und Verfassungskonformität und damit die Grundlagen der gesamten Gesellschaft auf dem Spiel. Meinungsfreiheit, Gerechtigkeit und formale Rechtsstrukturen, also Rechtsstaatlichkeit gehörten für ihn untrennbar zusammen.

Mit ironischer Schärfe würde er sicher heute die unsägliche und nicht endende Debatte um die Charakterisierung der DDR als Unrechtsstaat kommentieren. Da, wo der Staat die eigene Verfassung permanent und mit voller Absicht bricht und die Menschen keine Möglichkeit haben, rechtlich dagegen vorzugehen, da versteht sich der Staat, also die DDR von selbst als Unrechtsstaat. Jede Diskussion darüber erübrigt sich. Uwe Johnson ging es nie um ideologische Überzeugungen. Es geht ihm wohl aber (in seinem Leben und in seinem literarischen Werk) um den einzelnen Menschen, dessen Not und dessen Schutz vor staatlich organisierten Angriffen. Im Blick auf die Reichspogromnacht werden wir dann noch ausführlich darauf zu sprechen kommen.

Neben der vielstimmigen Detailtreue (Form) und der deutsch-deutschen Geschichte (Inhalt) sind Fragen des Rechtes ein Aspekt, den es hervorzuheben gilt, wenn wir das literarische Werk von Uwe Johnson würdigen. Das Recht des Einzelnen und rechtsstaatliche Freiheit sind Voraussetzung eines verantwortlichen Zusammenlebens.

Uwe Johnson wurde aufgrund dieser gelebten Verfassungstreue vom Studium in Rostock ausgeschlossen (exmatrikuliert) und machte wohl auch erste Erfahrungen mit den Methoden des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Nach dem Kommuniqué zwischen SED und Kirche von Mitte Juni 1953 und der damit verbundenen vorläufigen Entschärfung des offenen Konfliktes um das kirchliche Leben in der DDR konnte er dann zwar weiterstudieren. Der Ausschluss wurde ausgeschlossen, so beschreibt es der spätere Autor dann selbst. Johnson setzte dann ab 1954, aber in Leipzig, wo er eine Diplomarbeit bei Hans Mayer über Ernst Barlach schrieb, sein Germanistikstudium fort. Zu gravierend waren die Verletzungen mit den Verantwortlichen der Rostocker Universität, zu halbherzig das Verhalten mancher Kommilitonen und zu interessant die Lehrer in Leipzig (jedenfalls bis diese dann auch ins Exil in den Westen getrieben wurden sind).

1956/57 fliehen die Mutter und die Schwester von Uwe Johnson nach Westdeutschland. Uwe Johnson beginnt zu schreiben und arbeitet so die Erlebnisse des Kirchenkampfes 1953 als Auseinandersetzung um die Freiheit auf. Sein, die Tradition des klassischen deutschen Bildungsromans aufnehmendes, Erstlingswerk Ingrid Barbendererde - Eine Reifeprüfung wird sowohl von den DDR-Verlagen (wegen des Themas) wie auch von Siegfried Unseld und Peter Suhrkamp (wegen der formalen Gestalt) abgelehnt und erscheint erst posthum.

Das Ende dieser Schülergeschichte, dieser Erzählung vom Weg in die Verantwortung eines Erwachsenen, endet in Westberlin. Die Flucht oder auch das „Exil“ ist der einzige Ausweg aus der zweiten deutschen Diktatur. Schon hier, im zunächst unveröffentlichtem Erstling, kommt das Generalthema seines schriftstellerischen Werkes zum tragen: deutschen Vergangenheit und deutsche Teilung. Heute gehört dieser Roman über die Ereignisse des Jahres 1952/53 und das damit verbundenen Kampfes gegen den Ungeist der SED-Machthaber zum Kanon.

1959 siedelt Uwe Johnson nach Westberlin über, denn nur im Westen (bei Suhrkamp) konnte sein nächster Roman Mutmassungen über Jakob erscheinen. Wer dieses Buch heute, nach Öffnung der Akten des Ministeriums für Staatssicherheit liest, kann nur bewundern, wie weitsichtig und präzise Uwe Johnson als 25jähriger Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts das Herrschaftssystem in der DDR beschrieben hat, ohne dabei in die deutsch-deutschen ideologischen Fallen des kalten Krieges zu geraten. Jakob, der wie viele andere Figuren in diesem Roman dann auch zur Welt, zu den Personen der Jahrestage, Uwe Johnsons Hauptwerk, gehört, muss sich in den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges der zweiten Hälfte der 50er Jahre entscheiden.

Den politischen Hintergrund bietet der Ungarnaufstand von 1956, ähnlich wie vorher der Kirchenkampf und der 17. Juni 1953 und später in den Jahrestagen der Prager Frühling und der Einmarsch der Warschauer Pakt Truppen 1968 in Prag. Immer sind es die gescheiterten Revolutionen, die versuchten Aufbrüche in das Reich der Freiheit, die Uwe Johnson beschäftigen.

Dazu kommt die Mehrdimensionalität und Brüchigkeit der Biographie eines Menschen. In diesem (zweiten) Buch gewinnt dieser Aspekt erstmals bei Johnson Gestalt. Was wir über andere Menschen wissen, bleiben immer nur Mutmaßungen. Auch für den Tod des jungen Jakob, des Vater von Marie Cresspahl, die uns später in den Jahrestagen noch ausführlich begegnen wird, gilt dies: war es ein Unfall, war es ein Auftragsmord der Stasi?

Es folgen für den angehenden Schriftsteller, dessen erster veröffentlichter Roman von ungeheurer Wirkung ist, sehr enge Bekanntschaften mit den Schriftstellern der "Gruppe 47" wie Günter Grass, Alfred Andersch u.a., sowie enge Freundschaften z.B. mit Max Frisch. Uwe Johnson war kein einfacher Zeitgenosse; er machte es den Menschen um ihn herum nicht einfach, manche Laune zu ertragen. Zugleich stellte er enorm hohe Ansprüche an Freundschaften. Vertrauen war Johnson, dies ist eine weitere wichtige Dimension seines Lebens und seines Schaffens. Aber die Kehrseite war eine gesteigerte Angst vor Verrat.

1962 erscheint sein nächster Roman Das dritte Buch über Achim. Auch hier wieder ein Spiel mit der Biografie, zugleich, wie fast immer bei ihm, eine ost-west-deutsche Geschichte. Ein westdeutscher Journalist schreibt über den ostdeutschen Radrennfahrer (Täve Schur).

1966 verlässt Uwe Johnson seine Stadt und geht für zwei Jahre nach New York, um von seiner geteilten Stadt Berlin Abstand zu gewinnen. Dort arbeitet er für einen Schulbuchverlag und es entstehen die ersten Ansätze und 1968 die Konzeption für sein monumentales Hauptwerk, ein deutsches Geschichtswerk: die Jahrestage. Wieder in Berlin schreibt er daran und wird zum geförderten Suhrkamp-Autor. Der erste Band erscheint 1970. 1971 folgt der zweite Band. Dazwischen immer noch kleinere Arbeiten. 1973 erscheint der dritte Band und 1974 erfolgt die Übersiedlung der Familie Johnson (also Uwe Johnson mit Frau und Tochter) nach Sheerness-on-Sea an der Themsemündung in England.

Ab Mitte der siebziger Jahre kommt es zu einer Schaffenskrise, in der sich, wie in Uwe Johnsons gesamtem Werk, persönlich-privates mit gesamtgesellschaftlichem vermischt. Seine Frau, die an der Entstehung der Jahrestage als Erzählwerk einen großen Anteil hat, hatte so meint es Uwe Johnson zu wissen, vor ihrer Ehe mit ihm einen intensiven Kontakt zu einem tschechischen Staatssicherheitsoffizier während ihres Studienaufenthaltes in Prag Anfang der 60er Jahre. Nach der neuesten Forschung war der Prager Bekannte von Elisabeth Schmidt (spätere Johnson) aber selbst ein Opfer der tschechoslowakischen Staatssicherheit.

Das Vertrauen ist jedenfalls gestört, die Ehe zerbricht, die Konzeption der Jahrestage mit ihrem Endpunkt Prag und dem damit verbundenen zweiten großen Bezugsort für ein Erzählen deutscher Schuld (neben New York ist dies die Tschechoslowakei) scheint gescheitert und ein Weiterschreiben unmöglich zu sein. In den Begleitumständen 1980, versucht Uwe Johnson sich selbst und der Öffentlichkeit darüber Rechenschaft zu geben. Dieser Schritt einer öffentlichen Katharsis, verbunden mit einer romanhaften Verarbeitung in Der Skizze eines Verunglückten ermöglicht Johnson dann doch noch die Fertigstellung seines Romanepos. Verrat und Vertrauen werden hier wieder als Lebensthema des Schriftstellers präsent.

Fast 10 Jahre nach dem dritten erscheint 1983 der vierte und letzte Band der Jahrestage. Uwe Johnson, der nach Abschluss seines großen Epos wieder Mut schöpfte für weitere Projekte zur deutschen Geschichte, orientiert um seine Romanfigur und Gesprächspartnerin Gesine Cresspahl - der Hauptgestalt der Jahrestage und anderer Werke Johnsons -, stirbt im Februar 1984.

2. Das Konzept der Jahrestage

Uwe Johnson beschreibt 1983 den Inhalt des gesamten vierbändigen Werkes wie folgt: „Dieses Buch Jahrestage versucht zweit Seiten von Lebensbeschreibung.

Die eine deutet das Wort Jahrestage etwas gewaltsam aus und macht daraus 365 - oder wenn’s ein Schaltjahr war - 366; und zwar in einer Gegenwart in den Jahren 1967/68 von einem August bis zum anderen. Das sind Tage im Leben einer Person namens Gesine Cressphal, 34 Jahre alt, in New York ansässig als Übersetzerin für eine Bank, Angestellte bei einer Bank. Wichtiger aber in ihrem Leben ist, dass sie zu jener Zeit ein Kind von zehn bis elf Jahren zu versorgen hat, eine Tochter namens Marie.

Die ist zwar geboren in Düsseldorf, aber hat die Stadt New York angenommen als eine Heimat und ist regelmäßig etwas betreten, wenn herauskommt, dass sie ja doch in Westdeutschland geboren ist und nicht in den USA selbst. Die möchte gern eine Bürgerin sein und glaubt, dass sie zurechtkommt mit der Stadt New York.“[1]  Hier also das eine Grundthema von Uwe Johnson: Rechtsstaatlichkeit und Verantwortungsübernahme in der politischen Gesellschaft. Marie unterbricht immer wieder das Erzählen der Mutter aus der deutschen Vergangenheit im Blick auf die aktuellen amerikanischen Herausforderungen. Dabei spielt die Lektüre der New York Times eine große Rolle.

Nun aber weiter mit Uwe Johnson: „So ein Kind muss man dann allerdings beschützen. Das ist die eine Hauptaufgabe dieser Gesine Cresspahl. Auf dieser Ebene des Buches wird der Alltag vorgeführt. ... Beruflich ist dies ein besonderes Jahr. Diese Angestellte Cresspahl soll nach dem Einfall eines ihrer Chefs eine Anleihe für ein osteuropäisches Land vorbereiten, das nun gesonnen scheint, seinen kaputten Maschinenpark und seine kaputten Eisenbahnen - überhaupt seine kaputte Wirtschaft - mit der Hilfe von harten Devisen wieder auf die Beine zu bringen, so dass es den Bürgern besser gehe. Das war das Frühjahr ’68, und für diese Aufgabe, für die Transferierung von ein paar Millionen Dollar an die Tschechoslowakei muss die Angestellte die Sprache dieses Landes lernen und die Wirtschaftsgeschichte und sich überhaupt auskennen.“[2] Hier also der klare Bezug auf das Jahr 1968. „Das ist eine ihrer Aufgaben.“[3]

Und dann spricht Uwe Johnson die zweite Dimension von Jahrestagen an. Es sind die Erinnerungsdaten im persönlichen und im gemeinschaftlichen Gedächtnis.

„Die andere [Seite der Lebensbeschreibung] verdankt sich einem Zustand dieser Person. Mit vierunddreißig hat sie plötzlich weniger Appetit auf die Zukunft. ... Ihr Blick geht nach hinten, in die Vergangenheit. ... Sie interessiert sich mit einem Mal für jene Umstände in Deutschland, die aus ihr die Person gemacht haben, die sie ist oder als die sie anderen erscheint. Das beginnt mit Fragen nach den Großeltern in Mecklenburg, die so etwas wie Agrarkapitalisten waren, von denen man aber immerhin die erste Sprache gelernt hat: das Mecklenburgische. Da war das Hochdeutsche nachher wie eine Fremdsprache. Das ist die Frage, warum ihr Vater, der doch in England als Tischlermeister sein Auskommen hatte, von 1926 bis ’32, warum der ausgerechnet bei einem Besuch in Deutschland sich doch noch vergucken muss in ein mecklenburgisches Mädchen und mit dem und einem Kind zurückgehen nach Deutschland, das 1933 eben auch schon von den Nazis besetzt war und beherrscht wurde. Sie sagte sich, diese Gesine Cresspahl: ‘Ich hätte doch in England geboren sein können. Dann hätte ich zwar die Schulden einer anderen Nation, aber nicht die der deutschen.’“[4]

Damit ist das Grundthema Schuld benannt.

„Das sind Versuche, herauszufinden, was aus dem Aufwachsen in einer kleinen Stadt an der mecklenburgischen Ostsee erwachsen ist für dieses Kind Gesine Cresspahl im Alter von fünfeinhalb Jahren, als sie die Mutter verliert, die die Bibel oder vielmehr die protestantische Religion so streng ausgelegt und vergleicht mit den Taten der Nazis, dass sie sich gleich aus dem Leben ganz und gar verzieht, ohne darauf zu achten, dass sie ein Kind zurücklässt in diesem Leben von 1938, ein Kind, das bis 1945 in den Schulen Hitlerdeutschlands lernen muss, wie man lügt. ... Die neue Schule wurde etabliert durch zunächst die sowjetische Besatzungsmacht und dann durch die mit ihr befreundeten Partei, die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschland. ... Wenn man aber das mit dem Lügen, dem starren Blick beim Aufsagen des Gewünschten, wenn man das einmal gelernt hat, dann kommt man durch und bekommt auch [das] Abitur.“[5]

Es geht um ein Leben in der Wahrheit und gegen die Lüge im Zeitalter der Ideologien des Kalten Krieges. Gesine muss als Studentin vor den Nachstellungen der Staatssicherheit fliehen, wird von ihrem Freund Jakob, der in der DDR zurückkehrt und umkommt (war es Unfall oder Stasi-Mord?) schwanger; und ihre Tochter Marie wird in Düsseldorf geboren. Wie Johnson selbst, hält es sie nicht im geteilten Deutschland. Gesine geht mit Marie nach New York; hält aber über ihre mecklenburgische Freundin, die inzwischen in Westberlin lebt, einen engen Kontakt in die alte Heimat. Soweit einige Aspekte des Hauptwerkes Jahrestage.

3.  Der 9. November

Zweimal kommt also der 9. November in der Konzeption der Jahrestage vor: Einmal als konkretes Datum im fortlaufenden Erzählpakt zwischen Gesine und Marie, zwischen Mutter und Tochter, im Jahr 1967 in den USA, in New York. Und ein zweites Mal in der fortlaufenden Geschichte als erinnertes Datum an die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Deutschland, im fiktiven Jerichow hier in Mecklenburg. Ein beiden Fällen wird fiktives, eine erzählte Geschichte, mit realen historischen Ereignissen verbunden.

Dann gibt es aber noch eine dritte Dimension, in der auf der literarischen Ebene dieses Datum eine Rolle spielt: es geht um den Gedächtnisraum der handelnden ´Personen, um Gesine und Marie, und welche Rolle dieses Datum, dieser „Jahrestag“ darin spielt. Und dabei verbindet Uwe Johnson Persönliches (das der literarischen Personen) mit Realem (der historischen Bundesrepublik und der DDR), mit der Rolle des 9. November 1938 in der Erinnerungspolitik der beiden deutschen Staaten. „Jahrestage“, also Gedenktage müssen gesetzt und gestalt werden.

Schauen wir uns also zunächst den Abschnitt des 9. November 1967 (im ersten Band der Jahrestage) an.

Das Thema der deutschen Schuld und Verantwortung an der Ermordung der europäischen Juden wird direkt angesprochen. Der Tag setzt ein mit einem Bezug (kein direktes Zitat) aus der New York Times vom 9.11.1967.

„Gestern in Frankfurt kam Adolf Heinz Beckerle vor Gericht unter Anklage, er habe als Hitlers Gesandet in Bulgarien bei der Deportation von 11 343 Juden in Todeslagern geholfen. Im Gegenteil behauptete er, 40 000 bulgarische Juden schuldeten ihm ihr Leben. Mit angeklagt ist ein früherer Kollege des westdeutschen Bundeskanzlers, Fritz Gebhard von Hahn, wegen 20 000 griechischer Juden.“[6]

Nur eine kleine Meldung in der New York Times. Das Verfahren gegen Beckerle wurde übrigens 1968 wegen Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingestellt. Uwe Johnson wusste natürlich, als er an den Jahrestagen schrieb, davon. Interessant war ebenfalls die Strategie der Verteidigung in diesem Verfahren. So „bemühten sich die Verteidiger von Hahn und Beckerle, den politischen Druck auf das Gericht zu erhöhen. Eine Politisierung ließ sich am besten dadurch erreichen, das man den kommunistischen Faschismusvorwurf in abgeschwächter Form adaptierte und die NS-Vergangenheit der Bonner Politprominenz als kollektiven Schuldminderungsgrund anführte“[7], so auch in der neuen wissenschaftlichen Aufarbeitung des Auswärtigen Amtes Das Amt vom letzten Jahr nachzulesen.

Aber bereits in den damaligen Zeitungskommentaren (z.B. der SZ) war dies nachzulesen: Nach Ansicht der Angeklagten Täter waren allein der NS-Machthaber Schuld, nicht die Verantwortlichen und den Apparaten und Ministerien und erst recht nicht das normale Volk oder gar die zufällig in Ostdeutschland gelandeten. Genau diesem Thema aber widmete sich Uwe Johnson: Wie verhält es sich mit der Schuld, mit der Verantwortung der Menschen im Alltag des Dritten Reiches. Was taten sie im Umfeld des 9. November, als Geschäfte zu Bruch gingen, Synagogen brannten, Menschen noch weiter erniedrigt wurden, als jüdische Nachbarn zu Tode kamen?

Es folgt unter dem 9. November 1967 dann eine Schilderung, was geschieht, wenn jemand die Telefonnummern verwechselt und bei Gesine und Marie Cresspahl in New York anruft. Plötzlich sind sie mit fremden Anliegen verbunden. Und dann die Erfahrung der Angst, wie Gesine es aus der Zeit der SED-Diktatur kannte. „Einmal, erst Ende September, kam unser Telefon in eine Verbindung, wie sie in den fünfziger Jahren in Westberlin benutzt wurde. Die Membran am anderen Ende der Leitung war belebt nicht mit Worten sondern mit Atmen. […] Nichts als Atmen.“[8]

Die Verbrechen der NS-Zeit und die Zeit des Kalten Krieges setzt Johnson in ein Verhältnis. Und dann die Stimmen der Erinnerung: „Stimmen hörst du genug. Wenn nur die Toten das Maul halten wollten.“[9], steht in kursiv gesetzter Schrift in den Jahrestagen an dieser Stelle. Der sehnlichste Wunsch von Diktatoren ist bis heute das Vergessen. Die Unterdrückten, die Gedemütigten, die Toten sollen für immer zum Schweigen gebracht werden. Erinnern ist aber die Aufgabe von Menschen. Denn sie alle haben einen Namen, ein Geburtsdatum und eine unverwechselbare Geschichte (gegen die „Telefonverwechsler“). „Ihr Name ist Gesine Cresspahl, geboren am 3. März 1933 in Jerichow, in den U.S.A seit dem 28. April 1961.“[10] Heißt es am Ende dieses Tages.

Bleiben wir bei dieser persönlichen Geschichte, dem individuellen Erinnern. Der Text vom 12. November 1967, einem Sonntag, sticht bereits durch die kursive Schrift und durch die Kürze (eine Buchseite) heraus. Er beginnt mit: „Jetzt halten wir dir die jährliche Rede auf deinen Tod.“[11] Erinnern als Totengedenken. Und die Toten sind mitten unter uns, werden angesprochen. Dann der zweite Satz: „Es kommt auf den Tag nicht an.“[12] Später wird sich herausstellen, dass es sich bei der Toten um die Mutter von Gesine, um Lisbeth Cresspahl, handelt. Und sie ist in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in Jerichow aus dem Leben geschieden. Davon später Genaueres. Weiter im Text: „ Du bist tot, verstanden. Das ist deine Sache. Es ist unsere Sache, ob wir dich behalten wollen. Immer willst du gedacht werden. Es ist genug ohne dich. Du bist es, die gegangen ist. Es war schon fünf Jahre vorher zu sehen, als du den ersten Schritt tatest. Du ließest dich gehen. […] Du wolltest nicht alle kränken. Ihn hast du gekränkt. Du hast mich gekränkt. Ein Kind. Wir verzeihen dir gar nicht.“[13]

Lisbeth Cresspahl hat sich umgebracht, ihr Leben gegeben angesichts der Schuld der Deutschen, der Nachbarn in Jerichow, als in der Pogromnacht ein jüdisches Mädchen ermordet wird. Sie lässt den Mann, Heinrich Cresspahl, sie lässt ihr Kind, Gesine, allein in der mörderischen Zeit.

Uwe Johnson bindet hier das persönliche Erinnern, das individuelle Schicksal von Gesine in den Diskurs um die Shoa, die Ermordung der europäischen Juden ein. Zwischen dem gesellschaftlichen Gedenken, ritualisiert, schiebt sich immer die eigene Perspektive. „Es gedenkt nur, wer gedenken muss.“[14] Das betrifft das individuelle Erinnern genauso wie das kollektive Gedächtnis. Johnson weitet „das private Totengedenken in den Raum des nationalen Gedächtnisses.“[15]

4. Die Nacht vom 9. zum 10. November in Jerichow

Für Lisbeth Cresspahl ist die Familie eher Last und ein Ort der Schuld angesichts der Gräuel der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus. Ihre Familienbindung besteht aus ihrer Sicht als eine schuldhafte Verstrickung. Beheimatung bietet ihr allein die protestantische Religion, aber nicht in familiär-menschlichen Entsprechungen, sondern radikalisiert als die reine Lehre. Uwe Johnson beschreibt es als „Entfremdung“[16] von den Menschen und der Welt. „Für Gerechtigkeit hatte sie nicht einen Begriff mitgebracht, sondern ein Empfinden.“[17] Die Mutter, so Gesine Cresspahl mit einem treffenden Sprachspiel, hat „sich aus der Welt ‚ver-rückt‘“.[18]

Johnson beschreibt den Protestantismus als individuelle Gewissensreligion, die aber, wenn die Prägung des Gewissens nicht mit anderen geteilt wird, zur Radikalisierung und Vereinsamung führt. „Fromm ist sie immer gewesen; aber wenn jetzt die Kinder aus ihrer Christenlehre zurückkommen, die bringen ein Gewissen mit, das kann Einer gar nicht brauchen am täglichen Tag. ... Verkniffen, vertückscht. Nein, vertückscht nicht; als ob sie eingesperrt wäre.“[19] Unfrei wird Lisbeth dargestellt, gefangen in einer Schuld, die gar nicht die Ihrige ist, aber in einer radikal angenommen Verantwortungsgemeinschaft. Ohne reflektierende Distanz lebt sie die emotionale Faszination im protestantischen Gesinnungspathos aus.[20] Gewissensbindung wird so bei ihr (wie Uwe Johnson sie darstellt) zum Gegenteil der Freiheit eines Christenmenschen.

Bereits zum Weihnachtsfest (Festkalender!) 1936 begeht Lisbeth ihren ersten Selbstmordversuch, will sich opfern, um ihr ungeborenes zweites Kind vor der Schuld der schrecklichen Zeit, der bösen Tage (um mit dem Theologen und Widerstandkämpfer Dietrich Bonhoeffer zu sprechen) zu bewahren. Sie selbst will Weihnachten und Karfreitag verknüpfen, statt sich von der gnädigen Treue Gottes beschenken zu lassen. Gebundene Schuldübernahme statt der frei verantworteten Tat, um mit der Terminologie Bonhoeffers zu sprechen, ist hier das vorherrschende Motiv. In der Komposition bei Uwe Johnson fallen hier die Kalendertage, die Jahrestage in eins. Diese Weihnachtsgeschichte von 1936 wird unter dem Datum des 25. Dezember 1967 erzählt.

Die fixe Idee der Schuldübernahme ersetzt nicht nur alle lebensnotwendige Familienbindungen, die Halt in der Bedrängnis geben könnte. Lisbeth verzweifelt daran, dass sie mit ihrem Drängen Anfang der 30er Jahre dafür gesorgt hat, das die junge Familie Cresspahl aus dem sicheren und freien England wieder nach Deutschland zurückkehrte. Sie begreift ihre Entscheidung als Schuld. Die Fixierung auf die Schuld über Generationen hinweg zerstört bei Lisbeth zugleich alle Familienbindungen. Johnson lässt Lisbeth den Tod der eigenen Tochter Gesine als kleines Kind in Kauf nehmen, als das Mädchen kopfüber in eine Wassertonne fällt und unter den Blicken der Mutter zu ertrinken droht.

Uwe Johnson lässt Lisbeth Cressphal verzweifeln am potentiellen Schuldigwerden ihrer Familie. Sie traut dem Vergeben Gottes nicht genügend zu. Das selbstopfernde Verhalten von Lisbeth Cresspahl schafft „eine Ambivalenz von Martyrium und Befremdung.“[21] Sie nimmt sich freiwillig das Leben, verlässt ihre Familie, ihre fünfjährige Tochter, geht am Tag nach der Reichspogromnacht, in der in Jerichow ein jüdisches Kind umkommt, am 10. November 1938 selbst ins Feuer.

Aber nicht ohne sich vorher bei ihrem Pastor theologisch abzusichern (in der Johnsonschen Komposition am 27. Januar 1968 erzählt): „Im April 1938 hörte Wilhelm Brüshaver, evangelischer Pastor in Jerichow, seine Frau von einer Behauptung Lisbeth Cresspahls erzählen, wonach die Heilige Schrift an keiner Stelle den Selbstmord verbiete. Das sei doch nicht zu glauben; ob es denn wahr sei?“[22]

„Kein Verbot des Selbstmords in der Bibel. Er wollte wohl glauben, dass diese Lisbeth Cresspahl beide Bücher der Heiligen Schrift ausgelesen hatte. Aber war es nicht lächerlich, eine Bürgerstochter, die Frau von Cresspahl bei theologischen Kniffeleien zu sehen. ... Es waren schließlich neun Stellen, die Brüshaver auf seinem Zettel notierte, statt die Predigt für den 24. April weiterzuschreiben. Er schlief darüber ein, und als Aggie ihn nach Mitternacht ins Bett holte, hatte er vergessen, was er im Seminar gelernt hatte: der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich; Selbstmord sei Abfall von Gott. Hätte Lisbeth erfahren, dass es diesen Zaun gab, sie hätte vielleicht nicht daran gedacht, ihn zu übersteigen.“[23]

Und bei der Predigtvorbereitung für die Beerdigung von Lisbeth, mit allen was zu einer Beerdigung kirchlicherseits dazugehört, kommt Brüshaver erneut ins Nachdenken: „Gewiss verbietet die Bibel den Selbstmord nicht ausdrücklich. Aber es ist an die Stelle des Verbots der Gnadenruf an den Verzweifelten gesetzt.“[24] Und an dem der Beerdigung folgenden Sonntag lässt Uwe Johnson seinen Pastor die Predigt halten, die im Verlauf der weiteren Handlung dann zu seiner Verurteilung und Haft während der NS-Zeit führt.

„Dann hielt er den Jerichowern die Rede, die Cresspahl am Grab hatte nicht hören wollen. Er hielt sie für Luise Papenbrock, die es auch jetzt nicht lassen konnte, mit steifer Haltung und angehobenen Kinn Stolz zu zeigen darauf, dass schließlich niemand Anderem die jüngste Tochter gestorben war. Er hielt sie für Albert Papenbrock, der erst streng auf die Kanzel sah, als über er eine Pflicht aus und etwas Schimpfliches obendrein, dann nachdenklich wie über einen Vorschlag. Er hielt sie für Leute wie Richard Maass, die den Kirchgang an diesem Tag für ungehöriges Betragen auffassen wollten. Er hielt sie für den einen, der die Nachschriften seiner Predigten zur Geheimen Staatspolizei trug. Er hielt sie für Hilde Paepke, die weinte. Er hielt sie für Lisbeth, und entschuldigte sich bei ihr. Er hielt sie für Cresspahl. Es ging die Bürger von Jerichow gar nichts an, wie Lisbeth Cresspahl gestorben war. Der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich. Es sei eine Sache zwischen Lisbeth und ihrem Gott, dass sie von ihm mehr erwartet habe, als er habe geben wollen. Sie sei zum Sterben so frei gewesen wie zum Leben, und wenn sie auch besser das Sterben ihm überlassen hätte, so habe sie doch ein Opfer angeboten für ein anderes Leben, den Mord an sich selbst für den Mord an einem Kind. Ob das ein Irrtum gewesen sei, werde sich nicht in Jerichow herausstellen. Hingegen ging es die Bürger von Jerichow sehr wohl an, dass Lisbeth Cresspahl gestorben war. Sie hatten mitgewirkt an dem Leben, das sie nicht ertragen konnte. Jetzt kam die Aufzählung, die die Grundlage des Urteils gegen Brüshaver wurde. Er fing an mit Voss, der in Rande zu Tode gepeitscht worden war, er vergaß weder die Verstümmelung Methfessels im Konzentrationslager noch den Tod des eigenen Sohnes im Krieg gegen die spanische Regierung, bis er in der Mittwochnacht vor dem Tannebaumschen Laden angelangt war. Gleichgültigkeit. Duldung. Gewinnsucht. Verrat.“[25] (alles an Terror bis hin zum 9. November 1938 erzählt mit Datum im Februar 1968).

Lisbeth, so Uwe Johnson, hat sich selbst geopfert. Interessant sind in unserem Zusammenhang die Reaktionen des Pastors Brüshaver. Seinen Worten sind fast wörtliche Zitate aus Dietrich Bonhoeffers Ethik in der Ausgabe von Eberhard Bethge aus dem Jahr 1949, die Johnson hier bewusst einfließen lässt und so die Auseinandersetzung der Bekennenden Kirche mit dem NS-Regime thematisiert. „Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass die Bibel an keine Stelle den Selbstmord ausdrücklich verbietet.“[26], so Dietrich Bonhoeffer in den Ethik-Fragmenten, die bei seiner Verhaftung vor dem Zugriff der Gestapo in Sicherheit gebracht werden konnten. Und weiter: „Der Grund hierfür ist nicht, dass die Bibel den Selbstmord billigt, sondern dass sie an die Stelle des Verbotes des Selbstmordes den Gnaden- und Bußruf an den Verzweifelten treten lassen will.“[27]

Uwe Johnsons Lisbeth-Geschichte ist eine erzählerische Auslegung dieser Passagen der Ethik Bonhoeffers, von ihm geschrieben in der Zeit der Anfechtung und des Widerstandes gegen den Terror des Nationalsozialismus. „Gott, der Schöpfer und Herr des Lebens, nimmt das Recht des Lebens selbst wahr. Der Mensch braucht nicht Hand an sich zu legen, um sein Leben zu rechtfertigen. ... Den Verzweifelten rettet kein Gesetz, das an die eigene Kraft appelliert“[28] Bei Uwe Johnson vollzieht sich diese Nacherzählung der Rechtfertigungsproblematik im Horizont der Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld angesichts zweier Diktaturen, die den Menschen zur Lüge zwingen wollten. In ihrer Not bleibt Lisbeth nur das Selbstopfer in der von Bormuth analysierten „Ambivalenz von Martyrium und Befremden.“[29]

Solche Opfer verdecken aber die Erinnerung an das wirkliche Geschehen. Uwe Johnson weiß um dieser Spannung und deshalb trennt er die Schilderung von Lisbeths Opfertod von der Schilderung der Reichspogromnacht (bzw. Reichskristallnacht; eine Begrifflichkeit, die wohl erst nach 1945 in der Berliner Bevölkerung aufkam). Der Tod des Kindes Maria (!) Tannenbaum in Jerichow wird bereits mit Datum des 14. Februar 1968 erzählt. Am Ende wird der Opfertod von Lisbeth nur sehr vage angedeutet. Gesine verstummt in ihrem Erzählen. Der Erzählpakt zwischen Mutter und Tochter hält die Wahrheit nicht aus. „Erzähl sie mir nicht, Gesine.“[30], sagt Marie. Familiales Gedächtnis wird so vom kollektiven Erinnern und der gesellschaftlichen Gedächtniskultur unterschieden.[31]

5. Eine Gedenken stiften

Es ist nicht Gesine, sondern es ist ihre Tochter Marie, die Nachgeborene, die im Blick auf den 9. November 1938 ein Gedenken stiftet (und damit natürlich der Autor Uwe Johnson). Sowohl in der alten Bundesrepublik und erst recht in der DDR war der 9. November 1938 kein Erinnerungsort.[32] 1968 erinnerte die APO allein an die gescheiterte Novemberrevolution von 1918 und Die Zeit gedachte kritisch des 50. Jahrestages der Abdankung des deutschen Kaisers. Und für die SED waren die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus eh Opfer zweiter Klasse.

Der Antisemitismus hatte sich hier bereits wieder fest etabliert. So wurde bereits Ende der 40er Jahre z.B. die weltweit arbeitende jüdische Hilfsorganisation als Spionageorganisation bezeichnet. Parallelen zur Verfolgung der kirchlichen Jugendarbeit 1952/53, die Uwe Johnsons literarischen Beginn bestimmten, sind unübersehbar. Das von der SED propagierte Stigma des „Kosmopolitismus“ und des jüdischen „Geldmenschen“ zeigte eindeutige Parallelen zum „Stürmer“ der NS-Zeit. Ein besonders perfides Beispiel für das Zusammengehen einerseits des Selbstverständnisses vieler Deutscher, sich als Opfer zu verstehen, und der SED-Ideologie andererseits, ist eine Äußerung von Gottfried Grünberg, KPD-SED-Funktionär und Volksbildungsminister Mecklenburg-Vorpommern aus dem Jahr 1948: Über die Schweriner Jüdische Gemeinde sagte er: „Ihr seid keine jüdische Gemeinde, sondern eine Speckpaketeempfängerorganisation“. Überlebende aus den deutschen Vernichtungslagern erhielten Hilfsgüter aus den USA. Kaum dem NS-Gräuel und den Übergangslagern entronnen wurden Menschen jüdischer Religion wieder verunglimpft und stigmatisiert.

Im kulturellen Gedächtnis der Deutschen spielte also der 30. Jahrestag der Reichspogromnacht keine Rolle. Anders bei Johnson.

Mit Datum vom 26. Februar 1968, also knapp zwei Wochen nach dem Wunsch von Marie, die Geschichte vom Selbstmord ihrer Großmutter lieber nicht zu hören, etabliert Marie den 9. November 1938 als Erinnerungsort. „Sie nannten es Reichskristallnacht? Sagte Marie. Ja. Wie Washingtons Geburtstag? Ja. Fang an, Gesine. Weil den Juden ja auch Kristall kaputtgeschlagen worden war, oder gestohlen. […] Und war Reichskristallnacht ein Regierungswort? Nein. Das war von den Regierten“[33]

Die Nachbarn waren die Täter. An ihnen ist es auch, ihrer Schuld zu gedenken. Interessant ist, dass Uwe Johnson hier Marie nicht wie sonst üblich Vergleiche aus ihrer Umwelt heranziehen lässt, um das geschehene Unrecht für das Kind verständlich zu machen. Marie setzt das von Gesine Gehörte nicht mit ihren Erfahrungen von Gewalt durch Rassismus im US-amerikanischen Alltag in Beziehung[34], wie sie es sonst immer tut. Mit dem Bezug auf einen Initialritus (der Freiheitsgeschichte durch Washington) macht sie die „Reichskristallnacht hier zum Jahrestag oder genauer: zum staatlichen Feiertag und verleiht ihr somit einen Stellenwert, den sie weder auf die Erinnerungsebene der Mutter noch im damaligen kollektiven Gedächtnis der Deutschen hat.“[35] Das Gedenken an den 9. November 1938 wird so von Uwe Johnson klar aus der Sphäre der privaten Erinnerung, des persönlichen Gedenkens herausgehoben und zum gesamtgesellschaftlichen Gedenken institutionalisiert. Zum Erinnern brauchen wir Jahrestage, so wie heute Morgen am Gedenkstein der Synagoge hier in Rostock.


 

[1] zitiert nach: Grambow, Jürgen: Uwe Johnson, rororo-Monographie, Reinbeck bei Hamburg, 1997, S.97-99

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] Johnson, Uwe: Jahrestage, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1970, S. 275

[7] Conze, Eckart, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann: Das Amt. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München, 2010, S. 667

[8] Johnson, aaO. (Anm. 6), S. 278

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Johnson, AaO. (Anm. 6), S. 286

[12] Ebd.

[13] Ebd.

[14] Schmidt, Thomas: Der Kalender und die Folgen. Uwe Johnsons Roman „Jahrestage“.  Ein Beitrag zum Problem des kollektiven Gedächtnisses. Göttingen, 2000, S. 217

[15] Ebd.

[16] Johnson, Uwe: Jahrestage, Bd. 4, Frankfurt am Main, 1983, S. 1856

[17] Johnson, Uwe: Jahrestage, Bd. 1, Frankfurt am Main, 1970, S. 426

[18] Johnson, Uwe: Jahrestage, Bd. 4, Frankfurt am Main, 1983, S. 1856

[19] Johnson, Uwe: Jahrestage, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1971, S. 508

[20] Vgl. Bormuth, Matthias: Der Suizid als Passionsgeschichte – Zum Fall Lisbeth Cresspahl in den Jahrestagen, in: Michael Hofmann (Hg.): Johnson-Jahrbuch 12 (2005), Göttingen, 2005, 183; vgl. auch: Rainer Paasch-Beeck: Bißchen viel Kirche, Marie? – Bibelrezeption in Uwe Johnsons Jahrestage, in: Ulrich Fries und Holger Helbig (Hg.): Jonson-Jahrbuch 4 (1997), Göttingen 1997, S. 72-114

[21] Bormuth , aaO., S. 195

[22] Johnson, Uwe: Jahrestage, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1971, S. 643

[23] Ebd., S. 646

[24] Ebd., S. 757

[25] Ebd., S. 760f

[26] Bonhoeffer, Dietrich: Ethik (zusammengestellt und hrsg. von Eberhard Bethge), München, 1949, S. 113; vgl. DBW Bd. 6 (Ethik), hrsg. von Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green, München-Gütersloh, 1998, S. 195

[27] Ebd.

[28] Ebd.

[29] Bormuth, aaO. (Anm. 19), S. 195

[30] Johnson, Uwe, Jahrestage, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1971, S. 725

[31] Vgl. Dankemeyer, Iris: Vergangenheit heute. Geschichte und Gegenwart des Nationalsozialismus in Uwe Johnsons Jahrestagen, in: Hofmann, Michael und Mirjam Springer (Hg.): Johnson-Jahrbuch 14 (2007), Göttingen, 2008, S. 56

[32] Vgl. Bormuth,  aaO. (Anm. 20), S. 221

[33] Johnson, Uwe, Jahrestage, Bd. 2, Frankfurt am Main, 1971, S. 780

[34] Vgl. Bormuth, aaO. (Anm. 20), S. 220

[35] Ebd., S. 221

 


Klaus-Dieter Kaiser, ehem. Direktor der Evang. Akademie der Nordkirche, Rostock, November 2011

Klaus-Dieter Kaiser ''Von der (Un)Möglichkeit des Lebens mit der Schuld: Der 9. November im Werk des Schriftstellers Uwe Johnson''.pdf

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