Weltgeschichte als Weltgericht

Die Reformierten im Ersten Weltkrieg. Ein Interview mit Hans-Georg Ulrichs

Soldat in Chateau Wood © Wikicommons/IWMCollections

Chauvinistische Kriegshetze, Aufrufe zur Buße: reformierte Pfarrer predigten politisch oft national-konservativ gesinnt.

reformiert-info: Stimmten die Reformierten in Deutschland ein in den Jubel zur Mobilmachung der deutschen Truppen 1914? Immerhin, so könnten wir aus heutiger Perspektive denken, stammten die „Väter“ ihres Glaubens aus Frankreich und der Schweiz und manch einer der deutschen Reformierten war Nachkomme der einst geflohenen Hugenotten.

Hans-Georg Ulrichs: Die Kriegseuphorie August 1914 ist legendär. Nicht zuletzt die politischen und publizistischen Kriegstreiber haben versucht, die Zustimmung der Bevölkerung zum Krieg, der eben nicht nach wenigen Wochen zu Ende war, sondern bereits im Oktober 1914 für Jahre zu einem vernichtenden Stellungskrieg wurde, durch das ständige Wiedererinnern an diese anfängliche Begeisterung hochzuhalten. Wenn man den Blick aber von den offiziellen Stellungnahmen auf die Menschen lenkt, dann relativiert sich das.

Um reformierte Regionen zu nennen: Welche Bauernfamilie aus Ostfriesland, der Grafschaft Bentheim oder Lippe sollte begeistert gewesen sein, dass angesichts der erntereifen Felder die jungen Männer eingezogen wurden? Es gab wohl auch Euphorie, zumal konkrete Kriegserlebnisse lange zurücklagen und die Kriege im 19. Jahrhundert ja für die Deutschen „glücklich“ ausgegangen waren. Aber man darf hier der politischen Propaganda nicht auch noch nach 100 Jahren auf den Leim gehen.

Aber gab es nicht eine angespannte geopolitische Situation, die sich dann entladen musste?

Ulrichs: Auch hier wäre ich vorsichtig, veröffentlichte Meinung mit der Realität gleichzusetzen. Hinter einer solchen Aussage steckt ja auch eine Vorstellung, als ob Kriege quasi naturgesetzlich kommen und letztlich nicht zu verhindern wären. Ich habe reformierte Archive in Detmold, Leer und Emden sowie die Reformierte Kirchenzeitung (RKZ) durchgeforstet und natürlich auch die autobiographische Literatur eingesehen. Der Krieg kam für viele subjektiv eher überraschend, er begann ja auch nicht sofort nach dem Attentat von Sarajewo, sondern erst fünf Wochen später. Trotz der neueren Forschungen, die derzeit für Schlagzeilen sorgen, sehe ich vor allem bei den konservativen Eliten in Politik, Publizistik und Wirtschaft in Deutschland die Kriegstreiber.

Das Kaiserreich war sehr preußisch-protestantisch geprägt. Hat der öffentliche Protestantismus den Krieg gerechtfertigt?

Ulrichs: Es gibt in der Tat unzählige Predigten vor allem von kirchenleitenden Geistlichen, die den Krieg begrüßten und rechtfertigten: Der Kaiser habe den Frieden gewollt, die perfiden Feinde hätten Deutschland zur Notwehr gezwungen. Deshalb sei der Krieg gerechtfertigt – und weil er angeblich neben dem Vaterland auch noch deutschen „Treu und Glauben“ verteidige, sei er auch „heilig“. Nicht wenige – die selber nicht an die Front mussten! – haben das als „große“, wenn auch „ernste“ Zeit erlebt.

Schlimm ist aus heutiger Sicht, dass der Krieg als legitimes Mittel von Staatspolitik angesehen wurde und der beginnende Pazifismus, etwa auch in der ökumenischen Bewegung, diffamiert wurde. Und noch schlimmer ist es, dass nach den Jahren des „Durchhaltens“ 1915/1916 sich evangelische Theologen und konservative Protestanten im „Epochenjahr“ 1917 nicht etwa mit der Bevölkerungsmehrheit und mit der Reichstagsmehrheit um einen „Verständigungsfrieden“ bemühten, sondern eher zur neu gegründeten „Vaterlandspartei“ tendierten und weiterhin einen bedingungslosen „Siegfrieden“ propagierten. Diese Kriegsverlängerung von anderthalb Jahren hat Millionen Tote gefordert.

Und wie positionierten sich die Reformierten in Deutschland?

Ulrichs: Die Reformierten waren auch damals schon eine Minorität, die um ihre Bedeutung und ihren Rang kämpfen musste. Sie waren ganz verschieden institutionell aufgestellt (im Verein, als Minderheit in unierten Landeskirchen, in zwei reformierten Landeskirchen) und es gab unterschiedliche theologische und regionale Traditionen. Die staatskirchlichen Konsistorien in Detmold und Aurich waren natürlich in die ministerialen Abläufe eingebunden und warben beispielsweise für die Spende von kriegswichtigen Rohstoffen und der Zeichnung von Kriegsanleihen.

In den Gemeinden kam es vor allem auf die Einstellung der Pfarrer an. Viele wurden zum Kriegsdienst eingezogen, d.h. die anderen hatten zahlreiche Vertretungsdienste zu übernehmen. Neben den Gottesdiensten gab es – allerdings vor allem nur bis zum Winter 1914 – Kriegsgebetsstunden. Die Pfarrer hielten wenn möglich Kontakt zu den Gemeindegliedern, die im Krieg waren, mussten Trauernde und Leidende begleiten und sich mit anderen öffentlich Verantwortlichen um Kinder und Jugendliche kümmern, die je länger je mehr „aus dem Ruder liefen“ – kein Wunder in einer „Kriegsgesellschaft“ mit ihren wirtschaftlichen und mentalen Ausnahmesituationen.

Und die quasi freien Reformierten im Reformierten Bund konnten bei aller Einbindung in ihre jeweiligen Kirchenstrukturen doch erstaunlich unabhängig sein.

Gab es also Unterschiede zwischen den Reformierten und den anderen deutschen Protestanten?

Ulrichs: Die Reformierten nahmen natürlich am Gesamtprotestantismus teil, den man überwiegend als „nationalprotestantisch“ bezeichnet hat. Es gab auch in der RKZ chauvinistische Polemiken gegen England und Frankreich, rassistische Diffamierungen der Russen und anderer Völker aus dem Osten – mit Ausnahme der mit dem Kaiserreich verbündeten Türken, wobei sogar der Völkermord an den Armeniern geleugnet wurde. So etwas ist schon gruselig zu lesen.

Aber es musste auch zu Differenzen kommen: Luther und „Deutschtum“ wurden, nicht zuletzt auch im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 1917*, miteinander identifiziert. Hier wirkten sich konfessionelle Beharrungskräfte durchaus positiv aus: Einerseits wehrten sich die Reformierten bei aller Wertschätzung für die Person dagegen, die Reformation mit Luther zu identifizieren. Protestantismus ist plural.

Und sie konnten und wollten, eben auch nach dem großen Calvin-Jubiläum 1909, nicht verhehlen, dass historisch wichtige reformierte Personen gerade aus den Ländern der Kriegsfeinde stammten: Calvin, Knox, die Hugenotten. Es gab freilich auch Reformierte, die versucht haben, Calvin zugunsten von Zwingli zu verdrängen, den man dann als deutschen, weil Deutsch-Schweizer, Kriegsmann darstellte. Mit dem Gesamtprotestantismus waren sich die Reformierten einig, dass eine aufkommende „germanische Religion“ bekämpft werden musste. Das ist so etwas wie eine historische Parallele zur Abwehr des „Neuheidentums“ ab 1935.

Was waren Orientierungsmarken für die Reformierten?

Ulrichs: Mich hat schon erstaunt, wie verbreitet nicht nur am Ende, sondern gleich von Anfang an die Rede vom Krieg als einer Katastrophe war: Weltgeschichte als Weltgericht. Das geht zwar auch einher mit einer sehr negativen Anthropologie und mit einem starken kulturellen Unbehagen gegen die Moderne, verwehrt aber auch, zu positiv vom Krieg und zu negativ von den Feinden zu reden. Die manifest werdende Sündhaftigkeit aller Menschen müsse in eine umfassende Buße führen.

Die Predigten sind oft sehr ernst; es überwiegen Texte aus den Psalmen und den Propheten; Gott wird als sehr majestätisch vorgestellt. Nicht geringe Teile des Reformiertentums standen am Ende des Kaiserreichs wohl in der Tradition Hermann Friedrich Kohlbrügges (1803-1875), der radikal rechtfertigungstheologisch dachte. Etwas abgefedert wurde dies durch erweckliche und theologisch-positive Einflüsse. Man dachte in jedem Fall theologisch konservativ und nicht liberal.

Allerdings gab es mit dem späteren Moderator August Lang einen bemerkenswerten frühen Ökumeniker, der in seinem pietistischen Herz viel Platz für andere evangelische Konfessionen und für die Reformierten weltweit hatte. Er hat sehr unter dem Krieg gelitten und – trotz nationaler Gesinnung – immer wieder versucht, für Verständnis für die Evangelischen in England, Frankreich und den USA. Trotz des feinsinnigen Spotts von Karl Barth in den 20er Jahren über die etwas behäbigen und zu selbstgewissen reformierten Funktionäre ist August Lang ein großer Segen für die Reformierten in Deutschland gewesen.

Und schließlich muss man festhalten: Es gab auch reformierte Nationalprotestanten, rechtskonservative chauvinistische Kriegshetzer. Neben einem Meidericher Pfarrer ist hier vor allem Theodor Lang (nicht verwandt mit August Lang!) aus Barmen zu nennen. Unglückseligerweise war er bis März 1918 Herausgeber der RKZ und prägte so das öffentliche Bild des Reformiertentums stark mit. Er ist dann nicht umsonst noch preußischer Konsistorialrat in Berlin geworden, wo er in den 20er Jahren eine führende Rolle auch im Evangelischen Bund übernahm.

Und die Reformierten in den anderen Ländern?

Ulrichs: Der Erste Weltkrieg wurde bis etwa in die 90er Jahre hinein vor allem als Teil der jeweiligen Nationalgeschichte erforscht. Es gibt langlebige wissenschaftliche, gesellschaftliche und auch kirchliche Traditionen, was den Blick auf den „Großen Krieg“ anlangt – seit etwa einem Vierteljahrhundert europäisiert und globalisiert sich nun die Weltkriegsforschung, die nach der alten Politik- und Militärgeschichte auch methodisch heute viel breiter aufgestellt ist.

In Deutschland sind die Vorgänge auf den westlichen Schlachtfeldern einigermaßen bekannt, aber die sehr komplexen Vorgänge in Ost- und Südosteuropa und die Kriegsauswirkungen etwa in Afrika oder Asien sind in unserem kollektiven Gedächtnis nahezu unbekannt. Für die deutschen Reformierten waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders die Glaubensgenossen in der Schweiz und in den Niederlanden wichtig, zunehmend dann auch die so vielfältig vitalen Traditionen in Nordamerika. Zu unserer Tagung kommen mehr als zwei Dutzend Referenten aus ganz Europa und Übersee. Gemeinsam werden wir nach den Spezifika der jeweiligen reformierten Kirchtümer fragen und danach, was die weltweiten Reformierten vielleicht auch verbunden und trotz des Krieges zusammengehalten hat.

Literatur:

Hans-Georg Ulrichs, Eine „Gelegenheit, mit den unbekannten Vätern der reformierten Kirche bekannt zu machen“. Das Reformationsjubiläum 1917 in Emden und bei den Reformierten in Deutschland, in: KZG 26 (2013), S. 238-261; Kirchliche Zeitgeschichte. Internationale Zeitschrift für Theologie und Geschichtswissenschaft.

Berichte aus am Weltkrieg beteiligten Ländern

Am zweiten Tag der Konferenz über den Ersten Weltkrieg und die reformierte Welt berichteten Forscher über die Haltungen ihrer Kirchen und einzelner Prediger zum Krieg – eine Zusammenfassung von Georg Rieger