''Wenn Gott für uns ist, wer kann wider uns sein?''

Predigt zu Römer 8,31-39 und Gebet (Altjahrsabend / Silvester)


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''Unser Glaube muss Gottes Verheißung als seine Flügel nehmen und durch allen Widerstand aufwärts bis in den Himmel dringen.'' (Johannes Calvin)

Was wollen wir dem noch hinzufügen? Wenn Gott für uns ist, wer kann wider uns sein? Er, der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will gegen die Erwählten Gottes Anklage erheben? Gott ist es, der Recht spricht. Wer will da verurteilen? Christus Jesus ist es, der gestorben, ja mehr noch, der auferweckt worden ist; er sitzt zur Rechten Gottes, er tritt für uns ein. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis, Not oder Verfolgung? Hunger oder Blösse? Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: ‚Um deinetwillen sind wir dem Tod ausgesetzt den ganzen Tag, zu den Schafen gerechnet, die man zur Schlachtbank führt.’ Doch in all dem feiern wir den Sieg dank dem, der uns seine Liebe erwiesen hat. Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn." (Römer 8,31-39)

Liebe Geschwister,

das erste volle Jahr der Reformationsdekade hat uns an Johannes Calvin erinnert. Vor 500 Jahren wurde er in Frankreich geboren, und es gab zahlreiche Gelegenheiten, sich über diesen Reformator der zweiten Generation zu informieren. Ich möchte ihn heute zum Jahresabschluss noch einmal zu Wort kommen lassen: „Da zieht man von einer Stadt in eine andere und hat doch mit den gleichen Problemen zu tun“, stellt Calvin fest, „das ist wie beim Jahreswechsel: Wenn auch ein neues Jahr kommt, bleibt doch alles beim Alten. Das tröstet wenig, und die Sorgen werden dadurch nicht leichter.“ Sein Freund und Verleger Wendelin Rihel bestätigt: „Wohin wir auch ziehen, unsere Probleme ziehen mit.“

Rihel weiß, dass sein Gegenüber die Heimat hat verlassen müssen, dann auch die Stadt Genf, in der er sich niedergelassen und gewirkt hatte. Basel hat ihm Asyl gewährt, und hier beginnt er seinen Kommentar zum Römerbrief. Den Plan dazu hat er schon länger und nun in Rihel einen hilfreichen Verleger gefunden. Der ahnt noch nicht, dass der Straßburger Reformator Martin Bucher bei Calvin angefragt hat, ob dieser dort die französische Flüchtlingsgemeinde betreuen möchte.

Wie denn die Arbeit vorangehe, wechselt Rihel das Thema. Er möchte den Kommentar zum Römerbrief möglichst bald herausgeben, denn die Menschen warten auf solche Bücher. Bücher, die sie zu eigenem Denken anregen, anstatt es ihnen abzunehmen; Bücher, die zu den Quellen des Glaubens führen. „Ich komme voran“, antwortet Calvin, etwa die Hälfte habe er bereits zu Papier gebracht. Nun sei er dabei, das achte Kapitel abzuschließen. Dort stünden große Worte, dicke Brocken sozusagen, und er wolle mundgerechte Häppchen daraus machen. Sonst könnten die Menschen wenig damit anfangen. „Was wollen wir dem noch hinzufügen?“ beginnt Calvin zu zitieren, und zu seiner Überraschung fährt Rihel fort:

„Wenn Gott für uns ist, wer kann wider uns sein? Er, der seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern für uns alle dahingegeben hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? Wer will gegen die Erwählten Gottes Anklage erheben? Gott ist es, der Recht spricht. Wer will da verurteilen? Christus Jesus ist es, der gestorben, ja mehr noch, der auferweckt worden ist; er sitzt zur Rechten Gottes, er tritt für uns ein. Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Bedrängnis, Not oder Verfolgung? Hunger oder Blösse? Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: ‚Um deinetwillen sind wir dem Tod ausgesetzt den ganzen Tag, zu den Schafen gerechnet, die man zur Schlachtbank führt.’ Doch in all dem feiern wir den Sieg dank dem, der uns seine Liebe erwiesen hat. Denn ich bin mir gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Hohes noch Tiefes noch irgendein anderes Geschöpf vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“

„Bravo“, lobt Calvin, „bravissimo! Sie haben den Text im Kopf. Haben Sie auch den Inhalt im Herzen? Schließlich erleben Sie wegen Ihrer Bücher ja mancherlei Anfechtung und Bedrohung.“ Durch die Frage leicht gekränkt, reagiert Rihel: „Und eben darum habe ich diesen Text genau so im Herzen wie im Kopf. An ihm halte ich mich fest, wenn mir Steine durchs Fenster fliegen oder Drohbriefe ins Haus flattern. Dann sehe ich Paulus an meiner Seite und beharre wie er fest im wahren Glauben. Und Sie, verehrter Meister Jean?“

Calvin zögert einen Moment, bevor er antwortet: „Ich denke mehr an die Menschen, die ihres Glaubens wegen angeklagt werden, bedrängt, verfolgt, gar hingerichtet. Täglich brennen Scheiterhaufen, und das in der Zeit des Humanismus. Menschlich sollte es zugehen, doch Unmenschlichkeit führt das Regiment. ‚Der altböse Feind, mit Ernst er’s jetzt meint’, wie Vater Luther dichtet. Diese Menschen brauchen Hilfe. Sie brauchen Halt um durchzuhalten.“ „Das kann der Text gewiss leisten“, bestätigt Rihel, „ist er doch von einem geschrieben, der all das am eigenen Leib und an eigener Seele erfahren hat, wovon er schreibt. Doch was ist mit Menschen, denen solch schlimme Erfahrungen erspart bleiben?“

„Sie wissen doch“, erinnert Calvin, „was dem einen noch erträglich ist, erlebt ein anderer als unerträglich – und umgekehrt. Ich denke, jeder Mensch hat etwas, bei dem gerade dieser Text Trost gibt, Zuversicht und Gewissheit. Die möchte ich allen Menschen geben, die körperliche oder seelische Not leiden, z. B. denen, die auf der Flucht sind.“ „Sagen Sie, Jean“, fragt Rihel, „sind wir nicht alle und immer auf der Flucht, immer unterwegs, unser Leben zu retten? Einer flieht von Ort zu Ort, ein anderer von Arzt zu Arzt, ein dritter von Vergnügen zu Vergnügen, ein vierter in die Arbeit.“ „Ein interessanter Gedanke“, bemerkt Calvin anerkennend, „wobei zu bedenken ist, dass alle vor ihrer eigenen Angst fliehen, ihrer Angst vor dem unausweichlichen Tod. Dem aber können wir als Glaubende wunderbar behütet und getröstet entgegengehen.“

Calvin beginnt, in einem Stapel Papier zu blättern. „Wollen Sie mir wieder etwas vorlesen?“ fragt nun Rihel erwartungsvoll und findet seinen Wunsch erfüllt. Calvin liest vor: „Wer will uns scheiden von der Liebe Christi u. s. w. Nun überträgt sich die Gewissheit des Heils auch auf das äußere Leben. Denn wer gewiss sein darf, in Gottes Gnade geborgen zu sein, kann unter dem schwersten Druck aufrecht stehen … Paulus will also sagen: mag geschehen, was will, so soll der Glaube feststehen, dass der Gott, der uns einmal seine Liebe zugewandt hat, nie aufhören wird, für uns zu sorgen. Dabei heißt es nicht einfach: Es gibt nichts, was Gott von seiner Liebe zu uns abbringen könnte. Sondern der Ton liegt auf unserem Glauben, der in aller Finsternis der Trübsal wie ein helles Licht Bestand behalten soll. … Unser Glaube muss Gottes Verheißung als seine Flügel nehmen und durch allen Widerstand aufwärts bis in den Himmel dringen.“

Calvin macht eine kleine Pause, Rihel schweigt. „Nun“, fragt Calvin, „halten Sie das für allgemein verständlich oder klingt das zu akademisch?“ „Nun“, beginnt auch Rihel, „vielleicht sollten Sie das noch ein wenig ausführen. Sie haben wieder sehr dicht, sehr konzentriert geschrieben. Für die Menschen wäre gut, wenn Sie Ihre großartigen Sätze ein wenig verdünnten, wenn Sie gleichsam noch etwas Brühe in die Speise gäben.“ Calvin hat seine Freude an dem Vergleich und sagt die Umsetzung zu. Nun blättert er weiter zum Schluss des Kapitels und liest: „Ich bin gewiss, das weder Tod noch Leben u. s. w. mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Hier bricht schließlich der Triumphruf aus, um uns zu gleicher Siegesgewissheit fortzureißen. Was auch kommen mag: es wird nichts ausrichten. … Christus ist und bleibt das Band der göttlichen Liebe. Hängen wir also durch ihn mit Gott zusammen, dürfen wir des unerschütterlichen und unermüdlichen Wohlwollens Gottes zu uns unbedingt versichert sein.“ Dann fügt er noch an: „Hier unterscheidet Paulus deutlicher als früher, dass der Vater die Quelle der Liebe ist und Christus der Kanal, durch den sie uns zufließt.“

An diesem Bild hat nun Rihel seine Freude und rät seinem Freund, dies noch in den Text aufzunehmen. Solche Bilder seien wirklich allgemein verständlich und – vor allem – einprägsam. „Manche finden den Weg zu Beständigkeit im Glauben wohl deshalb so schwer, weil er in zwar klugen, aber abstrakten Gedanken weitergesagt wird“, kritisiert Rihel und will sich erheben. Da klopft es an der Tür, und ein Dienstmädchen tritt ein, knickst in Richtung Besuch und Hausherr. „Herr Calvinus, da stehen Leute vor der Tür, Flüchtlinge aus Paris. Unser Haus ist aber doch schon voll!“ – „Lass sie ein“, weist Calvin sie an, „wir werden sie unterbringen. Doch erst gib ihnen zu essen und zu trinken. Das wird ihre geschundenen Leiber stärken. Um ihre Seelen werde ich mich später kümmern.“

„Vermutlich mit Hilfe des Römerbriefs?“ will Rihel wissen und Calvin sagt: „Nun ja. Ich denke, dass die Summe der Religion in all ihren Teilen in diesem Brief enthalten ist. Und besonders der Abschnitt, den wir besprachen, vermag jede Seele zu stärken. Denn da spricht einer aus einer Erfahrung, die die Fliehenden auch machen mussten.“ – „Das ist wohl wahr,“ bestätigt Rihel, „auch jene, die von Arzt zu Arzt oder von Vergnügen zu Vergnügen fliehen. Doch wohin sie auch fliehen in ihrer Angst: Gott ist mit seiner Liebe schon da.“ Rihel greift in seine Kleidung und zieht ein Goldstück hervor. „Geben Sie das bitte den Flüchtlingen. Sie werden neue Kleider nötig haben.“ – „Auch darin zeigt Gott seine Liebe“, dankt Calvin und begleitet seinen Freund zur Tür.

Amen

Gebet:

Guter Gott, dieses Jahr geht seinem Ende entgegen. Vieles haben wir erfahren und erlebt, das uns gefreut hat. Wir haben es dankbar aus deiner Hand genommen. Doch auch Schmerz und Leid, Krankheit und Trauer brachte uns dieses Jahr. Wir sind nicht daran zerbrochen, sondern konnten sie ertragen. Voller Dankbarkeit können wir erkennen: Du hast uns durch die Zeit geleitet.

Unser Dank lässt uns für all die Menschen bitten, die hungern und frieren, die bedrängt und verfolgt werden, deren Leben durch Gewalt bedroht ist: Stärke du sie, dass sie ihren Glauben nicht verlieren, ihre Zuversicht behalten, neue Hoffnung gewinnen. Lass sie Gesten der Menschlichkeit erleben, Zeichen deiner Liebe entdecken. Auch bitten wir für die Verursacher von Not und Gewalt: Lass sie deine Liebe finden, dass sie von ihrem Unrecht ablassen können.

Guter Gott, vor uns liegt ein neues Jahr. Es wird uns Gutes und Schönes bringen und auch Schweres. Stärke du unseren Glauben, dass du mit allem was kommt für uns sorgst; mach uns darin gewiss, dass nichts uns von deiner Liebe trennen kann. Wir haben es in diesem Jahr erfahren, und darum gehen wir mit Zuversicht in ein neues.

Dankbar blicken wir zurück und hoffnungsvoll voraus. Was uns dabei in Herz und Sinn bewegt, bringen wir vor dich und beten gemeinsam: Unser Vater im Himmel …


Pfr. i.R. Paul Kluge, Detmold