Abraham eint und (unter)scheidet II

Von Bertold Klappert

I. Abschied von Modellen der Trialog-Verhinderung
II. Der Gott Abrahams — der Gott Isaaks, Ismaels und der Völker
III. Jesus Christus bringt den Segen Abrahams in die Völkerwelt
IV. Die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch
V. Die Ethik der Nachfolge Abrahams
VI. Epilog: Das Dialog-Modell der Nachbarschaft und WEG-Gemeinschaft

II.    Der Gott Abrahams — der Gott Isaaks, Ismaels und der Völker
These 2: An die Stelle der ausschließenden Kategorien von absoluter »Erfüllung«, »Vollendung« und »definitiver Endgültigkeit« muß als kategorialer Bezugspunkt von Judentum, Christentum und Islam die Gestalt und Geschichte Abrahams treten und damit die ihm geschenkte Segensverheißung: (1) für Isaak, den Ersterwählten (Judentum), (2) für Ismael, den Erstbeschnittenen und im Bund Gesegneten (Islam), (3) für die Christenheit aus den Völkern als die durch Jesus Christus Hinzuerwählten und Mitgesegneten (Christentum). — Der Gott Abrahams und der Sarah ist auch der Gott Ismaels und der Hagar und ist auch der Vater Jesu Christi und der Maria. — Die Mehrdimensionalität der Segensverheißung an Abraham schließt einen Rückgang auf Abraham unter Verneinung der anderen Verheißungsadressaten aus. Ein exklusiver Rückgang auf Abraham verstümmelt uns alle religiös, ja wir drohen uns selber von der Abrahamverheißung auszuschließen. — Der mehrdimensionale Abrahamsegen kann von Juden, Christen und Muslimen nur gemeinsam ergriffen und im gemeinsamen Dienst an der einen Menschheit weitergegeben werden.
Das Vaticanum II hat im Jahr 1965 grundlegend formuliert:
»Auch auf die Muslime blickt die Kirche mit Wertschätzung, denn sie verehren den einen Gott, der lebt und bleibt, der barmherzig und allmächtig ist, den Schöpfer des Himmels und der Erde und Sprecher zu den Menschen. Sie (die Muslime) streben danach, sich von ganzem Herzen sogar seinen unerforschlichen Befehlen zu unterwerfen, so wie es Abraham tat, mit dem sich der islamische Glaube besonders verbunden fühlt [26].«

Smail Balic hat über diese Erklärung sehr positiv geurteilt: »Diese von kompetenter kirchlicher Seite erstellte Islam-Darstellung (des Vaticanum II) hat in der katholischen Welt einen wahrhaft revolutionären Gemütswandel in bezug auf die Beurteilung des Islam herbeigeführt. Sie hat eine fremde Religion dem christlichen Menschen näher gebracht«. Balic folgert: »Mir scheint, daß der Dialog — von islamischer Seite her gesehen — dann eine [36] ökumenische Dimension hat, wenn er mit anderen monotheistischen Gemeinschaften geführt wird. Der Islam ist von Haus aus dem Judentum und dem Christentum gegenüber offen [27].«

Ich möchte die Aussagen des Vaticanum II aufgreifen, sie aber weiterführen, weil im Vaticanum II die Frage, ob Muslime und Christen zu demselben Gott beten, nicht beantwortet wird und weil auch im Vaticanum II eine Aussage über den Koran und Mohammed fehlt.

II.1   Der Gott Isaaks, Ismaels und der Völker
Der Gott Abrahams ist der Gott Isaaks, Ismaels und der Völkerwelt: In Gen 12 kommt es zu einer umfassenden Segensaussage für die Nachkommen Abrahams, für das Volk Israel. Aber über Isaak, d.h. Israel hinaus, ist auch Ismael Teilhaber der Segensverheißungen Abrahams: »Und ich will dich zu einem großen Volk machen [28].«

Die dritte Dimension der Segensverheißung gilt der Völkerwelt: »In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter der Erde [29].« Auf dem Hintergrund der Fluchgeschichte bis zum Turmbau von Babel verheißt Gott durch Abraham über Israel und Ismael hinaus eine Segensgeschichte auch für die Völkerwelt. Nach Gen 12, 1ff ist Gott nicht nur der Schöpfer (wie im Vaticanum II), sondem der Gott Abrahams, der die Teilhabe an dem Segen Abrahams in drei zu unterscheidenden, aber nicht trennbaren Dimensionen verheißt. Ja wir müssen noch einen Schritt weitergehen: die Hebräische Bibel spricht nicht nur von einer Beziehung Ismaels zum Schöpfergott, wie sie für alle Völker besteht, sondem viel intensiver von der Beziehung Ismaels zum Gott des ungekündigten Bundes.

II.2   Der ungekündigte Bund Gottes mit Isaak und Ismael
Die katholischen Theologen Norbert Lohfink und Erich Zenger haben in ihren Arbeiten zur Hebräischen Bibel überzeugend und nachdrücklich von dem niemals gekündigten Bund Gottes mit Israel gesprochen. Damit haben sie Martin Bubers 1933 wehrlos ausgesprochenes, dennoch richtiges und überlegenes Plädoyer für das Wissen Israels um den ungekündigten Bund Gottes mit Israel aufgenommen und weitergeführt: Der Bund Gottes mit Israel ist ungekündigt. Das ist ein Essential und die Basis des heutigen christlich-jüdischen Dialogs.

Aber nach dem 1. Mosebuch ist nicht nur Isaak/Israel, sondem ist,,auch Ismael/Islam Teilhaber dieses niemals gekündigten Bundes und seiner Bundesverheißung. Ismael ist nach Kapitel 17 in den Bund Gottes mit Abraham hineingenommen, ja er ist sogar vor Isaak beschnitten worden:

»Das ist aber der Bund zwischen mir und euch und deinen Nachkommen. Alles was männlich ist, soll beschnitten werden. Da nahm Abraham seinen Sohn Ismael und beschnitt ihn, noch am selben Tage, wie Gott ihm befohlen hatte. Sein Sohn Ismael war 13 Jahre alt [30].« Am selben Tag wurden Abraham und sein Sohn Ismael beschnitten, erst danach erfolgt die Verheißung der Geburt Isaaks.

II.3   Die Sympathie der Bibel für Ismael und Hagar
Michael Wyschogrod (USA) hat auf der Berliner Sommeruniversität 1991 von der Sympathie der Genesis-Texte für Hagar und Ismael gesprochen. Der Gott Abrahams hört das Schreien der unterdrückten Hagar, die heute in Gestalt der vergewaltigten muslimischen Frauen in Bosnien schreit. Der Israel erwählende Gott ist zugleich der Parteigänger für Ismael und Hagar, auch wenn dies die bleibende Ersterwählung Israels nicht aufhebt. Die Ersterwählung läuft — der Hebräischen Bibel zufolge — nicht über Hagar und Ismael, sondern über Sara und Isaak. Die Abraham-Gemeinschaft des Islam aber wird über Ismael, den Erstbeschnittenen, teilhaben an der Segensgeschichte dieses Abrahambundes, wie auch die Völkerwelt durch Jesus Christus teilhaben wird an der Segensgeschichte dieses Bundes.

II.4   Die Mehrdimensionalität der Segensverheißungen an Abraham
Wenn die Hebräische Bibel in dieser umfassenden Weise Ismael an den Segensverheißungen für Abraham beteiligt sein läßt, ihn in den Bund Gottes mit Abraham sogar als Ersten und Erstbeschnittenen einbezieht, und wenn der Gott Abrahams in dieser Sympathie, d.h. in diesem das Schreien der Hagar erhörenden Mitleiden sich Ismael und Hagar offenbart, dann wäre zu fragen: Warum bekennen wir uns heute in unseren Gottesdiensten — den richtigen Hinweisen der feministischen Theologie folgend — zwar zum Gott Abrahams und Saras, zum Gott Isaaks und Rebekkas, nicht aber auch in gleicher Weise zum Gott Ismaels und Hagars? Denn der Gott Abrahams und Saras ist immer auch der Gott Ismaels und Hagars. Die Selbigkeit dieses Gottes Abrahams, des Gottes Isaaks und Ismaels, kann von der Hebräischen Bibel her nicht offen gelassen werden, wie es das Vaticanum II und die Ökumene in Genf leider noch tun.

In dem heute angezeigten Rückbezug von Juden, Muslimen und Christen auf Abraham steckt ein Problem, das aus der Mehrdimensionalität der Segensverheißung Gottes an Abraham folgt: (1) aus der Segensverheißung an Isaak, (2) aus der Segensverheißung an Ismael und Hagar und (3) aus der Segensverheißung an die Völkerwelt, aus der wir Christinnen und Christen stammen. Das Problem ist das folgende: Wir gehen sehr oft — und die verschiedenen Adressaten der Segensverheißungen an Abraham haben das meistens getan und tun es weitgehend bis heute — auf Abraham zurück, indem wir zugleich die anderen Segensadressaten, die anderen Segensträger und deren andere Segensgeschichte ausdrücklich oder heimlich übergehen: Abraham ist dann nur Isaaks Vater und also nur der Juden Gott. Abraham ist dann nur der erste und urbildliche Muslim, und Abraham ist dann — und darauf komme ich gleich zu sprechen — nur der erste Christ, der — reformatorisch gesprochen — allein von der Rechtfertigung des Gottlosen lebt.

Die Mehrdimensionalität der Segensverheißung Gottes an Abraham (Gen 12, 1ff) hält uns aber dabei fest, daß ein Rückgang auf Abraham bzw. den Gott Abrahams unter Umgehung der anderen Verheißungsadressaten legitimerweise nicht unternommen werden darf. Die Segensverheißung an Abraham kann nur in ihrer Dreidimensionalität erkannt werden, oder sie wird überhaupt nicht erkannt. Die exklusive Begrenzung auf nur eine Dimension verstümmelt uns religiös und schließt uns am Ende von der Abrahams-Verheißung aus. Der Abraham-Segen kann in dieser Mehrdimensionalität nur gemeinsam von Juden, Muslimen und Christen ergriffen und heute nur gemeinsam an die Menschheit weitergegeben werden.  

III. Jesus Christus bringt den Segen Abrahams in die Völkerwelt
These 3: Die Sendung Jesu Christi und sein Isaak-Weg bis zum Kreuz (AQEDA) geschieht im Rahmen der Abrahamverheißung. Durch Christus wird Abraham auch zum Vater der Glaubenden aus allen Völkern (Röm 4,16). — Die Christenheit aus den Völkern nimmt teil am Segen Abrahams durch Jesus, den Juden, den David- und Abrahamsohn (Mt 1, 1), der als der verheißene Messias des Gottes Israels, als Prophet und Knecht Gottes den Isaak-Weg geht (Mk 1,11; 12,6) und so den Segen Abrahams in die Völkerwelt hinein vermittelt. Sein Kreuz steht — wie die Geschichte Abrahams — im Wendepunkt von der Fluchgeschichte der Menschheit (Gen 3-11; Gal 3,13) zur Segensgeschichte für die Menschheit (Gen 12,1ff; Gal 3,14). — Da Christus gekommen ist, um die den Vätern und Müttern gegebenen Verheißungen zu bekräftigen und festzumachen (Röm 15,8ff), nicht aber zu beseitigen, gilt dies auch für die der Abraham-Gemeinschaft in Ismael gegebenen Segensverheißungen (Gen 16f). — Eine durch Christus in den Raum der Abrahamverheißungen verwiesene ökumenische Theologie wird deshalb in ihrem Wirklichkeitsverständnis vier Größen in eine unauflöslich-praktische Beziehung zueinander setzen: (1) das Israel-Volk, (2) die Abraham-Gemeinschaft der Muslime, (3) das ökumenische Christusvolk aus allen Nationen, — alle mit und in Abraham erwählt zum Dienst der Humanität (4) an den Völkern, d.h. in und mit Abraham berufen zum Eintreten für die eine und unteilbare Menschheit.

Der Gott Abrahams, Isaaks und Ismaels — das ist ein Essential des Neuen Testaments und definiert uns Christinnen und Christen — ist der Vater Jesu Christi, und Jesus Christus ist sein messianischer Sohn. Dieser hebt die Segensverheißungen an Abraham aber nicht auf, sondern bekräftigt sie durch seine Sendung und sein Leiden bis zum römischen Foltertod am Kreuz. Deshalb steht die Sendung Jesu Christi vor allem im Rahmen der Abraham-Verheißung für Israel und ist eine jeweils verschiedene — für Israel, für die Christenheit und für die Muslime. Das möchte ich im folgenden entfalten. 

III.1  Die Sendung Jesu Christi im Horizont der Abrahamverheißung (Mt 1,1)
Erstaunlicherweise in seiner theologischen Bedeutung von der Christenheit weitgehend verdrängt, beginnt der erste Satz des Neuen Testaments mit einem Stammbaum von 3x 14 Generationen, der die Geschichte Jesu Christi zunächst in die messianischen Hoffnungen Israels und des Judentums einbettet. Leo Baeck, Repräsentant des europäischen Judentums vor und nach Auschwitz, nach der SHOAH, hat in seiner Schrift »Das Evangelium als Urkunde jüdischer Glaubensgeschichte« (1938) und in dem in seinem Todesjahr gehaltenen Vortrag »Judentum, Christentum, Islam« (1956) dazu Wegweisendes gesagt: Die Jünger und Jüngerinnen haben Jesus als den verheißenen Messias des Gottes Israels verstanden, der die messianischen Verheißungen des Gottes Israels erweckt, bekräftigt und anfangend realisiert (Apg 10,36ff). Jesus Christus wird aufgrund der Hall-Stimme vom Himmel (Mk 1, 11) als der messianische Sohn Gottes insofem bekannt, als sich in ihm die Wirklichkeit und Wahrheit des Volkes Israel, das zuerst und von Haus aus »Sohn Gottes« genannt wird, verdichtet und verpersönlicht.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang weiter, daß auch Israel seinen König-Messias in den Horizont der Segensverheißungen an Abraham hineingestellt hat: Der messianisch interpretierte Königspsalm 72 schildert die Hoffnungen Israels und bekennt, daß der Segen Abrahams durch den messianischen König in die Völkerweit vermittelt wird: Er — dieser messianische König — erbarmt sich des Geringen und Armen, den Seelen der Armen hilft er, von Druck und Gewalttat erlöst er sie, und ihr Blut ist kostbar in seinen Augen. Sein — des Königs — Name soll ewiglich bleiben und »mit seinem Namen (also dem des messianischen Königs) sollen sich Segen wünschen alle Geschlechter der Erde, alle Völker sollen ihn glücklich preisen [31]«.

Indem nun aber Jesus Christus, der verheißene Messias (Mt 1,1a), auch als Sohn Abrahams kommt und wirkt (Mt 1,1b), wird deutlich: Als der verheißene Messias Israels des Gottes Israels, der gekommen ist, um die den Vätem gegebenen Verheißungen zu bestätigen (Röm 15,8), steht Jesus im Raum der Abraham-Verheißungen, kommt er als Mittler zwischen Israel und den Völkern, um die den Vätern gegebenen Verheißungen Israel gegenüber zu befestigen und an die Völkerwelt zu vermitteln (Röm 15,8f).  

Der erste Satz des Neuen Testaments, Mt 1,1, will also zusammen mit dem letzten Abschnitt des Matthäus-Evangeliums, Mt 28,16-20, verstanden werden: Die Christenheit aus allen Völkem nimmt durch Jesus Christus, den verheißenen messianischen Befreier Israels und der Völker, teil am Segen Abrahams für Israel, für Ismael und die Völkerwelt.

III.2  Das Leiden Christi im Raum der Abrahamverheißung (Gal 3,13f)
Jesus ist nach Mk 1,11 durch die Stimme Gottes bei seiner Berufung nicht nur zum messianischen Sohn gesalbt worden: »Du bist mein Sohn«, sondern die Stimrne vom Himmel enthält ein weiteres Element, das meistens überlesen und ausgeblendet wird, nämlich: »Du bist mein Sohn, der Geliebte«. Diese Aussage verweist uns auf Gen 22,2: Gott sprach zu Abraham: »Nimm deinen Sohn, den einzigen, den du lieb hast, den Isaak«. Der Isaak-Weg, den Jesus als der einzige Sohn, der Geliebte, bis zum römischen Folterkreuz geht, stellt das Leiden und die Kreuzigung Jesu in den Zusammenhang der Bindung Isaaks, des jüdischen AQEDA-Leidens. Ein Zusammenhang, der von den Leiden der jüdischen Märtyrer der Makkabäer über die Verfolgungen des Mittelalters bis zur SHOAH reicht.

Im Gleichnis von den Weinbergpächtern (Mk 12,Iff) heißt es im Anschluß an die göttliche Sendung der verfolgten und getöteten Propheten Israels in Mk 12,6: »Und dann hatte er noch einen, den Sohn, den Geliebten«. Das ist wiederum ein Zitat von Gen 22,2. Ich folgere daraus: Indem Jesus in Treue zur Tora vor der Schmach der Verwerfung durch die sadduzäische Hierarchie und vor der Qual und Schande der römischen Kreuzigung nicht zurückscheut, besteht er die Prüfung Isaaks. Als der geliebte Sohn seines Vaters im Himmel (Mk 1,11 = Gen 22,1) nimmt er die römische Folterung der Kreuzigung auf sich im Gehorsam gegen das Erste Gebot, in der Heiligung des göttlichen Namens. Die ganze Sendung Jesu Christi wird damit zur Erfüllung des Ersten Gebots. Und so ist es nicht zufällig, sondem höchst sachgemäß, daß das Kreuz Christi von Paulus in Gal 3,13f so verstanden wird: Es ist der Wendepunkt von der Fluchgeschichte der Völkerwelt hin zur Segensgeschichte für die Völkerwelt. Wie die Berufung Abrahams und die mehrdimensionale Segensverheißung an Abraham auf dem Hintergrund der Fluchgeschichte der Welt steht, so kommt durch das Kreuz Jesu, des Abraham-Sohnes und Abraham-Erben, der Segen Abrahams in die Welt (Gal 3,12). Wie die Sendung Jesu in Wort und Werk, so steht auch seine Kreuzigung im Raum der Abrahamverheißung und wird sein Kreuz zum Wendepunkt von der Fluch- zur Segensgeschichte. Das Kreuz Christi steht am Schnittpunkt der Fluchgeschichte der Welt und der Segensgeschichte Abrahams. So wird das Kreuz zu dem Ort, von dem her Israel und die Völkerwelt versöhnt und so unter die umfassende Segensverheißung Abrahams gestellt werden.

III.3 Abraham — der Vater auch der Glaubenden aus den Völkern (Röm 4,16)
Der amerikanische Theologe Paul van Buren hat eine dreibändige Theologie des Judentums veröffentlicht [32]«. Da der erste ins Deutsche übersetzte Band seiner Trilogie kaum verkauft wird, werden auch die beiden anderen Bände seines umfassenden Werkes nicht im Deutschen erscheinen — ein für die wissenschaftliche Theologie entlarvendes Faktum. 

Die von van Buren überzeugend entfaltete Grundthese lautet: Paulus konnte Christus unter den Völkern deshalb predigen, weil er Christus als die Bestätigung der dem Abraham zugesprochenen Verheißung an die Völker verstand, als Bestätigung der Verheißung, daß er (Abraham) Vater vieler Völker würde. Jetzt sah Paulus, daß die Verheißung an Abraham durch eben seine Sendung, seinen Apostolat sich realisieren sollte. Er wußte sich durch seine Sendung zum Mitarbeiter an der sich realisierenden Verheißung berufen. Durch das Kommen Christi erfährt die an Abraham ergangene Verheißung nun auch für die Völkerwelt ihre Bestätigung und anfangende Realisierung, weil nun Gott seine Verheißung an Abraham so erfüllt, daß er nicht nur Vater seines Sohnes Isaak und nicht nur Vater seines Sohnes Ismael, sondern auch Vater der Nichtjuden sein wird.

In Röm 4 entfaltet Paulus unter dem Leitmotto »Abraham nicht nur Vater Israels, sondern auch der Menschen aus der Völkerwelt« diesen Sachverhalt. Er bedient sich dabei nicht einer uns geläufigen Logik der Ausgrenzung und Ausschließung. Er bedient sich dabei vielmehr einer Logik der Einbeziehung und offenen Grenzen, der Logik des an der Hebräischen Bibel geschulten jüdischen Denkens von Gott, der nicht nur der Vater Israels, sondern auch der Vater der Menschen aus der Völkerwelt ist, wie Paulus gut jüdisch fragt: »Ist Gott nur der Juden Gott und nicht auch der Völker?« Und antwortet: »Doch, auch der Völker, wenn denn Gott einer ist« (Röm 3,29).  

Ich habe mich bewußt dieser Formulierung »Abraham — der Vater auch der Glaubenden aus den Völkern« bedient, und ich stelle jetzt zwei Fragen:
Die erste Frage lautet: Wem gehört Abraham? Abraham ist, so lautet das beinahe einstimmige Urteil der protestantischen Exegese, die Urgestalt des von Gott gerechtfertigten Menschen. Abraham ist das Urbild des protestantischen Christen. Ich zitiere die erstaunlichen Sätze des Neutestamentlers G. Klein, der damit durchaus nicht allein steht: Paulus »hat den Abbau der jüdischerseits beanspruchten Abrahamssohnschaft zum Ziel«. Mit Paulus steht fest, »daß es außerhalb der christlichen Gemeinde keine Abrahamssohnschaft gibt und es ante Christum (vor dem Kommen Christi) eine solche überhaupt niemals gegeben hat [33]«. 

Der katholische Neutestamentler Franz Mußner hat demgegenüber in dem Beitrag »Theologische Wiedergutmachung am Beispiel des Galaterbriefes [34]« mit dem Untertitel »Wem gehört Abraham?« deutlich gemacht: Thema des Paulus ist nicht die ausschließliche Abrahamssohnschaft der Christen, sondern die »Einbeziehung (auch) der Menschen aus der Völkerwelt in die dem Abraham zugesagte Verheißung, daß 'gesegnet sein werden in dir alle Völker' [35]«. 

Wie Abraham im Sinne der Logik der Ausschließung in der protestantischen Exegese bis heute als der erste aus der Rechtfertigung des Gottlosen lebende Christ, so wird auch im Koran »Ibrahim (als) der erste Muslim aus der prophetischen Vorgeschichte« verstanden. Deshalb hat sich der Islam vom Judentum und Christentum abgewandt, »weil er in Abraham den vollkommenen religiösen Menschen vor der jüdisch-christlichen Offenbarung, die dieses (Abraham-) Bild entstellt hat, gefunden hatte [36]«. Deshalb wird in kritischer Abgrenzung von den dem Islam zeitlich vorausgehenden abrahamitischen Überlieferungen des Judentums und des Christentums im Koran von Abraham gesagt: »Wahrlich, mein Herr hat mich auf einem geraden Weg rechtgeleitet: eine festgegründete Religion, die milat Ibrahim (Religion Abrahams), der ein hanif war und nicht zu den Götzendienern gehörte« (Sure 6, 161).

Die zweite Frage lautet: Wer ist im Neuen Testament das Israel Gottes?
Die Tradition der Kirche seit dem 2. Jahrhundert gibt bis ins 20. Jahrhundert hinein die Antwort: Das Israel Gottes ist die Kirche exklusiv nur sie, bestehend aus Judenchristen und Heidenchristen unter Ausschluß von Israel-Judentum. Demgegenüber hat wiederum Mußner bahnbrechend für ein anderes Verständnis plädiert, indem er den Israelnamen dort beläßt, wo er nach Paulus (auch nach Gal 6,16) hingehört: Er ist niemals die Bezeichnung der Kirche, sondem immer die Auszeichnung Israels. Er meint, was er sagt: Israel und nicht die Kirche! Die Kirche ist nicht Israel. Die Kirche wird im ganzen Neuen Testament nirgendwo als Israel bezeichnet oder mit dem Israelnamen benannt. 

III.4   Die vier Dimensionen der Abrahamverheißung
Standen wir mit Franz Mußner am Punkt einer Revolution im Bereich der Exegese, die noch nicht abgeschlossen ist, so stehen wir mit der Arbeit des Berliner Systematikers Friedrich-Wilhelm Marquardt am Anfang einer Revolution in der Systematischen Theologie, die noch kaum zur Kenntnis genommen worden ist, und zwar nicht zur Kenntnis genommen im Hinblick auf die Bedeutung der Berufung Abrahams: Die Abraham-Berufung darf nicht nur ausschließlich als Urbild der christlichen Berufung (miß-)verstanden werden. Vielmehr übergreift die Berufung Abrahams die Berufung der Christen und Christinnen bei weitem. Marquardt hat sein Buch nicht zufällig eine Dogmatik der Umkehr und Erneuerung genannt und seinen Prolegomena den bezeichnenden Titel: »Von Elend und Heimsuchung der Theologie« (1988) gegeben.

In einem mehr als 110 Seiten umfassenden Paragraphen mit der Formel »Abraham unser Vater«, deren Verständnis in der Theologie auf das Thema der Berufung der Christen verengt und reduziert wurde, entfaltet Marquardt die Dimensionen der Abrahamgeschichte, an der auch wir Menschen aus der Völkerwelt durch den Messias Jesus teilnehmen (Prolegomena § 6). So wird im Lobgesang der Maria »die ganze Jesusverkündung ins Zeichen der Abraham-Verheißung gestellt«: Der Gott Israels hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, um der Barmherzigkeit zu gedenken, die er unseren Vätern versprochen hat, Abraham und seiner Nachkommenschaft in Ewigkeit (Lk 1,73; 1,55). Zacharias stellt in seinem Lobgesang die Jesusgeschichte ebenfalls ins Zeichen der Abraham-Verheißung gegenüber Israel-Judentum: Gepriesen sei der NAME, der Gott Israels, denn er hat sich seines Volkes Israel angenommen und ihm anfangende Erlösung bereitet. Errettung aus der Gewalt unserer Feinde und aus der Hand aller, die uns hassen. Zu gedenken seines Bundes, den er Abraham, unserem Vater, geschworen hat, damit Israel, erlöst aus der Gewalt seiner Feinde ohne Furcht IHM dienen kann in Heiligkeit und Gerechtigkeit (Lk 1,68-75). Marquardt folgert daraus:

»Die Tatsache, daß im Neuen Testament die Jesusverkündigung und das Verständnis des christlichen Glaubens mit der Geschichte und dem Glauben Abrahams in Verbindung gebracht worden sind, kann man in ihrer Bedeutung schwer überschätzen [37]«. Durch Jesus Christus, den verheißenen Messias Israels, wird die Christenheit in eine Beziehung gesetzt: einmal zum jüdischen Volk, zum andern zur Geschichte der gesamten Menschheit [38]. Aber — und das ist meine Anfrage an Marquardt: Auch in diesem revolutionären Abraham-Kapitel vermißt man schmerzlich eine Dimension der Abraham-Nachkommenschaft und Abrahamverheißung, nämlich die Beziehung auf die Abraham-Gemeinschaft der Muslime und die Ismael-Verheißung. Das ist um so auffallender, als Marquardt den zweiten Band seiner Dogmatik »Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie« mit einem Kapitel »Jesus außer Landes« einleitet und unter den nichtchristlichen Verständnisweisen Jesu eben auch »Jesus unter Moslems« behandelt [39]. Alle wichtigen Einsichten Marquardts zu Abraham, die ich hier nur nachdrücklich unterstreichen kann, sind deshalb um eine weitere und wichtige Dimension zu ergänzen, so daß ich im engen Anschluß an Marquardt, zugleich aber auch über ihn hinaus folgende These formuliere:

Die Menschen aus den Völkern, die Söhne und Töchter Abrahams werden sollen, werden eben damit auch Geschwister der leiblichen Kinder Abrahams, der Juden und der Muslime. Nur in der Geschwister-Beziehung zum Judentum und Islam hat Kindschaftsbeziehung zu Abraham einen guten Sinn. Unsere in Jesus Christus vollzogene Mitberufung zu Abrahamkindern stellt die ökumenische Kirche in eine Beziehung zum Israel-Volk, dem Judentum, zur Abraham-Gemeinschaft, dem Islam, und zu der einen, unteilbaren Menschheit, der der ungeteilte Segen Abrahams letztendlich gilt. Indem die Theologie diesen vier Dimensionm der Abraham-Verheißung heute biblisch nachdenkt, nämlich der Israel-Dimension, der Ismael-Dimension, der Christus-Dimension und der Völker-Dimension, kommt sie ökumenisch auf verbindliche Wege. 

IV. Die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch
These 4: Da Abraham nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit ist, sondern eine Geschichte unabgegoltener Verheißungen repräsentiert, wird sich eine ökumenische Theologie auch der Frage nach der Realisierung der dem Abraham gegebenen Ismael-Verheißung stellen müssen. Und sie wird dann über das Bekenntnis zur Selbigkeit des Gottes Abrahams in Judentum, Christentum und Islam hinaus auch den als Gesandten des Gottes Abrahams betrachten, durch den allein die Muslime zur Anbetung des einzigen Gottes geführt worden sind und durch den der Gott Abrahams zu der Abraham-Gemeinschaft gesprochen hat: Muhammed, den Gesandten Gottes (H. Küng / W. Zimmerli). — Eine ökumenische Theologie des Heiligen Geistes (K. Barth) wird die Verbindung zum Judentum und zum Islam nicht nur zu Abraham, dem Vater der Juden, Muslime und Christen, nach rückwärts verfolgen. Sie wird diese Verbindung im Wissen um die sich in der Ausgießung auf alles Fleisch (Joel 2) realisierende Abrahamverheißung auch nach vorwärts suchen. Weiß sie doch seit Schawuot-Pfingsten, dem Gründungsfest der Christenheit, daß Geistempfang (Acta 10; Gal 3,2) in jedem Fall Mitgesegnetwerden mit dem glaubenden Abraham bedeutet (Gal 3,9).

Wir kommen an dieser Stelle zurück auf G.E. Lessings Schrift über die »Erziehung des Menschengeschlechts« (1780). Im Anschluß an Joachim von Fiore und dessen Erwartung eines Zeitalters des Geistes hatte Lessing das Zeitalter der wahren und alle Menschen umfassenden Humanität erwartet und in seinen Aufklärungsschriften beispielhaft und tatkräftig gefördert.

Dabei nehmen wir Lessings Hinweis nunmehr verändert auf. Denn das erwartete Zeitalter des Geistes, der Humanität und der Toleranz war bei Lessing gerade durch den Überschritt über die sich auf Abraham beziehenden Glaubens- und Abstammungsgemeinschaften — Juden, Muslime, Christen — hinaus gekennzeichnet, war also ein Modell von Toleranz ohne religiöse und glaubensbestimmte Identität. Wir gehen anders als Lessing mit dem Neuen Testament davon aus, daß die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch zu Pfingsten das Gründungsereignis des ökumenischen Gottesvolkes aus allen Nationen ist, daß aber dieses Gründungsereignis der Kirche nicht die Überschreitung und Beseitigung, sondern die anfangende Realisierung der dem Abraham für die Völker gegebenen Verheißungen darstellt. Und wir sagen: Die Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch, die die alttestamentliche Prophetie mit Joel erwartet, ist die sich realisierende Abraham-Verheißung für Juden, Christen, Muslime und die ganze Menschheit. In Joel 2 heißt es:
»Und danach wird es geschehen, daß Ich Meinen Geist ausgießen werde auf alle Menschen, und eure Söhne und Töchter werden weissagen, und eure Jugendlichen werden Gesichte sehen; auch über die Knechte und Mägde werde Ich in diesen Tagen Meinen Geist ausgießen.« 

IV.1 Christus als die Bestätigung der dem Abraham gegebenen Verheißungen
Indem wir von der Hebräischen Bibel und vom Neuen Testament her nach der Ausgießung des Geistes Gottes auf alles Fleisch fragen, fragen wir nach der Realisierung der dem Abraham gegebenen Verheißungen für das Israel-Volk der Juden, für das Christus-Volk der Christen und für die Abraham-Gemeinschaft der Muslime. Wir gehen also nicht von einer allgemeinen Schöpfungsoffenbarung aus, sondern von Pfingsten / Schawuot als der anfangenden Realisierung der Abraham-Verheißung in die Christenheit und die Welt hinein. 

Wir vergessen bei diesem Überschritt zur universalen Geistverheißung und verheißenen Geistausgießung der Hebräischen Bibel nicht die in den bisherigen Abschnitten I - III erarbeiteten Voraussetzungen. Wir bedienen uns also nicht des auf dem Boden der sog. natürlichen Theologie stehenden Toleranzmodells von H. Küng: Küng grenzt sich zwar mit Recht von der »Exklusivitätsseuche« des frühkatholischen Satzes »Außerhalb der Kirche kein Heil!« ab [40]. Küng orientiert sich dann aber — wie auch das Vaticanum II — bei der positiven Entfaltung des Toleranzgedankens gegenüber den Muslimen lediglich an der Tradition der natürlichen Theologie, die auch in anderen Religionen verstreute Funken der göttlichen Wahrheit, sog. logoi spermatikoi, voraussetzt und anzuerkennen bereit ist. Diese Tradition rechnet von der »Schöpfungsoffenbarung« Gottes an alle Menschen, also von dem Bund Gottes mit der ganzen Schöpfung und Menschheit (Noahbund) her mit Wahrheiten auch in der Geschöpfwelt und also auch den Religionen, »so daß für sie sogar Platon, Aristoteles und Plotin ‘Pädagogen’ zu Christus waren [41]«. Schwierig bleibt freilich bei diesem Toleranzdenken, daß hier die Abrahamgemeinschaft der Muslime nur unter die allgemeine Schöpfungsoffenbarung Gottes an alle Menschen (1. Artikel), nicht aber unter das Besondere der Abraham-Verheißung und des Abraham-Bundes zu stehen kommt. Der Toleranzgedanke nur auf der Basis der Schöpfungsoffenbarung stellt die Muslime lediglich auf die Stufe aller Menschen, auch der Nicht-Monotheisten. Das Modell der Toleranz aufgrund der allgemeinen Schöpfungsoffenbarung Gottes in allen Religionen leugnet aber, daß die Abraham-Gemeinschaft der Muslime in den Horizont des Abraham-Bundes gehört und unter dem besonderen Abraham-Segen steht.

Indem wir von der Hebräischen Bibel und ihrer Bundesverheißung her, indem wir vom Neuen Testament und von Jesus Christus her (2. Artikel) nach der Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch (3. Artikel) fragen, fragen wir nach der anfangenden Realisierung der dem Abraham gegebenen Verheißungen für das Israel-Volk der Juden, für das ökumenische Christus-Volk der Christen und für die Abraham-Gemeinschaft der Muslime, wobei wir also die Muslime nicht mit Küng unter die allgemeine Schöpfungsoffenbarung einordnen, sondern der spezifischen Offenbarung Gottes an Abraham und Ismael-Hagar zuordnen.

Eine ökumenische Theologie des Heiligen Geistes wird deshalb die Verbindung zum Judentum und zum Islam nicht nur über Abraham, den Vater der Juden, Christen und Muslime, nach rückwärts finden. Sie wird diese Verbindung im Wissen um die in der Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch sich realisierende Abrahamverheißung auch nach vorwärts suchen. Weiß sie doch seit Schawuot / Pfingsten, dem Gründungsfest der Christenheit, von der Ausgießung des Geistes Gottes auf alles Fleisch (Joel 2, Acta 2) und davon, daß Geistempfang in jedem Fall Mitgesegnetwerden mit dem glaubenden Abraham bedeutet. 

IV.2 Barths Vision einer ökumenischen Theologie des Heiligen Geistes
Smail Balic hat darauf hingewiesen, daß die dialektische Theologie Karl Barths wesentlich zum innerchristlichen Dialog geführt hat [42]. Auch Barths bekannte These von der Offenbarung Gottes als Aufhebung der Religion dient diesem Dialog [43]. Sie ist nämlich nicht eigentlich religionskritisch nach außen gerichtet, wie immer wieder fälschlich behauptet wird, sondern — wie Barth öfters gesagt hat — nach innen in den Raum der christlichen Religion hinein: Das Evangelium bedeutet die Krisis und Kritik der christlichen Religion und ihres Fundamentalismus und Imperialismus und ihrer schrecklichen Schuldgeschichte von Gottes Offenbarung in Jesus Christus her!

Barths Christologie des ungekündigten Bundes hat bekanntlich zum christlich-jüdischen Dialog beigetragen, Barths Vision einer von daher zu entfaltenden ökumenischen Theologie des Heiligen Geistes, die er Freunden noch mündlich mitgeteilt hat, ist leider nicht mehr zur Ausführung gelangt. Barth: hat aber in diesem Zusammenhang ausdrücklich von deren Bedeutung für den christlich-muslimischen Dialog und für das Verständnis des Verhältnisses von Bibel und Koran gesprochen.

Im Unterschied zu Lessings Erwartung eines dritten Zeitalters des Geistes auf der Basis der Aufklärung (freilich mit viel Sympathie dafür!), im Unterschied zu Schleiermachers Theologie des Heiligen Geistes unter Ausschluß des Alten Testaments und des Judentums, im Unterschied zu H. Küngs Theologie der Schöpfungsoffenbarung Gottes an alle Menschen mit Einschluß der Muslime, auch im Unterschied zu W. Pannenbergs Modell vom Christentum als der überlegenen und insofern absoluten Religion hat Barth in seinen letzten Lebensjahren von »einer Theologie des Heiligen Geistes als eines noch umfassenderen Unternehmens« gesprochen und in diesem Zusammenhang auch auf den Dialog mit den Muslimen und die nötige Verständigung über das Verhältnis von Bibel und Koran ausdrücklich hingewiesen [44].

Diese ökumenische Theologie des Heiligen Geistes, die den Dialog mit dem Judentum als der Wurzel zur Voraussetzung hat, rechnet seit Pfingsten mit dem Übergreifen der Prophetie Jesu Christi auf alle Menschen und alle Völker, die sich in der Ausgießung des Geistes Gottes auf alles Fleisch (Joel 2) konkretisiert. Einer Ausgießung, mit der die Christenheit nach Pfingsten rechnet (Acta 10) und von welcher Verheißung aus sie den Dialog mit den Muslimen führen kann und führen darf.

Eine solche ökumenische Theologie des Heiligen Geistes würde im Blick auf die Muslime ernst nehmen, was Paulus als apostolische Weisung der Christenheit auf den Weg gegeben hat: »Den Geist dämpfet nicht. Prophetische Rede (warum dann nicht auch die Mohammeds?) verachtet nicht. Prüfet alles, das Gute behaltet« (1. Thess 5,9-21).

Ein ähnliches Konzept wie Karl Barth vertritt — ohne Barths Vision eines ökumenischen Dialogmodells zu kennen — der Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger in seinem höchst informativen Artikel »Heiden. Heidenchristentum [45]«. Gegenüber dem traditionellen Modell der verstreuten Funken der einen Wahrheit auch in anderen Religionen von der Alten Kirche bis zu H. Küng, urteilt Berger zu Recht: »Die Frage ist jedoch, ob man so dem Selbstverständnis anderer Religionen gerecht wird und nicht gleichzeitig das Christentum verkürzt.« Positiv vertritt Berger — ganz ähnlich wie Barth — ein »Modell konzentrischer Kreise«, demzufolge das Judentum zur Wurzel des Christentums zählt und deshalb »schwerlich als eigene Religion vom Christentum abzutrennen« ist [46]. Der christlich-jüdische Dialog ist die Basis und die Voraussetzung aller anderen Dialoge: »Jede christliche Bestimmung des Verhältnisses zu fremden Religionen sollte sich daran erinnern, daß den Christen durch ihre Einbeziehung in die Geschichte des jüdischen Gottesvolkes in bestimmter Hinsicht die Hände gebunden sind; als Nur-Hinzugekommene können sie die ‘Rechnung nicht ohne den Wirt machen’, d.h. sie müssen das Verhältnis Israels zu den Fremdreligionen mitbedenken«. Von dieser axiomatischen Voraussetzung der Verwurzelung des Christentums im Judentum her »gibt es dann aber Religionen .... die dem Christentum besonders nahestehen, z.B. der Islam«. Dieser Dialog mit dem Islam sollte nach Berger »einen ersten ‘Ring’ bilden, in dem auch die theologische Gemeinsamkeit weit reicht, ein weiterer Ring wären andere Hochreligionen (Buddhismus, fernöstliche Religionssysteme)« [47].

Wichtig sind in diesem Zusammenhang Bergers Ausführungen zur Gabe des Geistes an Nicht-Juden: »Denn allein der Geist Gottes, der im Auferstandenen wirkt, bringt Menschen in eine unüberbietbare Nähe und in ein Kindschaftsverhältnis zu Gott« (Gal 4,6) [48]. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang Bergers Verknüpfung zwischen der Geistbegabung und Abrahamverheißung: »Doch dieser Geist [die zu Pfingsten und nach Pfingsten erfolgte Geistbegabung] an Nichtjuden ist nichts anderes als die Verheißung an Abraham (Gal 3,8.14), und daher sind die Heidenchristen nur als zu Israel Hinzugekommene theologisch denkbar (Ölbaumgleichnis in Röm 11,15-24). Damit... erlangen sie ihr Christsein, betrachtet man es aus der Perspektive Israels, nur dadurch, daß sie seit und mit Jesus in Gottes Geschichte mit Israel einrücken dürfen«, wobei »die nichtchristlichen Juden Gottes auserwähltes Volk« bleiben [49]. Soviel zu Klaus Bergers wichtigen exegetisch-systematischen Hinweisen.

Mit dem Jahre 1967/68 stoßen wir also bei Barth auf Aussagen, die die Richtung der positiven Inbeziehungsetzung Jesu Christi zu den Religionen weiter präzisieren und konkretisieren; konkretisieren freilich nicht von der allgemeinen Schöpfungsoffenbarung, sondern von der Ausgießung des Geistes auf alles Fleisch her. Ich nenne folgende Dokumente:
1. Barths zu dem fälligen Dialog mit den Muslimen: Barth stellt über die theologisch verbotene Einordnung des Judentums in den Bereich der nicht-christlichen Religionen und über ein fehlendes Schuldbekenntnis der Katholischen Kirche zur Verfolgungs- und Auslöschungsgeschichte gegenüber dem Judentum hinaus die Frage, ob »bei Erwähnung der Muslime ein solches (Schuldbekenntnis) in Erinnerung an die fatale Rolle der Kirche in den sog. Kreuzzügen« nicht auch am Platz gewesen wäre [50].

Ein Jahr später — im Jahr 1968 — schreibt Barth einen Brief an H. Berkhof (Leiden), in welchem er über ein Gespräch mit dem Islamwissenschaftler J. Bouman aus dem Libanon berichtet: »In der theologischen Würdigung der dortigen Lage (im Libanon) ... waren wir aber völlig einig« und auch darin, daß »eine neue Verständigung über das Verhältnis von Bibel und Koran für uns eine dringende Aufgabe« sei [51].

2. Barths letztes Gespräch über den fälligen Dialog mit den Religionen: Jürgen Fangmeier berichtet, daß Barth mindestens dreimal in den letzten Jahren seines Lebens auf die Frage des fälligen Dialogs mit den Religionen von sich aus zu sprechen gekommen sei. Wenn er, Barth, noch Zeit und Kraft hätte, so würde er sich noch intensiver beschäftigen a) mit dem römischen Katholizismus; b) mit den Ostkirchen; e) gleicherweise und gleichstimmig mit den Religionen.

In diesem Zusammenhang ist die folgende Gesprächsnotiz von Jürgen Fangmeier wichtig:
»Als ich im September 1968 das letzte Mal bei Karl Barth sein konnte, sprach er davon, womit er sich beschäftigen würde, wenn er noch Jahre theologischen Schaffens vor sich hätte. Und er nannte nach dem römischen Katholizismus die Ostkirchen und dann die nicht-christlichen Religionen; aber, so fügte er hinzu, ganz anders, als man in der Regel daran gehe: nicht so (sei der Dialog mit den Religionen zu führen), daß das Allgemeine die Basis sei, auf der sich dann vielleicht Jesus Christus als der Gipfel höchster erheben soll, sondern daß Jesus Christus der Grund sei, von dem her mit den Religionen vielleicht ein noch ganz neues Gespräch zu eröffnen wäre« [52].

Nach Johannes 14,6 ist Jesus der WEG, die WAHRHEIT und das LEBEN. Aber das hebt Joh 4,22 nicht auf: »Das Heil kommt von den Juden.« Und beides hat bei sich die Verheißung Jesu vom messianischen Tröster, den Gott in Gestalt des Geistes senden wird: »Und ich werde den Vater bitten und er wird euch einen anderen Beistand geben, damit er in Ewigkeit bei euch sei, den Geist der Wahrheit« (Joh 14, 16f). Diese Tradition des verheißenen Parakleten konnte von Muslimen in verschiedenen Zeiten und Epochen mit Muhammed, dem »Gepriesenen«, in Verbindung gebracht werden [53].

IV.3 Die Sendung des geistbegabten Gesandten durch Gott (Muhammed)
Smail Balic hat in seinem wegweisenden Aufsatz »Worüber können wir sprechen? Theologische Inhalte eines Dialogs zwischen Christen und Muslimen« zum Verhältnis der Christen und Muslime folgendes ausgeführt: »Es ist undenkbar, daß ein Islambekenner sich über Jesus, seine Mutter und seine Jünger abfällig äußern könnte. Hier liegt ein wichtiger Verhaltensunterschied vor. Bei den Christen fehlt diese über das Eigene hinausgehende Sicht, m.a. W.: der Christ fühlt sich gegenüber Muhammad zu keinerlei Respekt verpflichtet« [54]. Genau das hat der katholische Missionstheologe Ludwig Hagemann im Blick auf das Vaticanum II moniert: Das Vaticanum II betont die Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam im Hinblick auf den einen, einzigen Gott, aber »ausdrücklich ausgeklammert wurde der muslimische Glaube an die Sendung Mohammeds« [55].

Von katholischer Seite hat Hans Küng in seinem Buch »Christentum und Weltreligionen« (1984) deshalb gemeint: Wenn das Vaticanum II »auch Muslime mit Hochachtung betrachtet, die den alleinigen Gott anbeten, dann müßte m.E. dieselbe Kirche und müßten alle christlichen Kirchen auch den einen mit Hochachtung betrachten, dessen Name in jener (vatikanischen) Erklärung (und ich ergänze: auch in den ökumenischen Erklärungen aus Genf) aus Verlegenheit verschwiegen wird, obwohl doch er und er allein die Muslime zur Anbetung dieses einzigen Gottes geführt hat und nun einmal durch ihn dieser Gott zu den Menschen gesprochen hat: Mohammed, den Propheten!« [56]

Neben Hans Küng auf katholischer Seite steht auf protestantischer Seite nur mein alttestamentlicher Lehrer Walther Zimmerli: Er hat schon im Jahre 1943 in einer radikalen Abwendung von dogmatischen Vorurteilen seines Lehrers Emil Brunner gegen den Islam einen Aufsatz verfaßt: »Der Prophet im Alten Testament und im Islam«. Er sagt dort zunächst: »Der Titel rasul entspricht etymologisch genau dem neutestamentlichen apostolos« [57]. Diese Beobachtung leitet ihn so dann zu der entscheidenden Frage: »Ist Muhammeds Prophetie echt?« [58]. Und Zimmerli antwortet, indem er die Berufung der alttestamentlichen Propheten und das dabei beobachtete Phänomen, daß die Propheten vom Worte Gottes gegen ihren Willen gleichsam überfallen werden, zum Vergleich heranzieht: »Die in älterer Zeit erhobenen Vorwürfe, daß Muhammed ein Betrüger gewesen sei, lassen sich vor ihr (der wissenschaftlichen Erforschung der alttestamentlichen Prophetie) nicht aufrecht erhalten. Was den biblischen Propheten recht ist, ist Muhammed billig. Wir haben nicht das Recht, an der Echtheit der prophetischen Erlebnisse Muhammeds zu zweifeln. Es ist ein Fremderlebnis gewesen, das Muhammed überfallen und ihm die Gewißheit prophetischer Sendung gegeben hat. Wo Prophetie vom prophetischen Erlebnis her auf Echtheit beurteilt wird, kann man schwerlich darum herumkommen, auch Muhammed echte Prophetie zuzubilligen.« [59]

Ich fasse den Abschnitt über die Sendung des geistbegabten Gesandten Muhammed zusammen:
Da Abraham nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit ist, sondern eine Geschichte unabgegoltener Verheißungen auf Zukunft hin repräsentiert, wird sich eine ökumenische Theologie auch der Frage nach der Realisierung der dem Abraham gegebenen Ismael-Verheißungen stellen müssen. Und sie wird dann über das Bekenntnis zur Selbigkeit des Gottes Abrahams im Judentum, Christentum und Islam hinaus auch den einen als Gesandten des Gottes Abraham betrachten, durch den allein die Muslime zur Anbetung des einen Gottes geführt worden sind und durch den der Gott Abrahams zu der Abraham-Gemeinschaft der Muslime gesprochen hat: Muhammed, den Gesandten Gottes.
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Anmerkungen
[26] A. Th. Khoury/L. Hagemann/P. Heine (Hg.), Islam-Lexikon 1991, Bd. II, 430; hier in der Übersetzung von S. Balic.
[27] Vgl. Dialog der Religionen 1/1991, 68.
[28] Gen 17, 20.
[29] Gen 12, 4.
[30] Gen 17, 20.23.
[31] Ps 72, 17.
[32] Bd. I: Discerning the Way, 1980; Bd. II: A Christian Theology of the People Israel, 1983; Bd. III: Christ in Context, 1988.
[33] zit. bei F. Mußner, Die Kraft der Wurzel, 1987, 59.
[34] a.a.O., 55ff.
[35] a.a.O., 59.
[36] J. Bouman, Gott und Mensch im Koran, 1977, 2. Aufl. 1989, 76, 78.
[37] Fr.-W. Marquardt, Von Elend und Heimsuchung der Theologie, 1988, 280.
[38] a.a.0. S., 281.
[39] Fr.-W. Marquardt, Das Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie. Band 1, 1990,14ff.
[40] H. Küng, Christentum und Weltreligionen, 1984, 54.
[41] a.a.O., 65. — Die verschiedenen eindrücklichen Publikationen Küngs zu »Kein Welfriede ohne Religionsfriede« und »Projekt Weltethos« sind damit nicht pauschal kritisiert; vgl. zuletzt und überzeugend ders., »Ich hätte sonst für die Macht in der Kirche meine Seele verkauft« (FR Nr. 59 vom 9.3.1996, 14).
[42] S. Balic, in: Dialog der Religionen 1/1991, 57.
[43] K. Barth, Kirchliche Dogmatik 1938, § 17.
[44] K. Barth, Briefe 1961 - 1968. 1975, 505; B. Klappert, Versöhnung und Befreiung, 1994, 43ff.
[45] K. Berger, Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. II, 3. Aufl. 1989, 407 - 410.
[46] a.a.0., S. 409f. [46]
[47] a.a.O., 409f.
[48] a.a.O., 409.
[49] ebd.
[50] K. Barth, Ad Limina Apostolorum, 1967, 40.
[51] K. Barth, Briefe 1961 - 1968, 1975, 504f.
[52] a.a.O., 505.
[53] J. Bouman, Das Wort vom Kreuz und das Bekenntnis zu Allah, 1980, 1,30ff, ders., Gott und Mensch im Koran, 1977, 2. Aufl. 1989, 32f.; 0. Schumann, Der Christus der Muslime, 1975, 36f.
[54] S. Balic, in: Dialog der Religionen 1/1991, 70.
[55] Islam-Lexikon (vgl. Anm. 17) Bd. II, 43 1.
[56] H. Küng, Christentum und Weltreligionen, 1984, 60.
[57] W. Zimmerli, Studien zur alttestamentlichen Theologie GA II 1974, 284ff, 289.
[58] a.a.O., 290.
[59] a.a.O., 295.


Bertold Klappert
 

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