Albrecht Thiel: Erziehung zur Freiheit IV

Nachtrag: Zur (anscheinend nie endenden) Frage nach der Erwählung:

Was ist dran an der oft wiederholten Aussage, die Leute in Genf hätten vor allem nach Zeichen ihrer Erwählung gesucht? Oder auch, daß die Berufsarbeit geradezu zu einem solchen Zeichen werden konnte?

Das Thema „Erwählung, das in den Predigten Calvins zwar mit großem sachlichen Gewicht, aber nicht besonders breit behandelt wird, spielt in der homiletischen Gemeindepraxis sichtbar keine große Rolle. Es wird nicht das Bewußtsein gepredigt, daß einzelne oder die Gemeinde auf der Seite des Heils und des Guten stehen, während andere zur ewigen Verdammnis vorherbestimmt sind. Daß Calvin ohne weiteres das Geschick von Genf in die Perspektive des erwählten Volkes setzt, bedeutet nichts Anderes, als daß hier das wahrhaftige Wort Gottes wieder laut geworden ist. Ähnliches hätte etwa von Straßburg oder Nürnberg durch dortige Prediger auch behauptet werden können.

Für diese Gabe ist Gott zu loben: „...wir sehen, daß wir den Mund geschlossen haben müssen, was uns betrifft, nichts zu rühmen - und im übrigen offen, um die Güte Gottes groß zu machen, die sich über uns ergießt.“ [1] so Calvin in einer Predigt über Dtn 7. Wenn von Erwählung die Rede ist, dann fast immer in der Richtung zum verpflichtenden Gehorsam. Zu Recht sagt darum Rodolphe Peter: „...Erwählung bedeutet keine Günstlingswirtschaft, sondern Verantwortlichkeit. Erwählung ist kein Ziel in sich, auf das man stolz sein könnte, sondern ein Mittel zum Dienst an der Sache Gottes, ihrem Ruhm und der Ausbreitung seines Reiches.“ [2].

Positiv bedeutet Erwählung die besondere Gnade, die reine Lehre in Frieden hören zu dürfen[3], und - erstaunlicherweise - auch die Gabe, eine wählbare Herrschaft zu haben[4] und nicht einen „...Fürsten zu haben, der das Wort ohne Verstand sagt...“ [5].

Das Thema „Genf als erwählte Gemeinde“ ist in der Theologie oft aufgegriffen worden. Oft in einer holzschnittartigen Verzerrung, als verstände Calvin Genf als das neue Jerusalem. Selbst Karl Barth schreibt in seiner Calvin-Vorlesung von 1922: „...das bewegliche, immer zum Übermut und zur Fronde aufgelegte Volk der Genfer wurde zum alttestamentlichen Bundesvolk...“[6]. Diese Deutung konnte leicht in Richtung auf ein Erwählungsbewußtsein hin tendieren. Wahrscheinlicher erscheint mir, daß Calvin mit dem Bild vom wandernden Gottesvolk in besonderer Weise die Flüchtlinge als Gemeinde anspricht[7]. Das ergäbe eine geradezu paradoxe „Erwählung der um ihres Glaubens willen Vertriebenen“. Sie hat aber Anhalt in den Predigten, wo Calvin den Exodus aus Ägypten nicht selten mit dem Leben der Flüchtlinge in eine sachliche Beziehung setzt.


[1] Aus der Predigt über Dtn 7, 7-10, Nr. 53 (CO 26, S. 524). Übersetzung durch den Vf.

[2] Rodolphe Peter, Genève dans la prédication de Calvin. In: Calvinus ecclesiae Genevensis custos. Die Referate des Congrès Internat. des Recherches Calviniennes vom 6. bis 9. Sept. 1982 in Genf. Hg. von Wilhelm H. Neuser, Frankfurt/M. u.a. 1984, S. 23-48. S. 29.

[3] Vgl. ebd., S. 27.

[4]  Siehe ebd.

[5] Aus der Predigt Nr. 105 (CO 27, 460). Übersetzung durch den Vf.

[6] Karl Barth, Die Theologie Calvins 1922. GA 2. Akad. Werke. Vorlesung Göttingen SS 1922. In Verb. mit Achim Reinstädler hg. von Hans Scholl, Zürich 1993. S. 394.

[7] Oberman findet darin eine spezielle Flüchtlings-Hermeneutik: „Da er die Schrift als ein Flüchtling im Exil im Licht seiner eigenen Erfahrung las,. sprach er seine Zuhörer und Leser nicht als Bürger von Genf an (...), sondern eher als entwurzelte Wanderer, die sich angemeldet hatten für den gefährlichen Weg zur ewigen Stadt.“ (Heiko A. Oberman, Heiko A., Europa afflicta. The Reformation of the Refugees. ARG 83 (1992), 91-111. S. 103).

Zitierempfehlung:
Albecht Thiel, Erziehung zur Freiheit. Calvins Predigtpraxis in Genf am Beispiel der Predigten zum Deuteronomium (2008), http://www.reformiert-info.de/side.php?news_id=2239&part_id=0&navi=16

Gedruckte Fassung in:
Sigird Lekebusch / Hans-Georg Ulrichs (Hrsg.), Historische Horizonte. Vorträge der dritten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protstantismus (Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus 5), Wuppertal 2002, 147-157

 

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