Vom Weizenkorn, das nicht in die Erde wollte

Eine Geschichte zum Sonntag Laetare. Von Paul Kluge

Es war einmal ein Weizenkorn, das war von dem großen Haufen Weizenkörner etwas abseits gerollt und neben einer Glasscherbe liegengeblieben. Jedes mal, wenn die Sonne schien, konnte das Weizenkorn sich in der Scherbe sehen, und es sah, wie groß es war und wie gesund, wie stark und wie schön. Immer wieder blickte es in die Glasscherbe, freute sich am Abend schon auf den nächsten Morgen, doch wenn es einmal ein paar Tage regnete, wurde das Weizenkorn ungeduldig und ärgerlich. Schien aber die Sonne wieder, dann strahlte auch das Weizenkorn, strahlte sein Spiegelbild an, und dieses strahlte zurück, und das Korn freute sich über sich selbst so sehr, dass es nichts anderes mehr sah und an nichts anderes mehr dachte. So lernte es denn auch die anderen Körner gar nicht kennen, es lernte überhaupt nichts, denn es war sich selbst genug und hatte mit sich selbst genug zu tun: Jedes Stäubchen, das auf es fiel, wurde sofort abgeschüttelt, und es putzte und pflegte sich, um so groß und gesund, so stark und schön zu bleiben, wie es war.

Bei den anderen Körnern machte sich eines Tages eine große Freude breit, wurde von Tag zu Tag größer: Bald werden wir gesät, riefen sie einander zu, dann kommen wir in die Erde, wir werden keimen und wachsen, kräftige Ähren treiben, und aus jedem von uns werden ganz viele neue.

Da erschrak das eine Weizenkorn: In die Erde? Da wird man ja schmutzig! Und keimen? Da wird man ja dick und platzt auf. Und vor allem: Viele neue Körner, die so sind wie ich, so groß und gesund, so stark und schön? Das darf nicht sein! Und es betrachtete sich lange in seinem Spiegel.

Nun kamen Männer mit großen Schaufeln, und die anderen Körner sprangen fast von allein hinauf. Das eine Korn aber drückte sich ängstlich unter die Scherbe, bis alle anderen fort waren. Nun war es ganz allein mit seinem Spiegelbild, und es lächelte ihm zu und streichelte und küsste es immer wieder. So verging die Zeit, und eines Morgens - es hatte ein paar Tage geregnet und die Sonne schien nun besonders hell - sah das Weizenkorn, dass es grau geworden war und faltig, und es war geschrumpft und hässlich. Da schimpfte es auf die Glasscherbe und auf die Sonne und auf den Regen, fing ganz jämmerlich an zu weinen und blickte den Spiegel zur Strafe nicht mehr an.

Am nächsten Tag wollte es nachsehen, ob es sich vielleicht versehen hatte: aber nein, nun war es noch grauer, noch faltiger geworden, noch schrumpliger und hässlicher. Da wollte es am liebsten sterben.*

Eine hungrige Maus trippelte plötzlich herein, entdeckte das Weizenkorn, schnupperte daran, rümpfte die Nase - und trippelte wieder davon.

* Hier kann man die Geschichte unterbrechen und raten lassen, wie sie wohl ausgeht


Paul Kluge, Pfarrer i.R., Leer