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II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
Magdalene L. Frettlöh, Der Charme der gerechten Gabe
I. Angabe: Die Rückkehr der milden Gabe
II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
1. Der Geist (in) der Gabe und die freiwillige Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern – Marcel Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe
3. Die Gabe, die keine ist – J. Derridas Dekonstruktion der (getauschten) Gabe
4. Vom Geben, das in der Gabe nicht aufgeht - B. Waldenfels' Phänomenologie von Geben und Nehmen
III. Vorgabe, Weitergabe und Rückgabe: Das paulinische Kollektenprojekt
1. "Wir teilen euch die charis Gottes mit ..." - oder: Grazie, der Inbegriff göttlichen und menschlichen Gebens
2. "... auf dass Gleichheit entstehe!" - oder: die Kollekte als diakonia
3. "... und sie sehnen sich nach euch!" - oder: die Kollekte als koinonia
4. "... auch Überfluß für Gott!" - oder: die Kollekte als leitourgia
IV. Zugabe: Geben, was man nicht hat
II. Eingabe: Eine kleine Phänomenologie der Gabe
1. Der Geist (in) der Gabe und die freiwillige Verpflichtung zum Geben, Nehmen und Erwidern – Marcel Mauss' Lösung des Rätsels der Gabe
Bei diesem allgegenwärtigen Gabentausch beobachtet M. Mauss ein auf den ersten Blick widersprüchliches Phänomen: Einerseits erwecken die großzügigen Gaben den Eindruck, freiwillige, selbstlos und spontan dargebotene Geschenke zu sein, andererseits scheinen sie sich eigennützigen Interessen und einer immanenten Verpflichtung zu verdanken, und ihr Austausch erfolgt strikt ritualisiert. Was aber ruft in einer Gesellschaft, die weder Waren- und Geldökonomie noch Vertragsordnungen kennt, diesen eigentümlich bezwingenden Austausch von Gaben hervor? "Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?" (18). Eine Antwort auf diese Frage findet Mauss in der Maori-Vorstellung vom magischen Eigentum: im hau, dem Geist, der die Sachen beseelt und zur Erwiderung der Gaben zwingt: "Das, was in dem empfangenen oder ausgetauschten Geschenk verpflichtet, kommt daher, daß die empfangene Sache nicht leblos ist. Selbst wenn der Geber sie abgetreten hat, ist sie noch ein Stück von ihm" (33). Im Gabentausch gibt es keine frei verfügbaren Güter, sie sind an ihren Besitzer gebunden. Mittels des hau bleibt der ursprüngliche Geber gleichsam Eigentümer der Sache, übt Macht über den Empfänger aus und zwingt ihn so, die erhaltene Gabe nicht zu behalten, sondern sie erneut dem Tausch zu übergeben, damit sie letztlich wieder zu dem zurückkehren kann, der sie besessen und zuerst gegeben hat. Wer die Weitergabe der empfangenen Gabe verweigert, muß damit rechnen, von ihrem Geist geschädigt zu werden. In einem Kontext, wo es keine trennscharfe Unterscheidung von Personen und Dingen gibt, wo Dinge eine Seele haben und Personen wie Sachen behandelt werden können, bewirkt das hau einen unaufhörlichen Tauschprozeß und schafft religiöse und magische, juridische und moralische Bindungen, Abhängigkeiten zwischen Schenkenden und Beschenkten. Letztlich ist es die Furcht vor magischer Vergeltung, die zur Rückgabe der Geschenke bewegt.
Im Gabentausch lassen sich grundsätzlich zwei Formen unterscheiden: der agonistische und der nichtagonistische. Letzterer zielt auf Bündnisse, vor allem zwischen Familien und Clans, die durch Komplementarität und Äquivalenz ausgezeichnet sind. Im ersteren, den Mauss in der Institution des Potlatsch (23ff.) unter den Kwakiutl-Indianern an der Nordwestküste Nordamerikas und im kula (54ff.) im Nordosten Neuguineas findet, herrschen dagegen Rivalität und Konkurrenz: Die Beteiligten versuchen, einander mit ihren Gaben "auszustechen": Gaben werden mit immer größeren Gegengaben beantwortet, um die Verschuldung der anderen auf die Spitze zu treiben und es unmöglich zu machen, dass sie sich angemessen "revanchieren" können. Nur wer immer noch mehr geben kann, als er empfangen hat, behauptet seine Überlegenheit, gewinnt an Prestige und Macht. Der Potlatsch kann in der demonstrativen Zerstörung der kostbarsten Gaben eskalieren und zu einem Vernichtungswettbewerb ausarten. So sehr er die Ambivalenz der Gabe und die gewaltsame Seite des Gabentauschs offenbart, so deutlich macht er zugleich, dass unter den drei bzw. vier Obligationen dem Geben und nicht dem Nehmen mit dem Ziel einer Akkumulation der Gaben der Vorrang zukommt – unabhängig davon, aus welchen Motiven, ob selbstlosen oder eigennützigen, friedlichen oder kämpferischen, gegeben wird und ob die Gabe freiwillig oder erzwungen erfolgt. Das größte Ansehen hat, wer am meisten geben kann.
Das starke Interesse, das M. Mauss dem Potlatsch entgegengebracht hat[8], sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Gabentausch in den archaischen Gesellschaften trotz aller agonistischer Elemente primär als "Bündnis- und Friedenspolitik"[9] sieht und die dort entdeckte großzügige Freigebigkeit in seine eigene Gegenwart "retten" will, sieht er doch in dieser totalen Leistung den "Felsen" (19), auf dem auch die modernen Gesellschaften ruhen.
© PD Dr. Magdalene L. Frettlöh