2. Bilderverbot und „finitum non capax infiniti“

Reformiertes Profil in der Gesellschaft

Von Walter Schöpsdau

1. Bundestheologie, Postkonfessionalismus, Postmoderne
2. Bilderverbot und „finitum non capax infiniti“
3. Calvinismus und Kapitalismus
4. Politisches Wächteramt

2. Bilderverbot und „finitum non capax infiniti“

Von Bundestheologie und Schriftprinzip her erschließt sich ein zweiter Aspekt reformierter Identität, das Axiom „finitum non capax infiniti“. Mit der jüdischen Tradition zählen die Reformierten das Bilderverbot als ein selbständiges Gebot, das damit wieder seinen eigenen Stellenwert gewinnt.

Die Nüchternheit ihrer Gottesdiensträume, die Kargheit der Liturgie wird heute auch von Reformierten in ihrer Ambivalenz gesehen. Dialektische Theologie weiß: Forcierte Bildlosigkeit kann subtilster Bilderdienst sein; der allzu transzendente Gott ist am Ende der allzu menschliche. Doch Mißtrauen gegen die Idee unmittelbarer Präsenz ist bestes reformiertes Erbe; die jüdischen Wurzeln teilt es mit den postmodernen Philosophien der Alterität eines Lévinas oder Derrida. Olivier Abel, Philosoph an der Faculté libre de théologie protestante in Paris, bekennt von sich:

„Wenn ein französischer Protestant, ein Calvinist aus der Ardèche, wie ich es bin, etwa den barocken Reichtum des spanischen Katholizismus oder die überwältigende Fülle der orthodoxen Kirche entdeckt, mag er wohl fasziniert sein. Ich kann mich in der Tat faszinieren lassen, weil ich diesen Traditionen fern bin und nie unter ihnen gelitten habe. Umgekehrt habe ich gelitten - und wir alle leiden - unter dieser westlichen Kultur, die durch das lateinische Christentum und später durch den Protestantismus geprägt ist. Diese ‘Religion als Ausgang aus aller Religion’ hat Auswirkungen, die wir ganz und gar verinnerlicht haben: besonders diese merkwürdige Mischung aus Vertrauen (aus dem Gefühl, von uns hänge es nicht ab) und Zweifel, einer Art mystischen Zweifels, der alles problematisiert, alles diskutiert, alles hinterfragt - für mich beides Auswirkungen des reformierten Glaubens“[17].

Die kunstgeschichtlichen Auswirkungen des Bilderverbots sind bekannt. Da die kirchlichen Aufträge ausblieben, verlegten sich die Maler in den calvinistisch gewordenen nördlichen Niederlanden auf andere Genres. Es kam zu einem Boom neuer, unverfänglicher Sujets wie Jagdszenen, Landschaften, Seestücke, Stilleben. Nur eine Berühmtheit wie Rembrandt konnte sich trotz der reformierten Verbote religiösen Themen zuwenden. Verkappt leben die religiösen Motive fort: Man hat in Frauengestalten Vermeers, von dem freilich nicht sicher ist, ob er zum Katholizismus konvertierte, eine heimliche marianische Ikonographie entdecken wollen, etwa in der Perlenwägerin der National Gallery in Washington, die kompositorisch die exakte Mittelstellung unter einem an der Wand befindlichen Christusbild einnimmt und deren Waage an die Vorstellung der „mediatrix“ erinnert, der Gottesmutter, die im Gericht für die Gläubigen eintritt[18]. Man hat auch gemeint, in den schmalen, überlangen, wie ein Nichts in den Raum aufgelösten Menschentorsi Giacomettis eine letzte Radikalisierung reformierten Denkens zu entdecken, die sich aus seiner reformierten Kindheit herschreiben könnte. Gilt das Axiom „finitum non capax infiniti“, dann ist nicht nur Gott unfaßbar, dann kann auch der Endliche, der Künstler, den Menschen in seinem unendlichen Geheimnis nicht mehr fassen[19].

Es wäre eine reizvolle Aufgabe, der Frage nachzugehen, wie weit die Theologie Karl Barths Spuren im Werk von Künstlern und Denkern Spuren hinterlassen hat. Man weiß es von Friedrich Dürrenmatt, der sich als Protestant bezeichnet hat, der mit den Schwierigkeiten des Glaubens ringe[20]. Ich möchte auf einen Autor aufmerksam machen, von dem man es nicht vermuten würde, das ist der amerikanische Schriftsteller John Updike. Er stammt aus einer presbyterianischen Familie, sein Großvater war presbyterianischer Pfarrer. Updike, genau beobachtender Schilderer der amerikanischen Mittelklasse und menschlicher „loneliness“, schrieb Barth wenige Wochen vor dessen Tod, wie viel er seinen Büchern verdankte (worüber sich Barth nach Mitteilung seines Sekretärs sehr „erstaunt“ gezeigt haben soll); eine schwere Lebenskrise hatte Updike 1968 mit Hilfe von Barthlektüre überstanden, den „Römerbrief“ hatte er an seinem Bett[21].

Einer von Updikes Romanen, „Roger’s Version“ (1986), auf Deutsch unter dem Titel „Das Gottesprogramm“ erschienen, trägt schon ein Barth-Zitat als Motto auf der ersten Seite. Der junge Evangelikale Dale hat ein Computerprogramm entwickelt, das Gottes Existenz beweisen soll; sein Gegenspieler (auch in erotischer Hinsicht, wie bei Updike nicht anders zu erwarten), der von Barth geprägte Professor Lambert insistiert darauf, „daß ein Gott, der sich beweisen läßt, genauer, der gar nicht umhin kann, bewiesen zu werden“, niemals Gott sein könne; er wäre nicht mehr „der Andere“, ohne den die Welt und das Leben stillstehen würde[22]. Kann aber Barthsche Dialektik nicht in agnostische Gott-ist-tot-Theologie oder komfortablen Atheismus umschlagen? So ist Updikes Lambert aus der Theologie ins religionswissenschaftliche Department übergewechselt. In dem Maße, wie er Gott in Sicherheit bringt, ist er auch selbst vor ihm sicher, was ihm der Evangelikale auf den Kopf zusagt: „Your God sounds like a nice safe unfindeable God“. Atheismus aus Frömmigkeit und Eifer um Gottes Gottheit, um Gottes weltliche Nichtnotwendigkeit (Jüngel), erweisen sich als Zwillingsbrüder: „Free him, even though he die“[23].

So entdeckt Lambert seinen negativen Gottesbeweis: Er liegt mit Verna im Bett, und „mit Blick zur Decke verstand ich, wieviel Majestät darin liegt, daß wir nicht aufhören, Gott zu lieben und zu ehren, selbst wenn er uns Schläge zufügt - genau wie in dem Schweigen, das Er wahrt, damit wir unsere menschliche Freiheit auskosten und erkunden können. Das war mein Gottesbeweis, verstand ich auf einmal, - der Abstand zu der unerreichbaren Decke, der unendliche Abstand, der unsere Erniedrigung ermessen läßt. Ein so tiefer Fall beweist große Höhe“[24].

Reformiertes Profil - das heißt Nähe zu Aufklärung und radikaler Kritik. Alles steht zur Debatte, auch die Bibel, auch die Theologie, auch der Glaube, sogar das Denken dessen, der so radikal denkt. Aber dies nicht aus einem methodischen Zweifel à la Descartes, der auf ein letztes fundamentum inconcussum stoßen möchte, sondern aus der Ungeschütztheit des Glaubens. Der französische Philosoph Paul Ricœur, ein reformierter Christ, bekennt: Philosophie und biblischer Glaube verhalten sich nicht wie Frage und Antwort. In meiner Philosophie ist die Nennung Gottes abwesend, damit der Glaube nicht als Lösung eines philosophischen Problems mißverstanden wird. Es geht im Glauben vielmehr um Antwort auf einen „Anruf“. Die Abhängigkeit von einem Wort, das uns unserer Selbstherrlichkeit beraubt und zugleich unseren Existenzmut fördert, „befreit den biblischen Glauben von der Versuchung, [...] nunmehr die Leerstelle der Letztbegründung besetzen zu wollen. Umgekehrt kann ein Glaube, der um seine eigene Ungeschütztheit weiß, [...] der hermeneutischen Philosophie helfen, sich vor der Hybris zu bewahren, als Erbin der Philosophien des Cogito und ihres Anspruchs auf letzte Selbstbegründung aufzutreten“[25].

3. Calvinismus und Kapitalismus

 Die bekannte These Max Webers über den Zusammenhang von calvinistischer Ethik und modernem Kapitalismus[26] knüpft an die Beobachtung an, daß der moderne Kapitalismus weder in katholischen noch in lutherisch geprägten Ländern, sondern in Holland, England und den USA seinen Anfang genommen hat, Ländern also, die religiös vom Calvinismus geprägt sind. Das heißt aber nicht, daß der Kapitalismus als solcher eine Frucht des Calvinismus gewesen ist[27]. Webers Belege stammen aus dem englisch-amerikanischen Calvinismus des 17. und 18. Jahrhunderts, als sich dieser bereits mit anderen Geistesströmungen verbunden hatte.

Eine große Rolle spielt in Webers These die calvinistische Prädestinationslehre. Dieses reformierte „Zentraldogma“ habe im 16. und 17. Jahrhundert religiöse „Angsteffekte“ erzeugt, die die Menschen nur durch „rastlose Berufsarbeit“ abreagieren konnten, wobei beruflicher Erfolg zugleich als Ausweis des Erwähltseins gedeutet wurde. Untersuchungen haben indessen gezeigt, daß das Kirchenvolk und die meisten Pfarrer von der Prädestinationslehre, wie sie von den streitsüchtigen und disputierfreudigen Theologen auf den Theologenkonferenzen von Dordrecht (1618-1619) und Westminster (1643-1649) traktiert wurde, wenig berührt waren. Eine Durchsicht von 100 Autobiographien und 300 Tagebüchern, zumeist aus der Feder von Puritanern des 17. Jahrhunderts, ergab von Angst keine Spur. Was die Frömmigkeit prägte, war Glaube an die Vorsehung und die Gegenwart eines gütigen Gottes in der Welt des Alltags; und darin unterschieden sich die christlichen Konfessionen gar nicht so sehr voneinander.

Richtig ist an Webers These, daß der Calvinismus vor allem im Puritanismus eine Disziplinierung aller Lebensbereiche, eine „innerweltliche Askese“ entfaltete, die dem kapitalistischen Erwerbstreben ebenso entgegenkam wie die Eigeninitiative und Selbstverantwortung des einzelnen, die durch die demokratische Kichenverfassung der reformierten Kirchen gefördert wurde[28]. An die Stelle der Zweistufenethik von Mönchen und Weltchristen trat der Dienst für Gott im Dienst für die Menschen durch Arbeit im Beruf. „Gott liebt Adverbien“, schrieb geistvoll ein puritanismusfreundlicher englischer Bischof, „und schert sich nicht darum, wie gut etwas ist, sondern darum, wie wohl es getan ist“[29]. Der aus der Sünde resultierenden Herrschaft der Dinge über uns entkommen wir nicht durch mönchische Entsagung, sondern durch die Art ihres Gebrauchs, bei der wir Distanz zu ihnen wahren und den Blick auf Gott gerichtet halten.

So konnte der Calvinismus in der Zinsfrage eine progressivere Haltung vertreten als die Scholastiker und Luther. Der Darlehenszins galt als unmoralisch, weil dabei Gewinn ohne Arbeit und Risiken (DH 1442) erzielt und zugleich die Not eines Mitmenschen ausgenutzt wurde. Geld wurde für Thomas von Aquin legitimiert, wenn es in den Dienst des Nächsten gestellt wurde in Gestalt von Almosen.  Auch die Haltung des Calvinismus zum Zins war keineswegs unkritisch. Bis ins 17. Jahrhundert hinein wurden Bankiers und Geldverleiher nicht selten in Kirchenzucht genommen[30]. Aber für Calvin konnte Geld auch in Gestalt von Zinsen recht verwendet werden, wenn es in Projekte investiert wurde, die der Gemeinschaft zugute kamen. Reiner Erwerb um des Erwerbs willen war kapitalistisch, nicht calvinistisch.

So liegen auch Welten zwischen dem Individualismus des liberalistischen Kapitalismus und dem Gemeinschaftsimpuls der reformierten Ethik. Nicht zufällig hatte der religiöse Sozialismus reformierte Wurzeln. Kapitalismuskritik ist bis heute Merkmal reformierter Identität, wie der Beitritt des Reformierten Weltbundes zur globalisierungskritischen Bewegung ATTAC zeigt. Für den religiösen Sozialismus sollte das Reich Gottes nicht Vertröstung oder lähmender Vorbehalt, sondern Antrieb zur Veränderung sein. Die prophetischen Worte von Leonhard Ragaz haben nichts von ihrer Kraft verloren: „Die Einen glauben an Gott, aber nicht an sein Reich, das heißt nicht an die Gerechtigkeit - die Anderen glauben an das Reich, das heißt an die Gerechtigkeit, aber nicht an Gott. Beides hängt zusammen. Die Einen glauben nicht an das Reich, weil die Anderen nicht an Gott glauben. Diese glauben nicht an Gott, weil jene nicht an das Reich glauben“[31].

Mentalitätsgeschichtlich wirkt die protestantische Disziplinierung der Lebensführung mit den Tugendidealen von Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Nützlichkeit bis heute nach. Heinrich Böll zog hier einen konfessionellen Trennungsstrich. „Wissen Sie“, meinte er in einem Interview, „das Wort ‘Christ’ ist mir zu anspruchsvoll. Ich habe es eigentlich nie auf mich angewendet [...]. Das etwas Schmuddelige am Katholizismus reizt mich auch. Ich bin in diesem Sinne ganz unprotestantisch. Und da gibt es eben doch einen Zweig des Christentums, den kapitalistisch-calvinistischen, den ich für das Fürchterlichste halte, was nach der Reformation entstanden ist. Deshalb lege ich Wert darauf, mich lieber als Katholik denn als Christ zu bezeichnen“[32]. Auch Horkheimer und Adorno sehen die Nähe von Rationalismus und Protestantismus kritisch: „Wer unmittelbar, ohne rationale Beziehung auf Selbsterhaltung dem Leben sich überläßt, fällt nach dem Urteil von Aufklärung und Protestantismus ins Vorgeschichtliche zurück“[33].

Protestantisch geprägte Profile der Alltagskultur entdecken Religionssoziologen auch heute noch etwa in der größeren Leistungs- und Karriereorientierung der Protestanten gegenüber einer stärkeren Familienorientierung von Katholiken. Die protestantische Hausfrau pflegt eher einen rechenhaften Stil mit Haushaltsbuch, Einkaufszettel, Einkaufsplanung als die katholische, wobei sich aber Diasporakatholiken im Norden ebenso an die dort strengeren Regeln der Haushaltsführung anpassen wie Protestanten südlich der Mainlinie an den lockereren katholischen Stil[34], den wir im übrigen als Touristen in romanischen Ländern alle irgendwie sympathisch finden.

4. Politisches Wächteramt

Mit Leonhard Ragaz wurde soeben ein bedeutender Vertreter jenes von den Reformierten großgeschriebenen politischen Wächteramts genannt, dem einige abschließenden Bemerkungen gelten sollen. Alexander Schweizer, Schüler Schleiermachers, hat idealtypisch einen lutherischen und einen reformierten Ansatz gegenübergestellt: „Dort [bei den Lutheranern] sieht man die Quelle des Verderbnisses in der judaisierenden Werkheiligkeit, hier [bei den Reformierten] in der paganisierenden Kreaturvergötterung“[35].

Von daher entwickeln Reformierte ein besonderes Sensorium für den ideologiekritischen Aspekt des Wortes Gottes; sie werden darin bestärkt durch das von ihnen hochgeschätzte Alte Testament und seine Propheten. Der Kampf gegen die falschen Absoluta richtet sich nicht nur gegen weltliche Ideologien, sondern auch gegen eine christliche „Nostrifikation Gottes“, gegen den auch in der Kirche ablaufenden „Versuch der Welt, ihre Sache zur Sache Gottes zu erheben oder umgekehrt: die Sache Gottes ihrer eigenen Sache zu unterwerfen und dienlich zu machen“[36]. Der Weg von prophetischer Gesellschaftskritik zum konkreten ethischen Argument erweist sich jedoch als schwierig. Ein kerygmatisches Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrags und ein dialogorientiertes liegen im Streit miteinander: Ist das öffentliche ethische Reden der Kirche Teil ihres Verkündigungsauftrags oder ein Akt gesellschaftlicher Diakonie?[37]

Als Kritik falscher Absoluta verstand sich die Barmer Theologische Erklärung, die unter wesentlicher Beteiligung reformierter Theologie zustande kam. Trotzdem wäre es verkehrt, von einer einheitlichen reformierten Linie im Kirchenkampf auszugehen. Eine Studie des Zeitgeschichtlers Günther van Norden erhebt vor dem Hintergrund der rheinischen Situation vier unterschiedliche reformierte Gruppenprofile[38].

Das „bekennende, politisch kritische Profil“ ist vertreten durch eine ursprünglich konservative Gruppe pietistisch geprägter Reformierter aus Barmen-Gemarke und Elberfeld; Liberalismus und Sozialismus hatten bei ihnen keine Chance. Die Gruppe repräsentiert ab 1933 den radikalen BK-Kurs gegen die kirchliche Obrigkeit. Unter dem Einfluß Barths und dem Eindruck konkreter politischer Inhumanität erwuchs zunehmend aber auch eine politisch kritische Position, basierend auf der Erkenntnis, daß der NS-Staat nicht mehr der Staat von Römer 13 war.

Man konnte aber auch alles Interesse auf die Sicherung der kirchlichen Aktivitäten konzentrieren und sich jeder Einmischung in den Staat, solange er die Kirche nicht behinderte, enthalten. Dieser von der Gemeinde Rheydt und der Reformierten Landeskirche Hannover repräsentierte „bekenntnismäßige, kirchenorientierte“ Typ verweigerte sich dem Konfliktkurs der Bekennenden Kirche. Man wollte die Einheit der Kirche erhalten, stritt immerhin gegen die kirchliche Obrigkeit für die reformierten Belange, für die Reinheit des Bekenntnisses und die presbyterial-synodale Kirchenverfassung, aber man griff nicht in den Bereich der staatlichen Interessen ein und konnte so relativ unbeschadet überleben.

Eine ultrareformierte, an der Christozentrik Kohlbrügges orientierte Gruppe um den Duisburger Superintendenten und späteren rheinischen Präses Fritz Horn stand den Deutschen Christen theologisch fern, politisch aber umso näher: auf der einen Seite lautere Verkündigung des Wortes Gottes nach dem Bekenntnis der Väter, auf der anderen Seite freudige Anerkennung des nationalsozialistischen Staates und seiner Anordnungen.

Während sich dieses „bekenntnismäßige, politisch involvierte Profil“ lediglich aus theologischen Gründen von den Deutschen Christen fernhielt, fällt auch diese Hemmung bei dem vierten „reformierten, deutschchristlichen Profil“. Hier wird strikt unterschieden zwischen der unsichtbaren Kirche des Glaubensbekenntnisses und der sichtbaren Kirche auf Erden, deren Ordnung dem Geist der Staatsführung nicht widersprechen dürften. Daß die reformierte Kirchenverfassung sich auf das Bekenntnis gründe, sei eine papierene Theologenweisheit, von der der Heidelberger Katechismus nichts wisse.

Der Überblick zeigt, daß das Feld des reformierten Protestantismus im Kirchenkampf alles andere als homogen war. Er zeigt ferner, daß es für unser Verhalten in der Welt offenbar „relativ belanglos ist, welche Theologie wir haben“ (van Norden); viel eher hängt es von unserer gesellschaftlich-politischen Sozialisation ab. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Eine vor zehn Jahren erschienene, weltweit angelegte Untersuchung von rund tausend ethischen Stellungnahmen aus den verschiedenen Konfessionen von 1964 bis in Ende der achtziger Jahre gelangt zu einem ähnlichen Urteil. Sie widerlegt die Annahme, daß ein im weitesten Sinne christologischer Ansatz nach Barmer Muster progressive, emanzipatorische Positionen begünstige, während schöpfungstheologisch begründete Ethiken zu konservativen, wenn nicht reaktionären Positionen gelangten:

Die Dutch Reformed Church von Südafrika hatte 1974 die Apartheid-Politik gerade schöpfungstheologisch mit der gottgewollten Verschiedenheit der Völker gerechtfertigt und auf der Basis einer Zwei-Reiche-Lehre ein Einspruchsrecht der Kirche dem Staat gegenüber verworfen. Die daraufhin erfolgte Ausrufung des status confessionis durch den Reformierten Weltbund argumentierte christologisch mit der „versöhnenden und einenden Macht unseres Herrn Jesu Christi“. Lutherische Kirchen gelangten aber auf einer schöpfungstheologischen Basis zu nicht weniger entschiedener Ablehnung des Apartheid-Systems. Selbst progressive Positionen wie die Anerkennung homosexueller Partnerschaften müssen nicht christologisch, sondern können auch schöpfungstheologisch begründet sein. Sogar innerhalb einer konfessionellen Tradition können „reformierte Christozentrik und typisch lutherische schöpfungsorientierte Zwei-Reiche-Ethik miteinander existieren, gelegentlich ergänzt durch Modelle, die auf Pneumatologie, Ekklesiologie, Eschatologie und dergleichen rekurrieren“[39].

Vorausgesetzt ist allerdings, daß Schöpfung und Erlösung nicht dualistisch getrennt, sondern unterschieden und in positiver Kontinuität zueinander verstanden werden. Werden sie getrennt, ist der Bekenntnisfall gegeben. Es steht dann nichts Geringeres auf dem Spiel als das Nizänische Glaubensbekenntnis mit seinem Bekenntnis zur Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater und Schöpfer. Die Dutch Reformed Church hat sich immerhin in späteren Jahren deutlicher auf die Anerkennung eines positiven Zusammenhangs von Schöpfung und Erlösung zu bewegt. In der Nachrüstungsdebatte der achtziger Jahre wurde dieser Zusammenhang von keiner Seite geleugnet, sofern die Verpflichtung zum Frieden bejaht und nur die Frage der Mittel der Friedenssicherung kontrovers beurteilt wurde. Die Ausrufung eines status confessionis kann in diesem Fall nicht als angemessen gelten. Eine  Bestreitung des Bekenntnisfalls setzt aber voraus, daß man eine teleologische Argumentation zuläßt, die nicht von der Qualität einer Waffe ausgeht, sondern von ihrer politischen Funktion, durch Abschreckung Frieden zu sichern. Ich meine, daß evangelische Ethik einen teleologischen Ansatz vertreten kann, weil sie, anders als die römische Moraltheologie, die Kategorie von Handlungen, die immer, ungeachtet der Umstände, Absichten und Folgen, „in sich schlecht“ sind, nicht kennt.


[17] Bei Krieg/Zangger-Derron, aaO. 264.

[18] Ebd. 373.

[19] Ebd. 380.

[20] Ebd. 207.

[21] John McTavish, John Updike and the Funny Theologian, Theology Today 48, 1992, 413-425. Daß Barth von Updike gehört hatte, dafür gibt es einen Beleg: er bittet um eine Kopie von Updikes Artikel über sein Anselmbuch, von dem er durch den Präsidenten der Princeton Theological Seminary gehört hatte (K. Barth, GA V. Briefe 1961-1968, 1979, 213f.)

[22] John Updike, Roger’s Version, First Intern. Ed., New Xork 1987, 235. 189. 239 (eigene Übersetzung).

[23] Ebd. 32. 42. 93. 84.

[24] Ebd. 302.

[25] Paul Ricœur, Das Selbst als ein Anderer [frz. 1990], München 1996, 37.

[26] Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1906), in: Die protestantische Ethik Bd. 1, hg. von Johannes Winckelmann, Hamburg 1973.

[27] Ulrich H. J. Körtner, Reformiert und ökumenisch, Innsbruck-Wien 1998, 88.

[28] Bei Krieg/Zangger-Derron, aaO. 64f.

[29] Zit. bei Charles Taylor, Quellen des Selbst (stw 1233), Frankfurt a. M., 1996, 396.

[30] Körtner, aaO. 90.

[31] Leonhard Ragaz, Die Bergpredigt Jesu, Bern 1945, 190.

[32] Interview mit Heinrich Böll, Herder-Korr. 36, 1982 (431-436) 435.

[33] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Ausg. Fischer-TB 6144, Frankfurt a. M. 1973, 30.

[34] Gregor Siefer, Der Einfluß konfessioneller Faktoren auf Entstehung und Veränderung sozialer Verhaltensmuster, in: Oswald Bayer, u. a., Zwei Kirchen - eine Moral?, Regensburg 1986, 9-51.

[35] Zit. bei Krieg/Zangger-Derron, aaO. 39.

[36] Karl Barth, KD I 2, 1935, 214.

[37] Vgl. in der EKD-Denkschrift „Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen“, Gütersloh 1970, die Nrn. 4. 8. 11 mit 6. 5. In Nr. 12 stehen „Verkündigungs- und Sendungsauftrag“ und „vernünftige Argumentation“ nebeneinander.

[38] Das Folgende nach Günther van Norden, Reformierte Profile im Kirchenkampf, in: Matthias Freudenberg (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten, Wuppertal 1999, 71-86.

[39] Mark Ellingsen, The Cutting Edge. How Churches Speak on Social Issues, Geneva/Grand Rapids 1993, 142f.

Gedruckt in: Walter Schöpsdau, Angenommenes Leben. Beiträge zu Ethik, Philosophie und Ökumene, hrsg. von Martin Schuck (Bensheimer Hefte 104), Göttingen 2005, 80-98.

Dr. Walter Schöpsdau
Chrodegangstr. 10
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Quelle: Homepage der Französisch-reformierten Gemeinde Potsdam

 


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