Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1492-1549)
Ludwig XII. versuchte mehrmals, Marguerite als Braut in Europa zu verhandeln, aber weder ihre Aussichten, noch ihr Vermögen waren ausreichend, um eine internationale Ehe einzugehen. Stattdessen heiratete sie 1509, gerade siebzehn Jahre alt, den Herzog von Alençon, von dem wenig bekannt ist. Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie und ihr Gatte wenig Gemeinsames hatten, zumal der Herzog vor Allem ein Soldat war. Dafür hatte sie aber eine geliebte Schwiegermutter, Marguerite von Lorraine, die eine zutiefst fromme Frau war. Jahre später schrieb Marguerite über ihren Tod und ließ ihre Trauer darüber durchblicken.
Als Ludwig XII. befürchten musste, nicht selbst Söhne zeugen zu können – er hatte „nur“ zwei Töchter, Claude und Renée de France – holte er Franz d´Angoulême an seinem Hof und gab ihm seine Tochter Claude zur Ehe. 1515 verstarb er und Franz bestieg als Franz I. den Thron Frankreichs.
Für Marguerite änderte sich das Leben schlagartig. Sie kam zu ihrem Bruder an den Hof, und da die Königin Claude sehr zurückhaltend und scheu war, übernahm sie bald die repräsentativen Pflichten. Zusammen mit ihrer Mutter bildete sie mit Franz ein Trio, die sogenannte „Dreieinigkeit“. Franz konnte immer mit seiner Mutter und seiner Schwester rechnen, und sie unterstützten ihn nach Kräften.
Franz I. wurde der erste Renaissancekönig Frankreichs. Er war jung, viril und plötzlich auch reich. Er ließ bauen an der Loire, eroberte das Herzogtum Mailand, versuchte sich als Deutschrömischer Kaiser wählen zu lassen – das war eine extrem teure Angelegenheit – und verwickelte sich in Rivalitäten sowohl mit Heinrich VIII. von England als auch mit Kaiser Karl V.
Schon 1516 verhandelte er ein Konkordat mit dem Pabst in Bologna. Die französische Kirche hatte seit dem Mittelalter ihre gallikanische Freiheiten gegenüber dem Pabst verteidigt, und als Frankreich sich als Nationalstaat festigen konnte und mit Franz I. fast die Grenzen erreicht hatte, die noch heute gelten, gelang es auch Franz, eine römisch-katholische Nationalkirche zu vereinbaren. Vor allem durfte er wichtige Posten in der Kirche mit seinen Kandidaten besetzen, die dann vom Pabst anerkannt wurden. Damit war die französische Kirche ihrem König treu ergeben, nicht desto weniger war sie streng katholisch, besonders die Fakultät der Theologie der Universität von Paris (oft abgekürzt Sorbonne genannt) wachte über die reine katholische Lehre. In den Jahren 1515 bis 1534 war Franz theologisch eher liberal und pfiff die eifrigen Theologen zurück, nach 1534 machte er mit ihnen gemeinsame Sache.
In Frankreich bildeten sich Kreise von Reformkatholiken und Humanisten, die der etwas verkrusteten katholischen Theologie kritisch gegenüberstanden. Sie forderten die Bibel in der Muttersprache und in den Händen von Laien. Sie kritisierten Heiligenkult und Reliquienverehrung, und versuchten eine Erweckung der Gläubigen im Sinne vom reformatorischen „sola fide, sola scriptura“ (= durch den Glauben allein und durch die Heilige Schrift allein) herbeizuführen. Der leitende Humanist war der alte Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis), der nach Jahren als Herausgeber klassischer antiker Schriften endlich bereit war, die Heilige Schrift zu übersetzen. Er wurde unterstützt von Guillaume Briçonnet, Bischof von Metz. Dieser führte Reformen in seiner Diözese durch, legte die Bibelübersetzung des Lefèvre in den Kirchen aus, verjagte die Franziskaner, die sonst fast Predigtmonopol besaßen, und ließ durch seine eigene Leute „reformatorisch“ predigen. Unter ihnen waren Gérard Roussel, der später Hofkaplan bei Marguerite wurde, Guillaume Farel, der später in Genf als Reformator zusammen mit Calvin wirkte, und Simon Robert, der die frühere Nonne Marie Dentière heiratete und auch in die Schweiz zog.
Als katholischer Bischof wollte Briçonnet nicht die katholische Kirche umstürzen oder dem Pabst die Treue kündigen, er wollte dagegen die Kirche von innen erneuern. Er gehörte dem Reformkatholizismus an, der in Frankreich oft als „évangelisme“ bezeichnet wird, mit dem deutschen Wortbrauch „evangelisch“ aber wenig zu tun hat. Die Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Lefèvre d´Etaples wollten zu den Quellen zurück, sie wollten die Bibel allen zugänglich machen, sie hatten von Paulus gelernt, dass Rechtfertigung durch den Glauben geschieht, aber er sah das alles nicht als Grund, die Einheit der Kirche auf Spiel zu setzen. Diese Männer prägten Marguerite.
An Bischof Briçonnet wandte sich Marguerite mit der Bitte um geistigen Beistand. Ein Briefwechsel folgte, der sich (nachweislich) über die Jahre 1521 bis 1524 erstreckte. Der Bischof schrieb lange Homilien, und Marguerite bat ihn ständig um mehr „seelische Nahrung“. Sie verwendete vermutlich seine schriftlichen „Predigten“ als Grundlage für Andachten mit ihren Hofdamen. Abschriften ließ sie in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis verteilen .
Briçonnet legte ihr die Bibellektüre ans Herz, mit besonderer Wertschätzung der Paulinischen Briefe. Nebenbei sei bemerkt, dass sowohl Luther als auch Calvin in jungen Jahren den Römerbrief auslegten, denn wer Erneuerung für die Kirche erhoffte, kam um Paulus nicht herum. Das Besondere bei Briçonnet war allerdings sein Hang zur Innerlichkeit, die Liebe zwischen Christus und der Seele, die Aufgabe des Selbst und das Hinschmelzen in Christus. Gute Werke, der Verdienst der Heiligen, Fasten und Pilgern kamen bei ihm dagegen nicht vor.
Für Marguerite bedeutete diese religiöse Erneuerung, dass sie anfing, geistliche Gedichte zu schreiben, ihre poetische Ader wurde freigelegt. Das erste Gedicht handelt von einer nächtlichen Vision. Ihre Nichte – die Tochter ihres Bruders – starb 1524 mit acht Jahren, und Marguerite fragt die reine Seele, was sie glauben soll. Der Antwort ist klar, sie soll Christus allein lieben und glauben. Briçonnet hätte es nicht besser ausdrucken können.
In diesen Jahren wurden Luthers Schriften in Frankreich verbreitet und wir wissen mit Sicherheit, dass Marguerite seine Schriften kannte. Die theologische Fakultät der Universität von Paris leistete Widerstand gegen die lutherische Ketzerei und das bekam Bischof Briçonnet zu spüren. In seinen Briefen an Marguerite bat er sie wiederholt um Unterstützung und besonders darum, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter für seine Reformen gewinnen möge. Marguerite hatte zwar großen Einfluss auf ihren Bruder, aber trotzdem musste Briçonnet alle seine Reformvorhaben aufgeben. Die Gruppe um ihn flüchtete nach Straßburg, während er selbst widerrufen musste. Er starb kurze Zeit später.
1524 starb Königin Claude, und Marguerite wurde mit der Aufsicht der königlichen Kinder betraut. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, wie sehr diese Kinder ihr ans Herz wuchsen. Ihre Ehe blieb kinderlos – ihre Trauer darüber vernimmt man in den Briefen an Briçonnet – und jetzt konnte sie ihre mütterlichen Gefühle den Kindern ihres geliebten Bruders zu Gute kommen lassen.
1525 verlor Franz I. die Schlacht bei Pavia in Norditalien. Seit vielen Jahren, schon in der Regierungszeit Karl VIII. hatte Frankreich mit den italienischen Stadtstaaten Krieg geführt. Jetzt stießen in Italien die habsburgischen und die französischen Truppen zusammen. Die Blüte des französischen Adels wurde an einem Tag vernichtet, und Franz selbst wurde gefangengenommen. Der Herzog von Alençon flüchtete vom Schlachtfeld und starb wenige Monate später, von seiner Gattin liebevoll gepflegt.
Jetzt schlug die Stunde für Marguerite. Mit ihrer Mutter hatte sie in Lyon den Ausgang des Krieges abgewartet, und nach dem Tod ihres Gatten ließ sie ihre Mutter als Regentin Frankreichs zurück, sie selbst segelte und ritt zu ihrem Bruder, der schwer krank in Madrid im Gefängnis lag. Sie pflegte ihn wieder gesund und versuchte mit dem unerbittlichen Kaiser Karl V. zu verhandeln. Sowohl sie als auch Franz dachten, dass der ritterliche Ehrencodex seine Befreiung möglich machen würde, Karl war aber auf handfeste Vorteile aus. Am Ende versprach Franz alles, um freizukommen, fuhr nach Hause, gab seine Söhne quasi als Unterpfand dem Kaiser und musste eine Riesensumme als Lösegeld aufbringen.
Als Regentin hatte die streng katholische Louise von Savoyen die französische Kirche in ihrem Kampf gegen die „Ketzer“ unterstützt, deshalb war auch keine Hilfe für Briçonnet und seine Leute zu erwarten. Nach der Rückkehr Franzens war er noch abhängiger als zuvor von der Kirche, nur sie konnte ihm mit dem Geld, das er dem Kaiser schuldete, versorgen. Anders als die deutsche Fürsten, die sich sehr wohl handfeste Vorteile von der Reformation in ihren Ländern erhoffen konnten, hatte der französische König schon eine (katholische) Nationalkirche, die ihn kräftig unterstützte, natürlich in der Annahme, dass er keine „Ketzer“ dulden würde.
Marguerite war eine noch junge Witwe, und ihr zweiter Gatte war ein junger, strahlender Held: Henri d´Albret, König von Navarra. Er hatte sich in der Schlacht von Pavia tapfer geschlagen, war gefangen genommen worden, hatte sich aber in einer „Mantel und Degen Aktion“ buchstäblich erfolgreich abgeseilt. Er war zudem ein Frauenheld und 12 Jahre jünger als Marguerite. Sein Königreich war winzig: das Königreich Navarra war ursprünglich das, was wir heute das Baskenland nennen, ein Gebiet, das sich beidseitig über den Pyrenäen erstreckte, jedoch sein Schwerpunkt auf der Südseite der Bergkette mit Pamplona als Hauptstadt hatte. Die Albrets, als südfranzösische Großgrundbesitzer, waren durch Heirat an die Krone gekommen, nur um erleben zu müssen, dass Spanien 1512 der Gebiet um Pamplona eroberte. Damit schrumpfte das Königreich auf Basse-Navarre zusammen, der französische Teil des Baskenlandes. Da er auch Vicomte von Béarn war, eine unabhängige Grafschaft mit eigener Regierung und Generalständen, hatte er dennoch sein eigene Hausmacht. Er erwartete, sozusagen als Mitgift, dass Franz ihm helfen würde, ganz Navarra zurückzuerobern. Franz dagegen erwartete, dass er die Grenze gegen Spanien verteidigen würde und machte ihn zum Oberbefehlshaber in Guienne, eine Bezeichnung für Südwestfrankreich von den Pyrenäen bis Loire, vom Atlantik bis Auvergne.
Was Marguerite erwartete, wissen wir nicht. Ihre Ehe bedeutete für sie eine Zerreißprobe zwischen dem geliebten Bruder und dem Ehemann, und es war für sie nicht einfach, beiden gegenüber loyal zu sein.
Ihre Ehe bedeutete aber auch, dass sie endlich Mutter wurde. 1528 gebar sie ihre Tochter, Jeanne d´Albret, danach einen Sohn, der kurz nach dem Geburt starb, und dann – sie wurde ja nicht jünger – hatte sie eine Reihe von Fehlgeburten und Scheinschwangerschaften.
Als Königin mit eigenem Herrschaftsgebiet konnte sie jetzt Glaubensflüchtlingen Schutz bieten. Bei ihrem Bruder trat sie immer noch für Andersdenkende ein, sie konnte aber jetzt in Bourges luthersche Studenten und Dozenten an die Universität holen, sie brachte den alten Lefèvre d´Etaples bei ihrem Hof in Nérac unter, sie machte Gérard Roussel zum Bischof von Oloron, und sie stellte als Sekretäre bekannte humanistische Skribenten ein, unter ihnen Clément Marot, Dichter und Verfasser vom ersten gereimten französischen Psalter.
Anfänglich blieben sowohl sie wie ihr Gatte am Hofe. Sie verhandelte zusammen mit ihrer Mutter und Margaretha von Habsburg, Statthalterin der Niederlande, den sogenannten Damenfrieden von Cambrai aus. Sie empfing Botschafter, verhandelte mit dem Pabst, und hatte immer noch die Aufsicht über die königlichen Kinder. Sie reformierte Klöster überall in Frankreich, ihre Lektüre der Lutherschrift „Von den Mönchsgelübden“ hatte sie nicht dazu gebracht, die Klöster abzuschaffen, sondern eher Missstände abzubauen.
1531 veröffentlichte Marguerite ihr religiös-poetisches Werk „Ein Spiegel der sündigen Seele“. Die zweite Ausgabe 1533 wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und verboten. Wütend verlangte Franz I. die Rücknahme der Verurteilung, und die Universität fügte sich schleunigst. Als dann, 1534, die Plakataffäre mit ihrem Angriff auf die Messe und das katholische Abendmahlverständnis die Gemüter erregte, ging sie nach Südfrankreich. Dort konnte sie unter Anderen einem Flüchtling, dem jungen Calvin, weiterhelfen. Sie hatte seit jungen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, gepflegt, und jetzt schickten die zwei gleichgesinnten Verwandten einander hilfsbedürftige Glaubensflüchtlinge zu.
In den nächsten Jahren war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester etwas abgekühlt. Franz I. unterstützte die römisch-katholische Kirche nach Kräften, und Marguerite war vorsichtig geworden. Als der Berater des Königs ihn aber fragte, ob Gefahr bestünde, Marguerite könne zum Protestantismus übertreten, erwiderte der König: „Dafür liebt sie mich zu sehr!“, und behielt Recht damit.
Die Ruhe und Abgeschiedenheit am Hofe bedeutete für Marguerite Zeit für eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Die religiösen Gedichte waren wohl eher eine Art meditative Übung inmitten der oberflächlichen Geschäftigkeit des Hofes. Jetzt verfasste sie Schauspiele, die am Hof aufgeführt wurden. Angeregt durch die Beschäftigung mit den Schriften des Plato, die sie durch den italienischen Humanisten Pico della Mirandola und Marsilio Ficino kennengelernt hatte, dachte sie über das Wesen der Liebe nach, und ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von diesen Überlegungen geprägt. Sie ließ Platos Schriften ins Französisch übertragen, so wie sie auch die Novellen von Boccaccio, „Dekameron“, übersetzen ließ. Diese Novellen beeinflussten ihre berühmteste Werk, die Novellen, aus denen das „Heptameron“ besteht, und die von ihr über einen längeren Zeitraum zusammengefügt wurden. Sie gab nur ein Buch in Druck, „Les marguerites de la Marguerite des princesses“, die Perlen der Perle (Marguerite) der Prinzessinnen, mitsamt dem Folgeband: „Suyte des marguerites“ (1547). Alle andere Schriften von ihr waren zu ihren Lebzeiten nur als Manuskript vorhanden, aber das Heptameron wurde ungefähr zehn Jahren nach ihrem Tod als Buch herausgegeben, und zählt seitdem zu den Klassikern des 16. Jahrhunderts, obwohl es oft missverstanden worden ist – dazu mehr später (vgl. Nielsen, Theologie als Erzählung).
Eine andere wichtige Angelegenheit in den letzten Jahren, ihr Verhältnis zu ihrer Tochter Jeanne, wird im Artikel über diese behandelt. In den letzten Jahren hatte sie eine Auseinandersetzung mit Calvin über die Freigeister, die sich bei ihrem Hof aufhielten. Ihre Bedeutung für die Reformation wird später untersucht. Klar ist allerdings, dass sie als Katholikin starb. Als ältere Frau zog sie sich immer öfters in Klöstern zurück und auch, wenn sie nie besonders rechtgläubig war, trat sie nie aus der Kirche aus. Sie starb 1549 auf ihrem Schloss Odos.
Marguerite d`Angoulême war eine hoch begabte, zutiefst fromme Frau. Sie ging unbeirrt ihre eigenen Wege, und auch, wenn sie diskret war, ließ sie sich nicht einschüchtern. Ihre Verdienste für die Verbreitung der Reformation sind offenkundig, und in Genf wusste Calvin sehr wohl, wie dankbar er ihr sein musste. Dabei war die geistige Freiheit ihr ohne Zweifel eine Herzensangelegenheit, während ihre Tochter und Enkelin mit Nachdruck Partei ergriffen. Zu Marguerites Zeiten waren diese geistige Freiheit und die Hoffnung, die katholische Kirche von innen zu erneuern und zu „reformieren“, ohne die Glaubensspaltung vollziehen zu müssen, noch möglich. Diese Umstände gaben ihr etwas Spielraum, den spätere Generationen nicht länger hatten.
Literatur
In Deutschland ist die Literatur zu Marguerite d´Angoulême übersichtlich. Zu erwähnen sind:
Margarete von Navarra: Das Heptameron, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, mit einem ausgezeichneten Nachwort von Peter Amelung. Neudruck München 1979, 1999 (dtv 12710)
Eltz-Hoffmann, Lieselotte von: Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995
Kraus, Claudia: Der religiöse Lyrismus Margaretes von Navarra, München 1981
Schönberger, Axel: Die Darstellung von Lust und Liebe im Heptaméron der Königin Margarete von Navarra, Frankfurt a/M 1993
Sckommodau, Hans: Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, Köln 1955
Sckommodau, Hans: Galanterie und vollkommene Liebe im „Heptaméron“, Münchener Romanistische Arbeiten, Band 46, München 1977
Sckommodau, Hans: Die spätfeudale Novelle bei Margareta von Navarra, Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Bd. XIV, Nr. 4, Wiesbaden 1977
Zimmermann, Margarete: Der Salon der Autorinnen: französische „dames de lettres“ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2005
Stedman, Gesa & Zimmermann, Margarete: Höfe – Salons – Akademien, Hildesheim 2007
Hinzu kommt eine Übersetzung:
Febvre, Lucien: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion, Frankfurt a/M 1998 (Originaltitel: Autour de l´Heptaméron: Amour sacré, amour profane, Paris 1996)
Allgemeine Kirchengeschichte:
Strasser-Bertrand, Otto Erich: Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1975
In Frankreich zählt sie zu den wichtigen Renaissancedichterinnen. Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke von Nicole Cazauran ist in Arbeit:
Marguerite de Navarre: Oeuvres Complètes, Paris 2001. Bisher erschienen:
Heptaméron, Paris 2000 und die Bände 1,3,4,8 & 9
Die klassische Biografie ist:
Jourda, Pierre: Marguerite d´Angoulême, duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Étude biographique et littéraire, Paris 1930, Genf 1978
Jourda, Pierre: Répertoire analytique et chronologique de la Correspondance de Marguerite d´Angoulême, Duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Paris 1930
Christine Martineau, Michel Veissière & Henry Heller: Guillaume Briçonnet/Marguerite de Navarre: Correspondance, 2 Bd., Paris 1975-79
Herminjard, Aimé, hrsg.: Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Genf 1886-79
In Heptaméron, ed. Nicole Cazauran, ist weiterführende Literatur erwähnt. Hier verweise ich nur auf drei Kolloquien aus dem Jahr 1992:
Marguerite de Navarre, 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau (1992), Mont-de- Marsan 1995
Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de Navarre, Colloque de Nice, 15-16 Fèvrier 1992, Uni.de Nice, o. J.
Marguerite de Navarre, Actes du colloque international du 14 au 16 septembre 1992, Lódź 1997
Karlsson, Britt-Marie: Sagesse divine et folie humaine, Etude sur les structures antithétiques dans l´Heptaméron de Marguerite de Navarre (1492-1549), Göteborg 2001
Montaigne: Oeuvres complètes, Paris 1962
Ausgewählte Literatur in englischer Sprache:
- Patricia F. Cholakian & Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre, Mother of the Renaissance, New York 2006
- Cholakian, Patricia F.: Rape and Writing in the Heptameron, Carbondale 1991
- Cottrell, Robert D.: The Grammar of Silence, A Reading of Marguerite de Navarre´s Poetry, Washington D.C. 1985
- Davis, Betty J.: The Storytellers in Marguerite de Navarre´s Heptaméron, Lexington 1978
- Davis, Natalie Zemon: Society and Culture in Early Modern France: eight Essays, Stanford 1975
- Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France, The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985
- Ferguson, Gary: Mirroring belief: Marguerite de Navarre´s Devotional Poetry, Edinburgh 1992
- Gelernt, Jules: World of Many Loves, The Heptameron of Marguerite de Navarre, Chapel Hill 1966
- Greengrass, Mark: The French Reformation, London 1987
- Salmon, J.H.M.: Society in Crisis, France in the Sixteenth Century, London 1975
- Tetel, Marcel: Marguerite de Navarre´s “Heptaméron”: Themes, Language and Structure, Durham N.C. 1973
Vielfalt und Einheit des Protestantismus
Karl Barths Stellung zur Konfessionalität. Von Matthias Freudenberg
Einer Anekdote zufolge soll einmal ein lutherischer Theologiestudent aus Bayern auf seine Auskunft hin, dass Barth – wie doch schließlich jeder ordentliche Theologe – ein Lutheraner gewesen sei, mit großem Erstaunen die Korrektur seines Professors vernommen haben. Ohne Schwierigkeiten lässt sich natürlich belegen, dass Barth einem reformierten Elternhaus – sein Vater war Professor für Kirchengeschichte – entstammt und in dieser konfessionellen Tradition aufgewachsen ist. Inwieweit sich Barth tatsächlich als ausgesprochen reformierter Theologe verstanden hat, bedarf indes einer genaueren Betrachtung.
1. Frühe Einblicke und Einsichten
Wirft man einen Blick auf Barths Beschäftigung mit der eigenen Konfession bzw. sein reformiertes Selbstverständnis vor Antritt seiner Göttinger Professur 1921, so lässt sich summarisch festhalten:
1) Quellenstudium: Im Verlauf seines Studiums, Vikariats und Pfarramts arbeitet sich Barth – unterbrochen und begleitet von anderen Studien – in wesentliche Dokumente der reformierten Theologie der Reformationszeit ein. Freilich vollzieht sich dieses Studium in unregelmäßigen Abständen, selektiv, in unterschiedlicher Intensität und unter Einbeziehung lutherischer Quellen. Während er Zwingli eher am Rande wahrnimmt und im Licht des Liberalismus bzw. religiösen Sozialismus deutet, findet eine intensivere und kontinuierlichere Beschäftigung mit Calvin statt. Diese lässt sich u.a. auch in den beiden Fassungen des Römerbriefkommentars ablesen.
2) Kirchen- und Theologiegeschichte: Nicht zuletzt bedingt durch seine Tätigkeit in der Schweiz vertieft sich Barth in die territoriale Reformationsgeschichte. Die altprotestantische Orthodoxie reformierter und lutherischer Provenienz hingegen scheint er zu jener Zeit kaum zur Kenntnis zu nehmen.
3) Reformiertes Erbe: Barths Beschäftigung mit den spezifisch reformierten Quellen steht in unlösbarem Zusammenhang mit den äußeren Umständen seines Studiums in Bern bei seinem Vater (1904–1906), seines Vikariats in Genf (1909–1911) und seines Pfarramts in der reformierten Gemeinde Safenwil (1911–1921). Insofern liegt es nahe, dass sich der Schweizer Theologe Barth zunächst mit seiner eigenen konfessionellen Tradition beschäftigt. Ferner lässt sich zumindest bis 1916 feststellen, dass Kombinationsversuche wie etwa zwischen Calvin und Wilhelm Herrmanns ‚moderner Theologie’ bzw. zwischen Zwingli und dem religiösen Sozialismus stattfinden.
Die Göttinger Professur der Jahre 1921–1925 bedeutet für den vom Safenwiler Pfarramt ins akademische Lehramt überwechselnden Barth eine entscheidende Weichenstellung auf seinem Weg zur dogmatischen Theologie. Seine erste Professur stellt den akademischen Neuling Barth vor die Aufgabe, reformierte, aber auch lutherische Studenten „in das reformierte Bekenntnis, die reformierte Glaubenslehre und das reformierte Gemeindeleben“[1] einzuführen. In seinen Vorlesungen über Calvin (1922), Zwingli (1922/23) und die reformierten Bekenntnisschriften (1923) zeigt sich sodann seine schon früh ausgeprägte Fähigkeit, einen genauen Blick sowohl für geschichtliche Entwicklungen als auch für theologische Argumente zu entwickeln.
Die hermeneutische Voraussetzung, die Barths Vorlesungen und Vorträge zur reformierten Theologie aus jenen Jahren prägt, lässt sich so beschreiben: Auf dem Hintergrund der absoluten Gottesgeschichte hat die Theologie zu allen Zeiten die relative Geltung eines menschlichen Zeugnisses, das um der Wahrheit willen immer wieder neu der Kritik unterzogen werden muss. Wie sich anhand der Texte zeigen lässt, zieht sich kontinuierlich durch jene Vorlesungen folgende Beobachtung Barths: Das Spezifische der reformierten Lehre des 16. Jahrhunderts ist einerseits in der präzisen Unterscheidung von Gott und Mensch zu suchen. Und andererseits besteht es in der von Gott vollzogenen dialektischen Vermittlung der unsichtbaren göttlichen Lebenswahrheit und der sichtbaren menschlichen Lebensgestaltung.
In einer geometrischen Metapher spricht Barth darum in den Vorlesungen vom spezifisch reformierten Doppelaspekt zweier konzentrischer Kreise: Der engere Kreis als Metapher für das lutherische Interesse an der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben, und der weitere Kreis als Metapher für das hinzutretende reformierte Interesse an der Lebenswirklichkeit des Menschen und der Ethik. Mit dieser verwandt ist eine andere geometrische Metapher: Die Horizontale des menschlichen Lebens wird von der Vertikalen der Gottesgeschichte geschnitten. Beiden Metaphern ist die Grundüberzeugung gemeinsam, dass die in Gott selbst gründende Beziehung zwischen ihm und dem Menschen (Dogmatik) dem konkreten Lebensvollzug des Menschen (Ethik) ihr Maß und Ziel gibt. Das, was Barth mit dem Terminus „Problem der Ethik“[2] umschreibt, sieht er als die Besonderheit der reformierten Wendung der Reformation und als deren Zugewinn gegenüber dem Luthertum an.
In welcher Hinsicht versteht sich Barth selbst seit seiner Göttinger Zeit als ausgesprochen reformierter Theologe? Und welche Konsequenzen zieht er daraus für das Verhältnis zwischen reformiertem und lutherischem Protestantismus? Wenn auch seine Hinwendung zur reformierten Theologie nicht als ein unvermitteltes Ereignis zu verstehen ist, so vollzieht sich doch in Göttingen ein einschneidender Erkenntnisprozess. Er befindet sich auf dem Weg von einer weitgehend unbewussten hin zu einer bewusst erarbeiteten und angeeigneten reformierten Konfessionalität. In der Tat besitzt er zu Beginn seiner Göttinger Zeit noch nicht einmal eine reformierte Bekenntnisschrift.[3] Doch schon in § 1 der Zwingli-Vorlesung (1922/23) versteht er sich zumindest indirekt schon als konfessionsbewusster Reformierter. Und 1933 bekundet er ausdrücklich sein reformiertes Bekenntnis, wenn er schreibt: „?Es werden etliche Lust haben, meinen Rücktritt von ZZ (sc. Zeitschrift ‚Zwischen den Zeiten’) ... auf den Gegensatz meines reformierten zum lutherischen Bekenntnis zurückzuführen. Ich warne. Selbstverständlich bin ich reformiert. Aber der in der ‚Glaubensbewegung Deutsche Christen’ kulminierende Neuprotestantismus zerstört das lutherische ebensowohl wie das reformierte Bekenntnis.“[4]
Doch ungeachtet dieser Selbstaussagen und der Entscheidung, zur Grundlegung seiner Theologie gerade auf die reformierte Tradition zurückzugreifen, wehrt er sich entschieden gegen die Festlegung seiner Dogmatik-Vorlesung auf das reformierte Bekenntnis. Keinesfalls will er den konfessionsübergreifenden „?ökumenischen Charakter“[5] seiner Dogmatik preisgeben. Nach wochenlangen Streitigkeiten kann er in der Vorlesungsankündigung die Konfessionsbindung der Dogmatik und das Etikett ‚reformiert’ zugunsten des Kompromisstitels „Unterricht in der christlichen Religion“ verhindern. Entsprechend formuliert er im Leitsatz zu § 1 der Göttinger Dogmatik, dass Dogmatik die „wissenschaftliche Besinnung auf das Wort Gottes“ ist.[6] Und erst davon abgeleitet ist Dogmatik die Besinnung auf die konfessionelle Tradition, von der aus die Reflexion auf das Wort Gottes vorgenommen wird. In diesem Sinn stellt er später in der Kirchlichen Dogmatik (KD) zur Konfessionalität der Dogmatik fest, dass die Dogmatik weder als lutherische noch als reformierte, sondern als evangelisch-konfessionelle Dogmatik zu entfalten ist (KD I/2, 922).
Vom Zeitpunkt seiner Göttinger Professur an hat Barth die reformierte Theologie und in ihr besonders Calvin, die Bekenntnisse des 16. Jahrhunderts und Teile der Orthodoxie für seinen eigenen theologischen Neuansatz entdeckt. Doch das schließt ein, dass er, wie zahlreiche Exkurse in der KD belegen, die eigene reformierte Tradition keinesfalls von der Kritik ausnimmt. Die Aufnahme des alten konfessionellen Streits und die eigene Rekrutierung für die unter den deutschen Reformierten auflebende konfessionelle Selbstbehauptung erscheinen ihm alles andere als erstrebenswert. Vielmehr bemüht er sich zumindest in Ansätzen darum, einerseits auf eine nivellierende Vermittlung lutherischer und reformierter Positionen zu verzichten. Und andererseits lässt er wesentliche theologische Erkenntnisse aus beiden konfessionellen Traditionen gleichermaßen als sachgemäße gegenseitige Problemanzeigen gelten.[7]
In diesem Sinn äußert er sich auch 1947 in einer Diskussion und verwahrt sich gegen die eigene Festlegung auf den Calvinismus: „?Ich bin auch nicht Calvinist. Das ist nicht gut, sich so festzulegen.“[8] Stattdessen fordert er dazu auf, der Maxime von 1. Thess 5,21 zu folgen: Die den Lutheranern und den Reformierten gemeinsame reformatorische Tradition muss am Maßstab der Schrift geprüft und das Beste aus beiden Traditionen behalten werden. Ferner soll man sich als Schüler der reformatorischen Bekenntnisse von diesen zum rechten Schriftverständnis anleiten lassen und in jedem Fall auf den unversöhnlichen konfessionellen Streit als Selbstzweck verzichten.
Doch fragen wir nun weiter, worin negativ Barths Reserve gegenüber der von außen an ihn herangetragenen konfessionellen Festlegung seiner Theologie sowie positiv sein Insistieren auf der gemeinreformatorischen Ausrichtung seiner Dogmatik begründet ist. Wie sich seinen Göttinger Arbeiten entnehmen lässt, lehnt er die einseitige Festlegung seiner Theologie auf die reformierte Konfessionalität aus folgendem geschichtstheologischen Grund ab: Von der Gottesgeschichte (Ewigkeit) ist die Welt- und Theologiegeschichte (Zeit) streng zu unterscheiden. Und letztgenannte differenziert sich nun mit ihren Versuchen, innerhalb der Grenzen der menschlichen Sprache von Gott zu reden, in eine Mehrzahl von z.T. gegenläufigen Bewegungen aus.
Was für die gesamte Kirchen- und Theologiegeschichte zutrifft, gilt in besonderem Maße für das Zeitalter der Reformation. In ihr sind im Wesentlichen eine erste lutherische und eine zweite reformierte Wendung zu unterscheiden. Je auf ihre Weise sind sie berechtigte Möglichkeiten von Theologie, Kirchen- und Konfessionsbildung, sofern beide sich in ihrem Dasein und Agieren gemeinsam auf Gottes Zuwendung zum Menschen besinnen. Barths These von der grundlegenden Einheit der differenzierten Reformation und damit sein inklusives Verständnis der Reformation beruht auf der theologischen Einsicht, dass Gottes Wirklichkeit nicht in einem einzigen Wort zur Sprache zu bringen ist. Vielmehr ist sie nur dialektisch darstellbar in der Synthese des vornehmlich religiösen Interesses der lutherischen und des vornehmlich ethischen Interesses der reformierten Wendung der Reformation. Um zur Würdigung dieser zweiten reformierten Wendung der Reformation und ihrer Thematisierung der Ethik vordringen zu können, gibt Barth in einem Vortrag von 1923 sogar den Rat, wie Zwingli und Calvin „zunächst einmal recht gründlich lutherisch zu werden“[9]. Nebenbei sei angemerkt, dass Barth diesen Rat in seinen Vorlesungen und Vorträgen der Göttinger und besonders der Münsteraner Zeit durchaus selbst befolgt.
Welche Position soll Barths Sicht zufolge nun gegenüber den faktisch vorhandenen Differenzen zwischen der reformierten und der lutherischen Lehre eingenommen werden? In einer auf den ersten Blick unscheinbaren Passage der Bekenntnisschriften-Vorlesung – es handelt sich um die Darstellung der Akten des reformiert-lutherischen Leipziger Gesprächs von 1631 – gibt Barth dazu einige erhellende Hinweise. Diese werfen ein Licht auf die von ihm favorisierte Vermittlungsmethode gegenläufiger Lehrmeinungen. Er arbeitet in der Frage der Christologie folgende Differenz heraus: Die Lutheraner unternehmen den „undialektische(n) Vorstoß“, die menschliche Natur Jesu Christi mit Gottesprädikationen zu belegen. Dagegen vollziehen die Reformierten mit dem „Extra calvinisticum“ einen „?dialektische(n) Rückzug“. Denn sie leugnen die umfassende Teilhabe der menschlichen Natur Jesu Christi an den Gottesprädikationen und wollen gleichsam den Vorbehalt einer „Verhüllung in der Offenbarung“ und ihrer Kontingenz gewahrt wissen.[10]
Von Bedeutung ist nun die Haltung, die Barth gegenüber den konfessionellen Differenzen empfiehlt: Keinesfalls soll man im Stile des Konfessionalismus der einen oder der anderen Seite ungeprüft absolut recht geben. Andererseits darf man auch nicht im Stile der preußischen Unionstheologie des 19. Jahrhunderts vorschnell beiden Seiten zustimmen und die konfessionelle Differenz in der Frage der kontingenten Offenbarung nivellierend als überwunden erklären. Vielmehr plädiert Barth für die Notwendigkeit, die auf beiden Seiten vorhandenen Wahrheitsmomente zu sichten und einer kritischen Beurteilung zu unterziehen: „Es handelt sich wahrhaftig um schwere Probleme, die wir z.T. erst wieder sehen lernen müssen.“[11] Gegenüber einer voreilig erklärten Union, die dem Mangel an Erkenntnis der christologischen Differenzen entspringt, hält er schon 1923 die Fortsetzung des lutherisch-reformierten Gesprächs, wie es etwa in Leipzig 1631 geführt wurde, für den einzigen Weg zu einer legitimen Union in der Gegenwart.
Als theologische Sachlichkeit bezeichnet Barth darum den Versuch, die ungelösten Fragen des 16. und 17. Jahrhunderts erneut zur Sprache zu bringen. Das Ringen um die Wahrheit, die „geheimnisvoll einigend und trennend zwischen den beiden großen Typen protestantischen Christentums steht“[12], muss fortgesetzt werden. So geht schon aus der oben genannten Vorlesungspassage hervor, dass Barth dem Begriff der Union, der zu jener Zeit mit den vielfachen kirchlichen Unionsbestrebungen im 19. Jahrhundert identifiziert wurde, einen neuen und tieferen Sinn verleihen will. Eine Neuauflage einer solchen, die Konfessionen nivellierenden Kirchen-Union hält er nicht für erstrebenswert. Vielmehr versteht er unter einer wirklichen Union zwischen Reformierten und Lutheranern den Verzicht auf ein aus Mangel an theologischer Erkenntnis geborenes „?Kunstprodukt einer theologisch-kirchlichen Union“. In einer „Union der Sachlichkeit“[13] soll darum das Gespräch des 16. und 17. Jahrhunderts wieder aufgenommen werden. Keinesfalls die voreilige Auflösung der Konfessionen kann Barth zufolge das Ziel eines solchen Gesprächs sein, sondern die gegenseitige Prüfung der theologischen Argumente in den umstrittenen Fragen. In diesem Sinn ist Barths Äußerung von 1935 zu verstehen, dass eine „Union zwischen Lutheranern und Reformierten ... nicht grundsätzlich ausgeschlossen“[14] ist.
Mit der These von der grundsätzlichen Einheit der Reformation, der Forderung nach der erneuten Aufnahme reformiert-lutherischer Gespräche über die umstrittenen Lehrfragen und der Perspektive einer „Union der Sachlichkeit“[15] bereitet Barth indirekt schon in seiner Göttinger Zeit einen weitreichenden Erkenntnisprozess innerhalb des Protestantismus vor. Es handelt sich dabei um die Bewegung, die unter seiner Mitwirkung in den dreißiger Jahren zur Suche nach einer Bekenntnisunion und seit den fünfziger Jahren zum Erstellen einer Konkordie reformierter und lutherischer Kirchen führt. Bereits in Göttingen wendet er sich gegen jede Form eines starren reformierten oder lutherischen Konfessionalismus. Er steht sowohl der Lutherrenaissance Karl Holls als auch der restaurativen Calvin-Renaissance unter Teilen der Reformierten skeptisch gegenüber. Denn der Konfessionalismus, so Barth in einer Predigt über 2. Mose 20,4–6 von 1935, gleicht einem von Menschen geschaffenen Gottesbild, das es abzulehnen gelte.[16]
So bringt Barth 1921 einerseits in das an der Göttinger Fakultät seit ihrem Bestehen gepflegte Luthertum und andererseits in den reformierten Protestantismus von außen her einen frischen unkonfessionalistischen und unionistischen Impuls hinein. Und im Anschluss an seine Göttinger Zeit warnt er immer wieder davor, zwischen lutherischem und reformiertem Protestantismus bzw. Luthertum und Calvinismus falsche Alternativen zu errichten oder künstliche Gräben aufzureißen. Dass sein eigenes Interesse an einer konfessionellen Verständigung und ökumenischen Offenheit gerade ein genuiner Zug des Calvinismus ist, in dessen Tradition er sich darum bewusst stellt, geht aus der Aussprache über einen Vortrag 1925 hervor: Lutheraner und Calvinisten seien gemeinsam der ganzen christlichen Kirche – denn sie allein ist die eine, wahre Kirche – verpflichtet und nicht primär einer partikularen Konfession. Darum wolle er auch selbst „?kein bornierter Konfessionalist“ sein. Allerdings macht er auch darauf aufmerksam: „?Der Calvinismus hat von jeher einen größeren Zug ins Ökumenische gehabt als das Luthertum.“[17]
Besonders eindrücklich zeigt sich zur Zeit des beginnenden Kirchenkampfes, dass Barth angesichts der aufkommenden nationalsozialistischen Häresie in Theologie und Kirche ein Denken in konfessionellen Schablonen unter allen Umständen zu vermeiden sucht. Angesichts der Hinwendung von Friedrich Gogarten zur Glaubensbewegung Deutsche Christen (DC) und im Vorfeld der Barmer Theologischen Erklärung erwägt Barth 1933 „?eine wirkliche Union zwischen Luthertum und Reformierten“ gegen die „gemeinsame(n) säkulare(n) Gegner des Evangeliums“[18]. Als Publikationsorgan einer solchen Union schlägt Barth keine konfessionelle, sondern eine konfessionsübergreifende evangelisch-kirchliche Zeitschrift vor.[19] Gerade über die brisante Problematik der natürlichen Theologie und ihrer politischen Implikationen scheint Barth eine gemeinsame Gesprächsebene zwischen Reformierten und Lutheranern und damit eine wahre Union möglich zu sein, die der falschen Union der DC entgegenzustellen sei.
Im Beitrag „Abschied von ‚Zwischen den Zeiten’“ erneuert Barth am 18.10.1933 sein Argument, dass sowohl das lutherische wie das reformierte Bekenntnis von der Theologie der DC tangiert sei. Er trifft die Feststellung: „Gute Lutheraner stehen heute nicht bei den Deutschen Christen, nicht bei den Vermittlern zwischen diesen und uns Anderen, sondern entschlossen bei uns Anderen! Und schlechte Reformierte genug stehen ganz oder halb bei den Deutschen Christen.“[20] Konsequent ruft er zu einer „Union zwischen den guten Lutheranern und den guten Reformierten“ auf, die sich „?in einem neuen Kampfbekenntnis“ mit überkonfessionellem Charakter Ausdruck verschaffen soll. Und er fügt hinzu: „Die ernsthaften Fronten laufen heute wirklich durch die Grenzen der beiden überkommenen Bekenntnisse quer hindurch.“[21]
Bereits im Vorfeld versucht das für die Entstehung der Barmer Theologischen Erklärung wegweisende Betheler Bekenntnis (1933), das Barth in der August-Fassung vorgelegt wird, der Herausforderung gerecht zu werden, als zeitgemäßes evangelisches Bekenntnis der Theologie der DC entgegenzutreten.[22] Barth gibt am 11.10.1933 eine kritische Stellungnahme ab, die zugleich ein Licht darauf wirft, welche Art von Bekenntnis er selbst sich wünscht. Er macht theologische Einwände zur Gesamtanlage des Bekenntnisses geltend. Und er übt vor allem Kritik an seinem Charakter als lutherisches Partikularbekenntnis, da es laut Vorrede „die Lehre der evangelisch-lutherischen Kirche“ darstellt. Barth fordert, das „aktuelle Problem der Union neu und besser, als vor 100 Jahren geschehen ist, aufzunehmen“, da „Lutheraner und Reformierte ... heute durch die vollkommene Erscheinung des häretischen Neuprotestantismus in Gestalt der ‚Deutschen Christen’ konkret und gemeinsam herausgefordert und zum Bekennen aufgefordert“ seien. Die Stunde sei gekommen, in der beide „?das gemeinsame Evangelische“ sagen und dabei „?das je Besondere hüben und drüben bewußt und bestimmt innerhalb dieses gemeinsamen Evangelischen“ nicht verschweigen dürfen. Da das Betheler Bekenntnis formell und inhaltlich zu eindeutig dem Luthertum verpflichtet sei, stehe der Versuch noch aus, „den Entwurf nun gemeinsam so durchzuarbeiten, daß er ... als evangelisches Bekenntnis vor die Öffentlichkeit treten könnte“. Vierzig Jahre vor Verabschiedung der Leuenberger Konkordie plädiert Barth also schon in dieser konkreten Bekenntnissituation (status confessionis) dafür, die alten Kontroversfragen über Christologie und Abendmahl zwar „als wichtige Schulfragen, aber nicht als trennende Glaubensfragen zu behandeln“.[23] Es gelte, so Barth an anderer Stelle, gegenwärtig nicht, Luther und Calvin gegeneinander auszuspielen. Denn heute müsse in der Kirche über das erste Gebot gestritten und eine wirkliche Union gegen die DC aufgerichtet werden.[24]
Die spätere November-Fassung des Betheler Bekenntnisses berücksichtigt in der Gliederung, aber auch in der Neuaufnahme der Themen Heiligung und Gehorsam einige der Anliegen Barths. Doch sein Vorschlag einer Lehr-Union zwischen Lutheranern und Reformierten wird abgelehnt. Begründet wird diese Ablehnung in der vermutlich von Georg Merz formulierten Vorbemerkung damit, dass sich die Verfasser des Bekenntnisses an einen „bestimmten Ort“ und ein „bestimmtes Erbe“ gebunden fühlen und darum keine Unionslehre vertreten können. In einer für die Druckfassung auf Anraten Bodelschwinghs gestrichenen Passage setzt sich Merz allerdings durchaus positiv mit Barths Vorschlag auseinander. Er hält die Stunde für ein gemeinsames lutherisch-reformiertes Bekennen sowie eine Überwindung der konfessionellen Spannung durchaus für gekommen. Und er gesteht auch zu, dass die Unterschiede der Reformatoren in der Gegenwart unwichtiger geworden sind.
Seine Forderung nach einem gemeinsamen überkonfessionellen Bekenntnis – nicht zu verwechseln mit einem Unionsbekenntnis, das eine Kirchenunion voraussetzen würde – bringt Barth bald darauf erneut zur Geltung. Am 3./4.1934 erläutert er auf der Freien reformierten Synode in Barmen die „Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der DEK der Gegenwart“[25]. Weiter heißt es ausdrücklich in der Vorbemerkung zum Entwurf der Barmer Theologischen Erklärung (Frankfurter Konkordie vom 16.5.1934), dass Lutheraner, Reformierte und Unierte ungeachtet ihrer konfessionellen Herkunft in der Gegenwart gemeinsam reden und bekennen dürfen und müssen.[26] Als treibende Kraft leistet Barth damit die Vorarbeit zu einem neuen gemeinsamen Bekenntnis von Lutheranern und Reformierten, das schließlich auf der Barmer Bekenntnissynode am 31.5.1934 verabschiedet wird. Um den Lutheranern entgegenzukommen, wird als Überschrift der Titel ‚Theologische Erklärung’ gewählt.
Ausdrücklich formuliert Barth schon auf der Freien reformierten Synode (3./4.1.1934) das Thema überkonfessionell: „Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse“. In der Erläuterung zu These I/2 erinnert er daran, dass die Reformatoren gemeinsam „Rom und Renaissancegeist“ entgegengetreten seien und die Evangelischen heute „dem alten Irrtum“ erneut gegenüberstünden. Und in These I/3 argumentiert er, dass angesichts dieses Irrtums ein überkonfessionelles Bekenntnis notwendig sei, und zwar „unbeschadet ihrer lutherischen, reformierten oder unierten Herkunft und Verantwortung“ der einzelnen Gemeinden. Den konfessionellen Belangen seien die Erfordernisse „des gemeinsamen evangelischen Bekennens und Handelns gegen den Irrtum und für die Wahrheit“ und somit das gemeinsame evangelische Bekenntnis überzuordnen. Weiter heißt es: „Können wir es uns leisten, im gegenwärtigen Augenblick noch gegeneinander zu stehen, Reformierte und Lutheraner? Wir haben es erlebt: es gibt mancherlei Reformierte und mancherlei Lutheraner; die wahre Scheidung geht quer hindurch.“[27] Und im Vorwort zur Erklärung schreibt er: „Lutheraner und Reformierte können und dürfen heute nicht gegeneinander, sondern sie können und müssen heute evangelisch-lutherisch und evangelisch-reformiert miteinander bekennen.“[28]
Für diese Überzeugung, die wesentliche Einheit des Protestantismus und sein „Einverständnis des Glaubens“[29] in den Vordergrund zu stellen und die alten Konfessionsunterschiede in Lehrfragen zurückzustellen, beruft Barth sich auf die Tradition der reformierten Kirche. Denn in ihr wird weithin die Zielvision von der einen christlichen evangelischen Kirche bzw. Kirche Jesu Christi zum Ausdruck gebracht. Während erst der spätere Calvinismus in einen Gegensatz zum Luthertum getreten ist, vertritt gerade Calvin die Ökumenizität des Christentums und steht darum natürlicherweise Pate bei der Abfassung der Barmer Theologischen Erklärung. Insofern bezeichnet Barth Calvin später auch als den „idealen Unionstheologen“[30].
Diese Überzeugung, angesichts der gemeinsamen Not gemeinsam reden zu müssen und auf jede konfessionelle Selbstbehauptung verzichten zu sollen, spiegelt sich sodann in der Einleitung zur Barmer Theologischen Erklärung vom 31.5.1934 wider: „Gemeinsam dürfen und müssen wir als Glieder lutherischer, reformierter und unierter Kirchen heute in der Sache reden. Gerade weil wir unseren verschiedenen Bekenntnissen treu sein und bleiben wollen, dürfen wir nicht schweigen, da wir glauben, daß uns in einer Zeit gemeinsamer Not und Anfechtung ein gemeinsames Wort in den Mund gelegt ist.“[31] Gewiss ist nach Barth in Glaubensfragen nun das gemeinsame Bekenntnis erforderlich. Doch er insistiert auch darauf, dass einerseits die theologische und kirchenpolitische Verständigung zwischen Lutheranern und Reformierten über die alten Lehrfragen noch aussteht. Und andererseits betont er, dass die konfessionellen Unterschiede nicht eliminiert werden müssen, sondern zu fruchtbaren Gegensätzen werden können.[32] Die 1933 aufgeworfene Frage nach einem gemeinsamen überkonfessionellen Bekenntnis spitzt Barth schließlich am 11.2.1935 im Vortrag „Die Möglichkeit einer Bekenntnis-Union“ noch weiter zu. Er weist darauf hin, dass Gottes Wille allein und nicht eine menschliche Entscheidung – wie in den problematischen Unionen des 19. Jahrhunderts geschehen – die Bildung einer wie auch immer gearteten Union erzwingen kann. Angesichts der Irrlehre der DC ist 1933 eben diese Situation entstanden: Lutheraner und Reformierte haben ungeachtet ihrer alten Bekenntnisunterschiede in einer gemeinsamen Not aus Gehorsam gegen Gottes Willen eine gemeinsame Erkenntnis in einer gemeinsamen theologischen Erklärung zur Sprache gebracht. Im Blick auf Barmen kann darum nach Barth durchaus von einer zumindest partiellen „echten und rechten Bekenntnis-Union“ die Rede sein. Ausdrücklich setzt er sich also zu jener Zeit für eine Bekenntnis-Union im Sinne einer von Gott gewirkten und also gefundenen Einheit ein, nicht jedoch für eine eigenmächtige Union im Sinne einer gesuchten Einheit.[33]
4. Auf dem Weg nach Leuenberg
Bereits 1923 mahnt Barth die Notwendigkeit eines Lehrgesprächs zwischen Reformierten und Lutheranern über das Abendmahl und das Problem der kontingenten Offenbarung an und formuliert: „In der Abendmahlsfrage liegen erste, ja entscheidende Probleme, mit denen wir keineswegs fertig sind, sondern über die ... die Aussprache auf beiden Seiten weitergehen muß. (...) Nicht um die Fortsetzung des Zanks geht es ..., aber um die Fortsetzung des Gesprächs, nicht um die Formeln, sondern um die Sache ...“[34] Auch im Anschluss an die im Kirchenkampf diskutierte Frage nach einer reformiert-lutherischen Bekenntnis-Union finden sich weitere Indizien für Barths Eintreten für eine konfessionsübergreifende Verständigung.
Ganz in diesem Sinne fordert er über zwanzig Jahre später 1947 „gemeinsame Bereinigungen“[35] zwischen Reformierten und Lutheranern: Es gelte, sich in die Diskussion des 16. Jahrhunderts hineinzuversetzen, um alte konfessionelle Fronten in ihrer geschichtlich begrenzten Bedeutung zu verstehen und als überholt zu erweisen. Und im gleichen Jahr stellt er seiner Vorlesung über den Heidelberger Katechismus den Hinweis voran, keineswegs „Öl ins Feuer des in Deutschland nun leider wieder auflebenden Konfessionalismus“ gießen zu wollen.[36] Ein Jahr später mahnt er im Rahmen der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam unter Berufung auf Calvin erneut an, auf jeden reformierten Konfessionalismus zu verzichten. Stattdessen habe man die gemeinsame evangelische Reformation in der Zukunft im Sinne des Leitspruchs „ecclesia reformata est ecclesia semper reformanda“ zu suchen.[37]
Wenige Jahre später wird Barth 1955 in das beginnende interkonfessionelle Gespräch zwischen Reformierten und Lutheranern einbezogen, das schließlich 1973 in die Leuenberger Konkordie einmündet. Ferner wird er von der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen aufgefordert, für die geplante Tagung reformierter und lutherischer Theologen in Davos am 30.7.1955 eine Stellungnahme zur Vorbereitung der Konferenz abzugeben. Auf die Frage nach den Themen, „die heute am dringendsten des gemeinsamen Studiums und Verständnisses der Vertreter beider Konfessionen bedürfen“[38], antwortet er in bezeichnender Weise. Statt konkrete Themen für das Gespräch vorzuschlagen, reflektiert er grundsätzlich über das Gegenüber der Konfessionen und nennt drei Voraussetzungen für das Gespräch.[39]
1) Lutheraner und Reformierte haben sich als zwei gleichberechtigte Richtungen innerhalb der einen evangelischen Kirche zu verstehen.
2) Ein theologisches Gespräch mit dem Ziel einer Einigung über die bestehenden lutherisch-reformierten Gegensätze ist unausweichlich geboten. Zu diesem Zweck ist die Frage zu klären, ob über die Gegensätze im 16. Jahrhundert oder über die gegenwärtig kontroversen Fragen geredet werden soll.
3) Ein lutherisch-reformiertes Gespräch ist offen, gleichberechtigt und in Bindung an die Schrift, nicht jedoch unter Berufung auf die Confessio Augustana oder einen bestimmten Reformator, zu führen.
Zusammenfassend ist festzuhalten: Vor seiner Göttinger Zeit versteht sich Barth eher unbewusst als reformierter Theologe. Dabei ist das gewiss vorhandene latente Interesse an der eigenen Konfession und Kirche überlagert von der Auseinandersetzung mit dem Liberalismus und Neuprotestantismus, mit dem religiösen Sozialismus und mit der Aufgabe der Schriftauslegung. Erst in Göttingen wird er sich insbesondere durch seinen Lehrauftrag und die damit verbundene Anforderung, an der lutherisch geprägten Göttinger Fakultät reformierte Kirchengeschichte und Theologie zu lehren, zunehmend seiner eigenen Konfessionalität bewusst.
Wenn wir nun abschließend fragen, welche Hinweise sich Barths Göttinger Vorlesungen direkt oder indirekt für seine Beurteilung des Spannungsfeldes von Konfessionalismus und Konfessionalität entnehmen lassen, ist mit Michael Weinrich[40] festzustellen: Wie der archaistische, so führt erst recht der konfessionalistische Umgang mit der theologischen Tradition, den Bekenntnissen und der äußeren Daseinsform der Kirche in eine theologische und näherhin ekklesiologische Aporie. Denn ein solches Unternehmen unterläuft das auf Seiten der jeweils anderen Konfession gültig Gesagte, setzt eigenes Reden und Handeln absolut. Es überspielt die theologisch gebotene Erkenntnis, dass jedes Zur-Sprache-Bringen Gottes (Dogmatik und Bekenntnis) und Zur-Gestalt-Bringen von Gottes Willen (Ethik und Kirche) nicht mehr als vorläufige und somit prinzipiell verbesserungsfähige Handlungen von auf Gottes Wort antwortenden Menschen sind.
Gerade Barth erinnert nun unter Bezug auf die von ihm gewonnenen Erkenntnisse über die reformierte Theologie daran, Theologie und Bekenntnis als Glaubenszeugnis, nicht jedoch als Glaubensgegenstand gelten zu lassen. Die irdisch-geschichtlichen Größen Theologie und Bekenntnis sind keine metaphysischen Urteilsinstanzen, an denen sich über alle Zeiten hinweg Wahrheit und Irrlehre unterscheiden lassen. Auch darf die wahre Rede von Gott nicht im Stile eines konfessionalistischen Fundamentalismus exklusiv für die eigene Konfession reklamiert werden. Der Grund liegt auf der Hand: Jeder Konfessionalismus widerspricht schließlich der Erkenntnis, dass das Reden und Handeln der Kirche irdisch-geschichtlich, also zeitbedingt ist. Und jeder Konfessionalismus unterläuft die gemeinreformatorische Grundüberzeugung, dass die Kirche der steten Selbsterneuerung bedarf (ecclesia semper reformanda). Insofern ist dem aporetischen Projekt einer konfessionalistischen Selbstbehauptung das Projekt einer in Wahrheit konfessorischen Kirche entgegenzusetzen. Denn gerade dieses Projekt studiert Barth an den reformierten Reformatoren und Bekenntnissen und arbeitet es in seine Theologie explizit und implizit gleichsam als ihren cantus firmus ein. Eine konfessorische Kirche schätzt das Erbe der eigenen konfessionellen Tradition, ohne es zu überschätzen und ohne es zum Axiom wahren Redens von Gott zu erheben. Eine konfessorische Kirche weiß um des gegenwärtigen Redens und Handelns willen Theologie und Bekenntnis als Auslegung des biblischen Zeugnisses ernst zu nehmen. Eine konfessorische Kirche reflektiert primär im Hören auf das biblische Zeugnis und sekundär im Befragen des eigenen sog. theologischen Erbes den Grund und das Ziel ihres Redens und Handelns. Und eine konfessorische Kirche ist eine in Wahrheit ökumenische Kirche, indem sie auf ihrem Weg als wanderndes Gottesvolk die Welt mit dem Zeugnis ihrer Theologie und ihres Bekenntnisses konfrontiert.
Ist die reformierte Kirche der Gegenwart eine solche konfessorische Kirche? In der KD eröffnet Barth folgende Perspektive: „Die Existenz verschiedener theologischer Schulen und Richtungen innerhalb derselben Kirche involviert also ... die grundsätzliche Bereitschaft, über den je verschiedenen ‚Bekenntnisstand’ als solchen ... hinauszublicken, über das Hören des bisherigen Bekenntnisses nach dessen eigener Anweisung hinauszuhören auf die letztlich allein gesetzgebende Autorität der heiligen Schrift, von der her gesehen es bei keiner Lehrverschiedenheit in der Kirche sein ewiges Bewenden haben kann“ (KD I/2, 933f.). Es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, dass in diesen Grundkoordinaten auch Perspektiven für das ökumenische Gespräch zwischen Protestantismus, Katholizismus und Orthodoxie liegen.
Erstveröffentlichung: Reformierte Kirchenzeitung 138 (1997), 26-33.
[1] Begleitschreiben zur Ernennungsurkunde (16.8.1921), in: K. Barth – R. Bultmann, Briefwechsel 1911–1966, hg. v. B. Jaspert, Zürich 2. Aufl. 1994, 209. Vgl. zum Folgenden M. Freudenberg, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner Göttinger Lehrtätigkeit, Neukirchen-Vluyn 1997.
[2] Die Theologie Calvins, hg. v. H. Scholl, Zürich 1993, 95 und öfter.
[3] Autobiographische Skizze [1927], in: K. Barth – R. Bultmann, Briefwechsel 1911–1966, a.a.O., 298.
[4] Abschied von „Zwischen den Zeiten“, ZZ 11 (1933), 319.
[5] Rundbrief (5.2.1924), in: K. Barth – E. Thurneysen, Briefwechsel, Bd. 2: 1921–1930, hg. v. E. Thurneysen, Zürich 2. Aufl. 1987, 221.
[6] „Unterricht in der christlichen Religion“. Bd. 1: Prolegomena 1924, hg. v. H. Reiffen, Zürich 1985, 3.
[7] Vgl. A.I.C. Heron, Karl Barths Neugestaltung der reformierten Theologie, EvTh 46 (1986), 394 unter Bezug auf Barths Analyse der lutherisch-reformierten Gegensätze in der Christologie (KD I/2, 174–187; II/1, 548–551).
[8] Brechen und Bauen, in: ders., Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze und Briefe von 1930–1960, hg. v. K. Kupisch, Berlin 21964, 115.
[9] Reformierte Lehre, ihr Wesen und ihre Aufgabe, in: Vorträge und kleinere Arbeiten 1922–1925, hg. v. H. Finze, Zürich 1990, 245.
[10] Die Theologie der reformierten Bekenntnisschriften, hg. v. der Karl-Barth-Forschungsstelle an der Universität Göttingen (Leitung: E. Busch), Zürich 1998, 314.
[11] Ebd.
[12] Reformierte Lehre, a.a.O., 245
[13] Die Theologie Calvins, a.a.O., 120. Vgl. das Votum: „Ich bin nie ein Freund der sogen. ‚Union’ des 19. Jahrhunderts gewesen und bin es auch heute nicht.“ (Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis der reformatorischen Bekenntnisse in der DEK der Gegenwart, in: ders., Gottes Wille und unsere Wünsche, TEH 7, München 1934, 6).
[14] Credo (1935), Zürich 1948, 169.
[15] Theologie Calvins, a.a.O., 120.
[16] Vier Predigten, TEH 22, München 1935, 44; vgl. KD III/4, IX.
[17] Die dogmatische Prinzipienlehre bei Wilhelm Herrmann, in: Vorträge, a.a.O., 551.
[18] Protokoll der Sitzung von ZZ am 30.9.1933 in München.
[19] Tatsächlich tritt in die durch den Ausfall von ZZ entstandene Lücke zunächst die Schriftenreihe „Theologische Existenz heute“. Daneben wird im April 1934 die Zeitschrift „Evangelische Theologie“ als Nachfolgeorgan von ZZ begründet.
[20] ZZ 11 (1933), 542.
[21] Ebd.; vgl.: Die Möglichkeit einer Bekenntnis-Union, in: EvTh 2 (1935), 38f.
[22] Die August-Fassung des Betheler Bekenntnisses erarbeiten Bonhoeffer, Merz, Sasse, Stratenwerth und Vischer; Abdruck in: C.-R. Müller, Bekenntnis und Bekennen, München 1989, 82–117. Zur Sache vgl. M. Lichtenfeld, Lutherische Theologie im Bekennen, MEAKZG, Folge 15 (1995), 5–60.
[23] Grundsätzliche Vorbemerkung zum Betheler Bekenntnis (11.10.1933), in: J. Glenthoj (Hg.), Dokumente zur Bonhoeffer-Forschung 1928–1945, Die mündige Welt 5, München 1969, 106f.; vgl. Brief an Thurneysen (16.10.1933), Abdruck in: G. Ruhbach, Das Betheler Bekenntnis, in: W.-D. Hauschild u.a. (Hg.), Die lutherischen Kirchen und die Bekenntnissynode von Barmen, Göttingen 1984, 68.
[24] Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 6f.
[25] Bekenntnis der Freien reformierten Synode Barmen vom 4.1.1934, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. v. G. Plasger/M. Freudenberg, 230–238; vgl. Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 3–8.
[26] Vgl. C. Nicolaisen, Der Weg nach Barmen, Neukirchen 1985, 169. Zurückhaltender formulieren Asmussen und Sasse im „Erlanger Entwurf“ (24.5.1934), dass Lutheraner und Reformierte in der Gegenwart zwar gemeinsam zu sprechen hätten, jedoch eine Union außer jeder Diskussion sei (ebd., 170).
[27] Bekenntnis der freien Kirchensynode, in: Freie reformierte Synode zu Barmen-Gemarke am 3./4.1.1934, hg. v. K. Immer, Barmen 1934, 23f.
[28] Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 6.
[29] Ebd.
[30] Gespräch mit Tübinger Studenten (2.3.1964), in: Texte zur Barmer Theologischen Erklärung, hg. v. M. Rohkämper, Zürich 1984, 224. Ebd.: „Ich wollte ... da nicht calvinische Theologumena hineinbringen. Aber es war einfach faktisch so, daß Calvin im Himmel sich allerdings freuen konnte.“
[31] Ebd., 2.
[32] Vorwort zur Erklärung über das rechte Verständnis, a.a.O., 7.
[33] Möglichkeit einer Bekenntnis-Union, a.a.O., 41.
[34] Reformierte Lehre, a.a.O., 236f.
[35] Brechen und Bauen, a.a.O., 115f.
[36] Die christliche Lehre nach dem Heidelberger Katechismus, Zürich 1948, 16.
[37] Unsere reformierten Kirchen und der Weltrat der Kirchen, TEH NF 15, München 1949, 14; vgl. ebd., 12: „Calvinisches Denken gibt uns eine Spielregel theologischer Kunst, die uns befähigen muß, gerade auf theologischem Feld echte ökumenische Arbeit zu leisten.“
[38] Brief von J.R. Nelson an Barth (1.2.1955), in: Offene Briefe 1945–1968, hg. v. D. Koch, Zürich 1984, 361.
[39] Brief an H.H. Harms (13.6.1955), Offene Briefe, 362–365.
[40] Vgl. zum Folgenden M. Weinrich, Reformiert ja, Konfessionalismus nein!, RKZ 135 (1994), 196–202; Chr. Link, Zum Thema „Reformierte Identität“, RKZ 134 (1993), 344–350.
©Prof. Dr. Matthias Freudenberg, Wuppertal und Schöller